Das Integrationsgesetz ist weitgehend wirkungslos
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In Berlin haben 35 Prozent der Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund. In den Behörden der Hauptstadt spiegelt sich diese Vielfalt kaum wider. Dabei gibt es bereits seit 2010 ein Integrationsgesetz. Jetzt wird es überarbeitet.
Der junge Mann im schwarzen Wintermantel ist beruflich erfolgreich. "Grundsatzreferent bei der Senatsverwaltung für Inneres" steht auf seiner Visitenkarte. Was daran besonders ist, wird erst klar, wenn man auch seinen Namen und sein Äußeres kennt: Orkan Özdemir ist Sohn türkischer Einwanderer – und damit in der Berliner Verwaltung im Jahr 2020 eine Ausnahme.
"Vor allem auch, umso höher man dort aufsteigt, ist es einfach eine Situation, wo man ganz klar selbst merkt, ok ich bin hier absolut die Minderheit."
35 Prozent der Berliner und Berlinerinnen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Bei den unter 16-Jährigen ist es knapp die Hälfte. Im öffentlichen Dienst – bei Standes- oder Gesundheitsämtern, in Rathäusern und Senatsverwaltungen – spiegelt sich diese Vielfalt jedoch kaum wider. Mit Folgen für diejenigen, die sich als Klienten in Ämtern fast immer nur "weißdeutschen" Beamtinnen und Beamten gegenübersehen oder schlicht nicht mitgedacht werden, wenn zum Beispiel Quarantänebescheide in Coronazeiten nur auf Deutsch verschickt werden. Folgen hat das aber auch für Angestellte wie Orkan Özdemir.
"Wenn man in der Minderheit ist, muss man ein dickeres Fell haben. Das heißt nicht, dass die Kollegen einen bewusst minder schätzen, sondern das liegt in der Natur des Menschen, glaube ich, dass man, wenn man als so eine Art Sonderling daher kommt, sich eben auch beweisen muss", sagt Özdemir.
Stammtisch für nichtweiße Verwaltungsmitarbeitende
Diese Erfahrung machte auch Ayten Dogan. Gemeinsam mit anderen hat die kurdischstämmige Berlinerin eine Art Stammtisch gegründet, bei dem sich nichtweiße Verwaltungsmitarbeitende über ihren beruflichen Alltag austauschen.
"Und da muss ich sagen, dass eigentlich alle dieselben Erfahrungen gemacht haben, dieselben Hürden wahrgenommen haben. Dass man das Gefühl hat, dass das, was man leistet, nicht anerkannt wird, nicht gut genug ist." Man bekomme das Gefühl, es habe schon bei der Einstellung Schwierigkeiten gegeben, "dass der Abschluss nicht anerkannt wurde, dass einem vorgeworfen wird, dass man eine Migrantenquote ist oder dass man einfach nur zu Dingen sprechen soll oder darf, die sozusagen migrationsrelevant sind". Obwohl diese gar nicht zum eigenen Arbeitsbereich gehörten, sagt Dogan.
"Also ich persönlich wurde auch oft zur Türkeipolitik gefragt und sollte da beraten, wo ich selbst gar keine Ahnung habe. Oder diese Unterhaltung über Wir, Ihr. Das sind einfach Erfahrungen, die unschön sind, wo man sich nicht angenommen oder angekommen fühlt in der Verwaltung."
Das Problem ist nicht neu. Schon im Jahr 2010 wurde mit dem damals neuen Partizipations- und Integrationsgesetz für Berlin die interkulturelle Öffnung des öffentlichen Dienstes und die Anerkennung interkultureller Kompetenz festgeschrieben. Passiert ist seitdem wenig. Zu wenig, so Katarina Niewiedzial, Integrationsbeauftragte der Stadt Berlin, die aktuell an einer Novellierung des Gesetzes arbeitet. Dabei geht es ihr vor allem um klare Verbindlichkeiten. Es brauche eine klare Zielmarke, wo man in fünf Jahren oder in zehn Jahren stehen wolle. "Ich möchte, dass wir auch alle Institutionen zur Rechenschaft ziehen und auch eine Berichtspflicht einführen." Damit deutlich werde, in welche Richtung sich die einzelnen Häuser bewegen.
Langfristiges Ziel sei es, den Anteils der Beschäftigten mit Migrationshintergrund "entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung" zu erhöhen. Eine gezielte Ansprache in Ausschreibungen und gegebenenfalls Bevorzugungen von Bewerbern mit Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation sollen dabei helfen. Kritiker – darunter zum Beispiel der Deutsche Gewerkschaftsbund – erinnern an das Neutralitätsprinzip und die grundgesetzlich festgeschriebene "Bestenauslese" in der Verwaltung. Eine wie auch immer geartete Quote lehnen sie ab. Allein die Eignung und fachliche Leistung solle bei der Bewerberauswahl entscheiden, nicht Aussehen, Herkunft oder andere "sachfremde" Kriterien.
Kommende Verrentungen erhöhen den Druck
"Aus meiner Sicht widerspricht sich das nicht", sagt Integrationsbeauftragte Niewiedzial. "Wir könnten zusätzliche Kriterien in die Anforderungsprofile auch reinnehmen, wie beispielsweise migrationsspezifische Kompetenz, rassismuskritische Kompetenz, Mehrsprachigkeit." Da gebe es aus ihrer Sicht viele Ideen, die es erlaubten, mit zusätzlichen Kriterien auch Menschen mit Migrationsgeschichte in den öffentlichen Dienst zu aufzunehmen. "Es geht aber nicht darum, die Qualität der Arbeit oder der Bewerberinnen nach unten zu senken. Wir sprechen immer von gleichwertigen Qualifikationen der Bewerberinnen."
Die Diskussionen um die Ausgestaltung der Gesetzesnovelle laufen auf Hochtouren. Geht es nach Niewiedzial, so soll das überarbeitete Gesetz noch in dieser Legislaturperiode – also innerhalb der nächsten Monate – in den Berliner Senat eingebracht werden. Der politische Wille sei da.
Politischer Zugzwang wäre vielleicht das treffendere Wort. Denn bis zu 60 Prozent der Angestellten im Öffentlichen Dienst gehen in den kommenden Jahren in Rente. Berlin braucht dringend neues Personal. Dabei die Potenziale der Migrationsgesellschaft zu verschenken, kann das Land sich nicht mehr länger leisten.