Einig Vaterland - auch für Arbeitsmigranten?
Das Beste an der DDR war ihr Ende - auch für Arbeitsmigranten in Ost- und Westberlin? Was änderte sich mit der Wende für die Vertragsarbeiter aus dem Vietnam? Die türkischstämmigen Arbeitnehmer in Westberlin traten jedenfalls plötzlich in Konkurrenz mit Ostdeutschen, die für die Hälfte des Lohnes schufteten.
Tagesthemensprecher: "Guten Abend, meine Damen und Herren! Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen!"
Mauerfall, Tausende DDR-Bürger stürmen die Grenzübergänge. In den folgenden Tagen strömen Millionen Ostdeutsche durch den bisherigen "Eisernen Vorhang". Hoang Ha, damals 25 Jahre alt, wird allerdings von den DDR-Grenzsoldaten zurück geschickt. Denn für den Vietnamesen – und auch für andere Ausländer - gilt nach wie vor ein Ausreiseverbot. Hoang und seine Freunde versuchen dennoch in den Westen zu gelangen. Heimlich.
Hoang: "Wir sind über die Mauer hier gesprungen und nach Westberlin. Und dann am Abend wieder zurück. Immer über die Mauer, Brandenburger Tor. Dort wo die Mauer ist am niedrigsten, da sind wir immer über die Mauer gesprungen. Ganzen Tag in Westberlin - und dann am Abend wieder zurück. War sehr schön, ja."
Hoang Ha hat nach der Wende im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg einen winzigen Gemüseladen eröffnet. Mit Apfelsinen, Bananen und Tomaten in der Straßenauslage – und drinnen - mit gestapelten Bier-Kisten. Früher, zu DDR-Zeiten, arbeitete der Vietnamese für einen Hungerlohn in einer Dresdner Nähmaschinenfabrik. Die sogenannten Vertragsarbeiter wurden außerdem gezwungen, zwölf Prozent ihres Lohnes an den vietnamesischen Staat abzuführen. Deshalb kann sich Hoang Ha auch kaum etwas leisten, als er sich 1989 über die Mauer hangelt nach Westberlin.
"Meistens haben wir nur asiatische Lebensmittel gekauft. In der DDR bekommen wir so was nicht. Meistens kaufen wir Nudeln oder Fischsoße. Wenn wir über die Mauer springen, können wir auch nicht viel tragen. Damals müssen wir immer schwarz umtauschen. Wenn man nach Westberlin, dann braucht man D-Mark und hier gibt's nur Mark, dann muss man schwarz tauschen. Und so viel Geld haben wir nicht, dass wir Jacke oder Hose kaufen. Kann man nur Lebensmittel oder so kaufen."
Vietnamesen gehen in den Westen
Auf der West-Seite der Mauer werden die Vertragsarbeiter von Thúy Nonnemann empfangen. Die Vietnamesin hat bereits in den 60er-Jahren in die Bundesrepublik geheiratet. Nun hilft die damals 51-Jährige ihren Landsleuten aus Ostberlin: Denn viele wollen im Westen bleiben. Die Migranten befürchten, dass ihr DDR-Arbeitsvertrag endet und sie nach Vietnam zurückkehren müssen - in den tristen Sozialismus.
"Ich hab mich sehr gefreut, dass die Mauer gefallen war, weil die können vor so einem Regime fliehen. Die waren für mich Vietnamesen, die waren keine Kommunisten. Die waren auch Opfer einer Diktatur."
Nonnemann arbeitet tagsüber in einer Berliner Bank; in ihrer Freizeit hilft sie ihren Landsleuten beim Ausfüllen von Asylanträgen. Anfangs fremdeln Ost-und West-Vietnamesen etwas. So sprechen die Ostberliner - wie sie es gewohnt sind - Thúy Nonnemann mit "Genossin" an - als wenn sie eine sozialistische Funktionärin wäre. Auch optisch gibt es Unterschiede.
"Also sie haben sich gekleidet wie DDR-Menschen. Also man kann DDR-Bürger ganz lange an ihren Jeanshosen noch erkennen. Aber ich hatte ein unheimlich großes Solidaritätsgefühl ihnen gegenüber."
Hoang Ha denkt gern an das Jahr 1989 zurück. Denn der Mauerfall beendet seinen harten DDR-Alltag. Die Vertragsarbeiter vom Mekong – insgesamt mehrere Zehntausend – haben jahrelang eisern sparen müssen, um ostdeutsche Konsumgüter kaufen zu können, wie Mopeds und Fahrräder. Die begehrten Fahrzeuge wurden auseinander genommen, in Kisten verpackt und in großer Zahl in die Heimat geschickt. Der Migranten-Alltag wurde zusätzlich von vietnamesischen Parteikontrolleuren erschwert. Sie verboten Kontakte zu Ostdeutschen sowie Familiengründungen in der DDR.
"Damals darf man nicht heiraten und darf auch keine Kinder haben. Viele Frauen haben Kinder und müssen nach Hause zurück ja, weil im Vertrag steht, dass man hierher reist zum arbeiten und nicht zum Familie gründen oder so. Meistens sie treiben ab. Und das machen viele: nur abtreiben, abtreiben. Manche drei, vier Mal – ist so einfach."
Als der Eiserne Vorhang fällt, landen viele Vietnamesen in provisorischen Westberliner Auffanglagern. Nonnemann dolmetscht für sie Tag und Nacht.
"Es war so schrecklich, wie sie wohnten. Es war so eine Halle am Funkturm, wo Reihen von Betten waren, zweistöckige, dreistöckige Betten. Es war so ein Warenlager, da können Sie sich vorstellen, wie groß es war. Es war so dreckig, ich fand es so kalt und so unmenschlich. Aber trotzdem habe ich mich so über diesen Mauerfall gefreut."
Migranten setzten Grundlage für den Herbst 1989
Ostberliner Migranten beim Mauerfall: Vertragsarbeiter aus Vietnam – aber auch aus Angola, und Mosambik - die auf Freiheit und Bleiberecht hoffen. Und außerdem: Russen, die sich für die Deutschen freuen.
Tatjana Forner: "Als ich zum ersten mal - ich weiß nicht irgendwann in den 70er-Jahren – war auf dem Fernsehturm, und zum ersten Mal von oben habe ich diese Mauer gesehen, so als weiße Linie – das war das erste Gefühl: Das ist nicht normal. Dass so eine große Stadt durch eine Mauer geteilt ist. Ich war schon sehr froh, dass die Deutschen das überwunden haben."
Tatjana Forner leitet den Migranten-Verein Club Dialog - im Russischen Haus der Kultur und Wissenschaft in Berlin-Mitte. Die Soziologin und Philosophin gehört zu den rund 3500 Sowjetbürgern, die einst dauerhaft in Ostberlin lebten – zumeist in binationalen Ehen. Als die Grenze geöffnet wird, besucht Forner als erstes den Reichstag, der 1945 – symbolträchtig - von der Roten Armee erstürmt worden war. Die Migrantin meidet allerdings die Russen, die in Westberlin leben. Denn unter ihnen sind viele sowjetische Dissidenten.
"Ich denke mir, das war keine große Drang, sich irgendwie kennen zu lernen. Weil wissen Sie, diese Dissidententum kann man auch missbräuchlich bedienen, ja diese Titel. Manche Menschen sind teilweise viel kritischer auch hier gewesen – ja und aktiv hier gewesen."
Forner empfindet die Sowjetkritik ihrer Westberliner Landsleute als künstlich und aufgesetzt. Sie will aber praktische Veränderungen. Bereits im Jahr zuvor, 1988, hat sie den Club Dialog gegründet – als Gorbatschow-freundliche Protest-Gruppe in der reformunwilligen DDR. Die Migranten legen somit ebenfalls eine Grundlage für den Herbst 1989.
"Weil vieles gerade mit Perestroika es wurde quasi nicht angenommen. Aber wir interessierten uns dafür. Das war nicht einfach, Stasi war natürlich auch dabei, oft bei Veranstaltungen, was mir machten. Aber trotzdem wir haben das gewagt, dieses Experiment, und es ist gelungen."
Wie ergeht es den Migranten in den Jahren nach dem Mauerfall? Die Westberliner Vietnamesin Thúy Nonnemann setzt sich weiter für die Vertragsarbeiter ein, die um Asyl bitten. Mit Erfolg kämpft sie für eine Regelung, dass 1993 alle vietnamesischen - aber auch angolanischen und mosambikanischen Vertragsarbeiter - aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbefugnis in der neuen Bundesrepublik erhalten. Aber nur, wenn die Zuwanderer einen Job nachweisen können.
Nonnemann: "Sie haben hier für die Wirtschaft in der DDR gearbeitet und waren ausgebeutet. Sie waren schlecht bezahlt und waren schlecht behandelt. Da fand ich gerecht, dass sie bleiben dürfen, wenn sie sich dazu entschieden haben."
Bis heute arbeitet die Rentnerin in der Berliner Härtefallkommission, die sich für abgelehnte Asylbewerber engagiert.
Auch der Berliner Gemüsehändler Hoang Ha darf in Deutschland bleiben. Doch Zeit zum Freuen bleibt ihm nicht. Denn für Hoang beginnt ein jahrelanger Existenzkampf: Nachdem er seine Fabrikarbeit verliert, jobbt er herum – und macht sich schließlich mit seinem kleinen Laden selbständig. Obwohl er sieben Tage die Woche arbeitet, um seine vierköpfige Familie zu ernähren, reicht das Geld hinten und vorne nicht. Der Vietnamese muss schließlich sein Geschäft aufgeben, er wird arbeitslos. Glücklich hingegen ist die Berliner Russin Tatjana Forner. Die 68-Jährige organisiert derzeit Erinnerungsveranstaltungen an den Mauerfall – für Migranten, aber auch für interessierte Deutsche. Seit dem Mauerfall habe sie eine angenehme Mittlerrolle gefunden, resümiert Forner zufrieden.
Forner: "Diese Mittlerrolle zieht dazu, dass man eigentlich in andere versetzen kann. Ich konnte genauso gut versetzen in Ostberliner und genauso gut in Westberliner. Ja - und das war schon interessant. Also wie sich Nation wieder zusammen findet. Und wie kompliziert das ist. Ja, gerade bei den Deutschen!"
Ostdeutsche arbeiten für die Hälfte des Lohnes
"Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen zu einer ganz besonderen Führung."
Zwei Frauen begrüßen eine Gruppe von etwa 20 Personen zu einer Tour an der Gedenkstätte Berliner Mauer. Hier in der Bernauer Straße steht noch ein Stück der ehemaligen Mauer – erweitert um mehrere Anbauten. Die gesamte Anlage gibt Besuchern einen historischen Überblick über die geteilte Stadt.
Bei dieser geführten Tour soll es in erster Linie nicht um die Ost- oder West-Sicht gehen, sondern vielmehr um diejenigen, die sich im Wiedervereinigungsprozess ausgeklammert gefühlt haben: die Migranten.
Die zwei Tour-Leiterinnen sind Schauspielerinnen. Die Tour ist als eine Performance konzipiert. Die Schauspieler laufen im Publikum mit und werden nach und nach als solche erkannt. Die erzählten Geschichten basieren auf realen Berichten. Regisseurin Chang Naiwen hat für die Theaterinszenierung viele Migranten in Ost und West zu ihrem Leben interviewt. Sogenannte ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik in der DDR genauso wie Gastarbeiter in West-Berlin.
"Meine Eltern sind damals wie alle Türken nach Deutschland eingeladen worden. Sie haben die Drecksarbeit gemacht, die die Deutschen nicht machen wollten. Und es war auch okay. Solange sie Arbeit hatten, waren sie akzeptiert in der deutschen Gesellschaft. Dann fiel aber die Mauer. Und ich kann mich erinnern, wie wir mit meinen Eltern gefeiert haben. Die haben mit uns getanzt, weil die Menschen wieder vereint waren. Bald darauf sagte ihr Chef aber, dass er ihnen die Löhne auf die Hälfte kürzt. Die Hälfte! Er hat gesagt, er würde die Arbeit sonst den Ostdeutschen geben. Er hat meine Eltern einfach nicht mehr gebraucht. Das war der Fall."
Die Darsteller stammen selbst aus Migrantenfamilien. Dadurch wirken die erzählten Geschichten auf die Zuschauer authentischer.
Ortswechsel: Berlin-Neukölln. Aydin Bilge ist 43 Jahre alt und seit Jahren arbeitslos. Seine Geschichte hört sich an wie die aus der Theaterperformance. Bilge hat in West-Berlin in einer Kabelfabrik gearbeitet. Nach der Wiedervereinigung wurde das Werk in Berlin geschlossen und zog nach Nürnberg. Aydin Bilge hatte auf seine feste Arbeit vertraut und eine Eigentumswohnung gekauft.
Aydın Bilge: "Ich hatte eine feste Stelle und die Sicherheit. Und die Sicherheit war so eingeprägt bei den meisten, da waren ältere Menschen, die kamen in den Werk sehr jung, aber mit der Rente haben sie sich verabschiedet. Und so haben wir auch gedacht."
Als das Werk aber geschlossen wurde, stand er vor einer schwierigen Entscheidung: Eine neue Arbeit suchen, oder nach Nürnberg ziehen.
Bilge: "Ich war ja frisch verheiratet. Meine Frau kam aus der Türkei. Und sie hat gesagt, ich bin ja sowieso hier ganz neu. Jetzt nochmal einen Neuanfang zu machen das ist schwierig. Lass uns in Berlin bleiben. Deshalb habe ich das abgelehnt."
Die Bilges blieben in Berlin. Aydins Frau durfte in Deutschland noch nicht arbeiten. Er allein konnte die Raten für die Wohnung nicht bezahlen. Schließlich musste er Privatinsolvenz anmelden. Aber es kam noch schlimmer.
"Es gab Streitigkeiten. Das führt natürlich zur Unruhe. Unruhe führt zur Scheidung. Aber speziell zu der Vereinigung: Es kann keine Trennung geben zwischen Ost und West. Es musste wohl so kommen. Aber es hat uns sehr tief betroffen. Ich habe mich bis jetzt immer noch nicht erholen können."
Mauerfall warf Integrationspolitik zurück
Aydin Bilge hatte den Beruf Kabeljungwerker gelernt. Ob es diesen Beruf heute noch gibt, weiß er nicht. Er hat nie wieder eine feste Anstellung bekommen. Heute ist er bei einer Maßnahme des Jobcenters beschäftigt und versucht nach wie vor, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Seine Frau ist nach der Scheidung in die Türkei zurückgekehrt.
"Die ganze Industrie in Berlin war künstlich ..."
... sagt Safter Çınar, der zum Zeitpunkt des Mauerfalls Leiter der Ausländerberatungsstelle beim Deutschen Gewerkschaftsbund war. Heute ist er Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.
Çınar: "Nur durch die Subventionen haben sich die Unternehmen hier gehalten. Teilweise haben sie in Westdeutschland die Einzelteile hergestellt, dann nach Berlin gebracht und zusammengebaut. Das war ein politisch finanziertes Minusgeschäft. Relativ schnell nach dem Fall der Mauer hat sich viel geändert. Erstmal wurden die Subventionen abgeschafft. Und viele Unternehmen sind in die neuen Länder umgesiedelt."
Safter Çınar erzählt bei einem Podiumsgespräch, wie scharenweise Migranten ihn um Rat gefragt haben, ob sie in die neuen Bundesländer umsiedeln und dort zu Ostlöhnen arbeiten sollten. Auch hätten sie nach den rassistischen Übergriffen auf Asylbewerberheime in Rostock und Hoyerswerda Ängste gehabt. Die meisten hätten schließlich die Arbeitslosigkeit in Kauf genommen und seien im Westen geblieben. Sanem Kleff, damals Lehrerin an einer Hauptschule, heute Leiterin des Projektes "Schule ohne Rassismus", ergänzt: Nachdem die unqualifizierten türkischen Migranten arbeitslos geworden seien, hätten auch ihre Kinder weniger Chancen auf einen Ausbildungsplatz gehabt.
Sanem Kleff: "Weil jeder Arbeitgeber sagte, ach, bevor ich mich hier mit dir abplage, dein Deutsch ist ja nicht perfekt, nehme ich lieber einen aus dem Osten. Und das alles hat dann natürlich auch zu Ressentiments auf der anderen Seite geführt."
Der Fall der Mauer und der Prozess der deutschen Wiedervereinigung hätten aber auch die westdeutsche Integrationspolitik in vielen Punkten um Jahre zurückgeworfen, berichtet Sanem Kleff.
"Doppelte Staatsbürgerschaft, kommunales Wahlrecht, das war ernsthaft, und so ähnlich gab es mehrere Punkte im Bereich der Einwanderungs-, Migrations-, Integrationspolitik, die wirklich in der Debatte sehr weit nach vorne gekommen waren. Alle diese Punkte wurden mit dem Fall der Mauer mindestens um 20 Jahre zurückgeworfen."
Zurück zur Gedenkstätte Berliner Mauer, wo die türkischstämmige Schauspielerin davon erzählt, wie ihre Eltern nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden.
"Sie sehen da drüben das Fenster des Gedenkens. Das Fenster des Gedenkens zeigt die Opfer, die bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen sind."
Eine Mauer aus rostigem Metall wie eine riesige Regalwand. 135 voneinander abgetrennte Nischen, in denen die Fotos der Maueropfer zu sehen sind.
Der "Türkische Garten" von Osman Kalin
Etwa ein Kilometer Luftlinie von hier entfernt Anfang der 80er-Jahre: Der türkische Kreuzberger Osman Kalin entdeckt auf seinen täglichen Spaziergängen entlang der Mauer ein brachliegendes Grundstück. Prima, das wird mein Garten, denkt er sich und fängt im Frühjahr 1982 an, die Erde umzubuddeln. Er legt sich in kürzester Zeit einen Garten an, die Tomatensträucher wachsen und gedeihen. Keiner sagt etwas. Aber mit dem ersten Spatenstich für ein Haus schlüpfen im Sommer zwei uniformierte und bewaffnete DDR-Offiziere durch eine kaum sichtbare Tür durch die Berliner Mauer in den Garten von Onkel Osman, wie er in Kreuzberg genannt wird.
Osman Kalin: "Übersetzung: Einer rechts, einer links, stellten sie sich neben mir auf. Ich hielt sie für Amerikaner. Was ist los? fragte ich. Tod oder weg!, sagte einer und meinte Pass auf, ich komme aus dem Osten. Ach so, sagte ich auf Türkisch, du Eselssohn."
Osman Kalin erzählte uns diese Anekdote vor einigen Jahren. Heute ist 89-Jährige an Alzheimer erkrankt. Aber sein Sohn Mehmet erinnert sich noch gut an diese Geschichte.
Mehmet Kalin: "Offizier hatte schockiert ein bisschen "Was, hast du mir Eselkind gesagt? – Ja! - Ok, Opa, du bist auch ein Eselkind. Das gehört dir, immer und ewig." Dann sind sie gut befreundet. Da habe ich, als mein Vater erzählt hat, nicht geglaubt, ne!"
Aber nur bis Weihnachten nicht. Als dann ein Paket mit einer Flasche Wein und Keksen aus der DDR kommt, glaubt Mehmet seinem Vater. Jahre später bekommt Osman Kalin von seinem Freund, dem DDR-Offizier, ein Schreiben, dass er seinen Garten beackern darf. Denn: Die Mauer war hier nicht exakt auf der Grenzlinie gebaut. Onkel Osmans Garten lag im Westteil, gehörte aber der DDR. Die West-Behörden konnten nichts gegen den illegalen Gartenbau unternehmen. Nachdem der Garten angelegt war, sammelte Onkel Osman alte Holzbretter und anderes weg geworfenes Material und baute ein Baumhaus. Es ist aus altem Bauschutt zusammengezimmert und sieht aus, als könnte es jeden Augenblick auseinander fallen. Aus der vorderen Mauer wächst ein großer Kastanienbaum heraus. Die vordere Fassade ist mit Graffiti überzogen und soll an die alten Tage erinnern, sagt Mehmet Kalin.
Mehmet Kalin: "Viele fragen, Ah, ist det die Berliner Mauer, Berliner Mauer?"
Mehmet Kalin verdankt den Garten und das Haus zwar der Berliner Mauer, aber nein, er wünscht sie sich nicht zurück. Und er will das Baumhaus auch nicht abreißen oder verändern. Er will es so erhalten, wie sein Vater es gebaut hat, verspricht er. Zurzeit versucht er, nach über 30-jährigem Gewohnheitsrecht die Besitzurkunde des Grundstücks zu bekommen. Der alte Osman Kalin bekommt davon nichts mehr mit. Aber sein Name hat bereits Einzug in Reiseführer erhalten. Und in Kreuzberger Bezirksplänen ist sein Grundstück offiziell dokumentiert als "Türkischer Garten Osman Kalin".