Nur wählen dürfen sie nicht
Viele Ausländer, die seit Jahren in Deutschland leben, dürfen trotzdem nicht wählen. In Frankfurt am Main sind es mehr als die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe. Uns haben einige von ihnen erzählt, bei wem sie - wenn sie dürften - das Kreuzchen machten würden.
Auf dem Bornheimer Markt in Frankfurt am Main wird in diesen Tagen nicht nur Gemüse eingekauft. An den Ständen wird bisweilen auch über die anstehende Bundestagswahl diskutiert. Etwa über den Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan an die Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund, CDU, SPD oder die Grünen nicht zu wählen.
"Jeder hat sein Recht, selbst zu entscheiden. Aber nicht einmischen in einem anderen Land. Deutschland soll sich nicht einmischen in einem anderen Land. Zum Beispiel: die Türkei hat gewählt und Deutschland oder Europa, die haben sich auch eingemischt. Und jetzt will die Türkei Revanche machen oder so. Aber jeder muss entscheiden, was in seiner Heimat passiert oder was gut ist in seiner Heimat."
So wie dieser Mann, der seinen Namen nicht nennen will, denken nicht alle Menschen aus Einwandererfamilien, die in Frankfurt am Main ihre neue Heimat gefunden haben. Das weiß Hilime Arslaner sehr gut. Die 45 Jahre alte Diplom-Volkswirtin mit türkischen Wurzeln lebt schon seit Jahrzehnten in Frankfurt-Bornheim:
"Wieso gehen so viele junge Menschen auf die Straße und parodieren für Erdogan? Wieso ist deren Radar nicht hier in ihrem Lebensmittelpunkt? Aber wenn man das näher untersucht, was passiert hier im Leben der Türkeistämmigen? Herkunftssprachlicher Unterricht, früher wurde es muttersprachlicher Unterricht genannt. Da werden vom türkischen Bildungsministerium Lehrerinnen und Lehrer nach Deutschland entsandt. Das heißt, die werden von der türkischen Regierung bezahlt. Mit den Imamen in den einzelnen Moscheen ist es genau so, die werden auch aus der Türkei entsandt. Die werden aus der Türkei bezahlt. So, wenn man das aber nicht möchte und wenn man den Menschen hier zeigen möchte: Ihr seid ein Teil dieser Gesellschaft, ist zahlt auch Steuern, ihr seid ein Teil dieser Gesellschaft und die sprachliche Bereicherung ist uns wichtig, die kulturelle Bereicherung ist uns wichtig, dann muss es von der deutschen Regierung finanziert werden. Was dann im zweiten Schritt zur Folge hätte, dass man den langen Arm der türkischen Regierung hier abbrechen würde, damit."
"Eigentlich ist Merkel sehr gut"
Jetzt, wenige Tage vor der Bundestagswahl wird aber auch deutlich: Mehr als die Hälfte der erwachsenen Ausländer, die in Frankfurt am Main leben, darf an keiner Wahl teilnehmen. Mit knapp 13 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen die Menschen mit türkischen Wurzeln vor den Kroaten, Italienern und Polen die größte Gruppe der insgesamt rund 370.000 Frankfurter, die laut Definition des Statistischen Bundesamtes einen Migrationshintergrund haben.
Zwar dürfen 48 Prozent der Nicht-Deutschen in der Stadt bei Kommunalwahlen mitwählen oder bei den Europawahlen ihre Stimme abgeben. Doch dass die Bundestagwahl besonders wichtig ist, wissen auch diejenigen, die nicht mitwählen dürfen. Wie Judith Bada aus Kenia, die erst vier Jahre im Rhein-Main-Gebiet lebt und deshalb noch keinen deutschen Pass hat. Sie weiß allerdings genau, wen sie wählen würde, wenn sie dürfte:
Judith Bada: "Merkel"
Reporter: "Warum?"
Judith Bada: "Sie ist sehr nett. Und sie macht alles richtig. Mit den Flüchtlingen, sie hat schon vielen Flüchtlingen geholfen. Weil wir haben schon gesehen, was in anderen Ländern passiert wie Syrien, in Afghanistan, Libyen."
Auch Said Anabani aus dem Irak, der seit anderthalb Jahren hier lebt und gerade eine Bäckerlehre macht, zögert nicht bei der Frage, wen er wählen würde, wenn er könnte.
"Eigentlich ist Merkel sehr gut. Sie hat die Flüchtlinge hergeholt. Sie hat den Menschen geholfen, das finde ich sehr geht."
Doch auch der SPD-Kanzlerkandidat hätte bei Migranten im Rhein-Main-Gebiet, die nicht wählen dürfen, Chancen:
"SPD, Martin Schulz."
Reporter: "Warum?"
Mann: Er gefällt mir einfach persönlich gut.
Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die im Rhein-Main-Gebiet leben, werden wählen können, wenn sie das 18. Lebensjahr erreicht haben. Deswegen sei es wichtig, schon frühzeitig den Schulen über das hiesige Wahlsystem aufzuklären, fordert die Deutsch-Türkin Hilime Arslaner, die für die Grünen im Frankfurter Stadtparlament sitzt:
"Wichtig ist in Frankfurt natürlich: Die Zahlen der Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund beträgt 50 Prozent. Das heißt, jeder zweiter Frankfurter, das können sie auch in Bornheim jetzt gerade so schön sehen, hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Und wenn man in die Schulen geht, gerade bei den Grundschulen, beträgt dieser Anteil 70-80 Prozent."
Jeder dritte Frankfurter Schüler besucht eine Berufsschule. Gerade Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund haben es nicht immer einfach, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Es gibt auch Berufsschulen, an denen etwa islamistische Strömungen einen gewissen Einfluss haben. Da müsse die Stadtgesellschaft frühzeitig aktiv werden, so Hilime Arslaner:
"Deswegen ist meines Erachtens der Bereich der Kinder und der Jugendlichen wichtig – sie direkt in der Schule abzuholen: Was ist Demokratie, was sind demokratische Regeln, wie geht Entscheidungsfindung? Bestimmt einer alleine, der Stärkere oder wie funktioniert das? Wenn wir das in den Schulen schon viel stärker platzieren können, dann bin ich sicher, dass es dann später auch weniger Probleme gibt."
Probleme – zum Beispiel mit Antisemitismus. Frankfurt am Main hatte immer einen starken jüdischen Bevölkerungsanteil. Der Holocaust war der dramatische Einschnitt. Doch seit Jahrzehnten steigt die Zahl der Juden in Frankfurt wieder deutlich an. Jüdisches Leben wird zunehmend wieder Teil des Alltags in der Mainmetropole.
Mirjam Wenzel, Leiterin des großen Jüdischen Museums der Stadt hat sich vorgenommen, auch junge Muslime für die Arbeit des Museums zu interessieren, die aus islamisch geprägten Ländern eingewandert sind, in denen Antisemitismus zum Teil von staatlicher Seite verordnet wurde. Dazu wurde in den letzten Monaten ein spezielles Bildungsprogramm entwickelt, mit dem Museumspädagogen an Frankfurter Berufsschulen gehen. Mirjam Wenzel:
"In diesem Programm 'Anti-Anti-Museum goes School' arbeiten wir mit einem personenzentrierten Ansatz. Das heißt, wir gehen sehr stark von den Erfahrungen der Jugendlichen aus, wir lassen sie erzählen, reflektieren. Arbeiten mit einer Sensibilisierung für Diskriminierung und wir geben ihnen die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, innerhalb des Programms. Bezogen auf das Verhältnis Judentum-Islam bedeutet das, wir machen mit ihnen Geschmacksproben. Wie schmecken koschere Gummibärchen, wie schmecken Halal-Gummibärchen, die schmecken nämlich nicht gleich. Und sprechen dann darüber, warum sind die eigentlich koscher oder halal. Also der Erfahrungsmoment steht im Vordergrund. In der Kombination damit, dass wir über ein halbes Jahr hinweg mit ihnen arbeiten, also das das Programm wirklich nachhaltig angelegt ist weil wir denken, auf diese Weise erreichen wir sie wirklich."
Gemeinsame Treffen mit Rabbinern, Imamen und christlichen Geistlichen werden ebenso organisiert, wie Führungen im Jüdischen Museum selbst- für viele Jugendliche ist das überhaupt der erste Museumsbesuch, den sie erleben. Nicht nur bei muslimischen Jugendlichen in der Multi-Kulti-Stadt am Main muss das Interesse an der jüdischen Geschichte in Deutschland geweckt werden, sondern auch bei jüdischen Neubewohnern oder Gästen in Frankfurt, betont Museumschefin Mirjam Wenzel.
Auf dem Marktplatz in Frankfurt-Bornheim geht unterdessen die Debatte darüber weiter, wie wichtig die Bundestagswahl für die Migranten hierzulande ist. Die nicht-repräsentative Umfrage zeigt nach einer Weile doch einen klaren Trend – für Merkel. Der aus Somalia stammende Yunus Said, der bereits einen deutschen Pass hat spricht aus, was hier viele denken:
"Bundeswahl? Ja, wir sind jetzt in Deutschland, wir haben Rechte auch, ja. Ich möchte auch wieder Frau Merkel haben. Weil in Deutschland gibt es viele Diskussionen wegen der Asylanten, der Ausländer. Wegen der Sprache, wegen des Rechts. Früher wir hatten keines, aber momentan schon. Ja. Deutschland braucht auch Leute. Für die Zukunft, für dieses Land zu arbeiten. Und ich glaube, momentan ich bin mit CDU."
Angela Merkel ist auf dem Markt in Frankfurt-Bornheim immer noch das Gesicht einer humanen Flüchtlingspolitik.
"Merkel. Gute Frau."
"Wenn in einem Land Krieg ist und man fliehen muss, dann will man ja auch irgendwo aufgenommen werden."
"Sie hat der ganzen Welt gut getan."
Hilime Arslaner, die Frankfurter Lokalpolitikerin mit türkischen Wurzeln, hält die Integrationskraft der alten Handelsmetropole am Main für groß. Doch sie will die sozialen Konflikte nicht verschweigen, die sich auch auf der belebten Berger Straße in ihrem Lieblingsstadtteil Bornheim tagtäglich zeigen:
"Ja, wir sehen hier zum Beispiel eine Frau, die um Geld und Nahrungsmittel bettelt. Wir sehen aber auf der anderen Seite auch die Banker und Wohlverdienenden, die am Sekt- und Weinstand dort stehen. Das ist Frankfurt-Kleinformat, sozusagen. Wir finden hier alles. Diejenigen, die gut verdienen, können auch sehr gut bezahlen, was aber in den einzelnen Stadtteilen zu Schwierigkeiten führt, bei den alteingesessenen Mietern, bei Rentnern, bei Geringverdienern. Die sich diesen Lebensunterhalt dann nicht mehr finanzieren können und dann auch wegziehen müssen. Die Spaltung findet da schon statt."
Frankfurt am Main ist eben sehr, sehr teuer geworden – für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Dieses Thema wird bei der nächsten wichtigen Wahl für die Menschen auf dem Bornheimer Markt wohl im Vordergrund stehen – der Frankfurter Oberbürgermeisterwahl im nächsten Jahr. Auch an dieser Abstimmung wird wieder nur jeder zweite erwachsene Ausländer in der Mainmetropole teilnehmen können. Doch eine Meinung zu den Kandidaten werden wohl wieder viel mehr haben – wie diesmal zu Merkel oder Schulz. Der aus Somalia Yunus Said traut übrigens den aktuellen Umfragen nicht so recht:
"Ja, Umfragen sind was anderes. Welche Richtung wird gefragt, welcher Ort wird gefragt, ich glaube, es wird knapp."