Für Integration braucht man Geduld
Wie die Flüchtlinge heute wurden auch die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mit offenen Armen in Deutschland empfangen. Integration war und ist dennoch möglich, sagt der Forscher Jochen Oltmer. Sie dauert allerdings 30 bis 40 Jahre.
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer hat dafür geworben, bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland in größeren Zeiträumen zu denken. Im Deutschlandradio Kultur sagte er, die Angst mancher Deutschen vor Konkurrenz und Überfremdung werde sich langsam auflösen, Stück für Stück werde es immer mehr Integration geben. Man müsse allerdings mit 30 bis 40 Jahren rechnen, betonte Oltmer. Auch die Integration der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg habe so lange gedauert. Die angeblich schnelle Integration dieser sei ein Mythos. Nach Oltmer lässt sich mit einem Blick auf die Geschichte der deutschen Vertriebenen feststellen, welche Faktoren heute noch wichtig für die Integration von Flüchtlingen sind. Auch damals sei auf die Vertriebenen in Deutschland nicht gewartet worden, sagte er. Der wirtschaftliche Wiederaufstieg Deutschlands sei dann aber deswegen geglückt, weil es so viele hochqualifizierte und motivierte Arbeitskräfte gegeben habe. Die Vertriebenen, die alles verloren hatten, mussten ihre Kompetenz und Arbeitskraft einsetzen, um den Wiederaufstieg zu schaffen. Auch die Flüchtlinge, die heute nach Deutschland kämen, seien "relativ gut qualifiziert" und "hoch motiviert", betonte der Migrationsforscher. Hier könne man ansetzen. Zudem brauche die Wirtschaft in Zukunft dringend Arbeitskräfte. Dies könne man historisch durchaus mit der Situation in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren vergleichen.
Das Gespräch im Wortlaut:
Nana Brink: Über zwölf Millionen Deutsche haben nach 1945 ihre Heimat verloren, aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen oder Siebenbürgen. Ihre Vertreibung war die Konsequenz einer barbarischen deutschen Besatzungsherrschaft.
Über zwölf Millionen also machten sich auf den Weg nach Westen zu den anderen Deutschen, und ihre Vertreibung gehört zu einer großen, nicht nur europäischen Erzählung von Zwangsmigration, die nach dem Ersten Weltkrieg begann und nach 1945 ihren Höhepunkt hatte.
Aber auch 70 Jahre nach Kriegsende ist die Geschichte nicht zu Ende erzählt. Abertausende Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Libyen oder Somalia versuchen ja, dem Elend in ihren Heimatländern zu entfliehen.
Das Thema Flucht und Vertreibung ist also hoch aktuell und wir versuchen jetzt einen Vergleich, und zwar mit Jochen Oltmer, Professor für Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung der Uni Osnabrück. Und er sitzt auch noch im bundesweiten Rat für Migration, guten Morgen, Herr Oltmer!
Jochen Oltmer: Guten Morgen!
Brink: Millionen von Vertriebenen suchten nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht in den vier Besatzungszonen. Man kann ja nicht sagen, dass man auf sie gewartet hätte ...
Deutschland ist zerstört, und zwölf Millionen Vertriebene kommen
Oltmer: Nein, wahrlich nicht. Also, von warten kann nicht die Rede sein. Wir haben es ja mit einer Situation zu tun, in der – ich glaube, man kann es so pauschal formulieren – Deutschland, große Teile Europas zerstört sind, wir haben es mit einer Situation des Mangels zu tun, Mangel an Wohnraum, Mangel an Nahrung, Mangel an Arbeitsmöglichkeiten. Und in dieser Konstellation kommen eben, so sagen die Volkszählungen 1950, zwölfeinhalb Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in die vier Besatzungszonen Deutschlands.
Und das, was man ausmachen kann, ist zunächst einmal Unkenntnis im Westen beziehungsweise in der sowjetischen Besatzungszone, weil kaum jemand weiß, dass dann plötzlich solche Massen sich auf den Weg machen, die Kommunikationskanäle sind kaputt. Und das, was als Nächstes folgt, sind tatsächlich eben Skepsis, Inakzeptanz, große Verteilungskämpfe vor dem Hintergrund eben des schon geschilderten Mangels. Und von daher kann man nicht davon reden, irgendjemand habe auf irgendjemanden gewartet.
Brink: Ich kann mich noch gut erinnern, meine Großmutter zum Beispiel erzählte mir von den sogenannten Nissenhäusern. Das war also ein abfälliger Begriff über die Behausungen, in denen diese Menschen wohnen mussten. Warum war die Solidarität mit den eigenen Landsleuten nicht größer?
Oltmer: Weil es tatsächlich eine Situation gab, in der der allergrößte Teil der Bevölkerung tatsächlich eben ums Überleben kämpfte, um den Versuch, tagtäglich Nahrung zu bekommen, es wirklich um Wohnungen ging, vier Millionen Wohnungen waren zerstört nach dem Krieg.
Und weil einfach schlichtweg auch viele Feindbilder sich mit diesen Flüchtlingen und Vertriebenen verbanden: Sie kamen aus dem Osten und es hat ja nun jahrelang NS-Propaganda gegeben mit dem Hinweis darauf, alles, was aus dem Osten kommt, ist schlecht, ist schwierig, ist dann auch tatsächlich eben als großes Problem zu verstehen.
Und wie gesagt, mit denen, die da kommen, gibt es keine Solidarität, keine Vorstellung in irgendeiner Weise auch der Zugehörigkeit. Das ist ein Punkt, der sich dann erst langsam entwickelt, vor allen Dingen in der Situation, in der es zunehmend wirtschaftlich besser geht, also ab 1950 etwa.
Brink: Kann man dann, wenn Sie das jetzt beschrieben haben, diese historischen Tatsachen von vor 70 Jahren, kann man da Parallelen ziehen zu der Situation von Flüchtlingen aus Afrika oder Syrien, die jetzt zu uns kommen wollen? Oder ist das aus der Sicht eines Historikers eigentlich vermessen?
Ohne die Arbeitskraft der Vertriebenen kein Wirtschaftswunder in Deutschland
Oltmer: Also, zunächst einmal, die historische Konstellation ist eine ganz andere. Ich meine, wir brauchen jetzt über Zerstörung, über Verteilungskämpfe in dieser Form nicht zu reden, das ist heute grundsätzlich anders.
Ich denke, interessant wird es da, wo man tatsächlich danach fragt, was sind denn Faktoren, die am Ende einen Beitrag leisten dafür, dass eben die Akzeptanz wächst, dass die Akzeptanz zunimmt und zunehmend stärker eben auch ein Gefühl aufkommt, okay, das sind Menschen, die da gekommen sind, die haben gute Gründe dafür, dass sie gekommen sind, und wir können sie akzeptieren und wir können sie aufnehmen.
Wie gesagt, ich hatte eben schon von dem sogenannten Wirtschaftswunder, von dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg insbesondere der Bundesrepublik gesprochen, und dieser wirtschaftliche Wiederaufstieg funktioniert eben vor allen Dingen deshalb gut, weil die Flüchtlinge und Vertriebenen da sind, weil es ein riesiges Potenzial, Millionen von Menschen gibt, die qualifiziert sind, die hoch qualifiziert sind und die insbesondere auch hoch motiviert sind.
Sie haben zum allergrößten Teil mehr oder minder alles verloren und müssen, wenn sie sich dann neu etablieren wollen, eben tatsächlich ihr Wissen, ihre Kompetenzen, ihre Arbeitskraft einsetzen, um diesen Wiederaufstieg wieder zu schaffen. Und ich denke, da kann man möglicherweise auch ansetzen. Wir sehen ja, dass erstens bei den Flüchtlingen, die heute unterwegs sind, es zu einem guten Teil tatsächlich auch um Menschen geht, die relativ gut qualifiziert sind, und wir sehen auch, dass sie hoch motiviert sind, weil sie sich eben tatsächlich mit der Situation konfrontiert sehen, alles wieder aufbauen zu müssen ...
Brink: Und wir brauchen sie ja auch! Wir haben ja letztlich wieder nach den letzten Studien festgestellt, wir brauchen dringend Zuwanderung!
Oltmer: Ja, natürlich, klar. Das ist, wie gesagt, da kann man auch durchaus mit der Situation der 50er-, 60er-Jahre vergleichen, wo auch Arbeitskräfte in hohem Maße gebraucht werden und eben, wie gesagt, besonders qualifizierte und hoch motivierte Arbeitskräfte dringend gebraucht werden.
Brink: Aber es geht ja doch auch dann immer, wenn wir da einhaken, um die Angst der Alteingesessenen, die Angst vor Überfremdung.
Oltmer: Ja.
Brink: Das ist doch damals wie heute ein Phänomen!
Die Angst vor Konkurrenz und Überfremdung löst sich über Jahrzehnte auf
Oltmer: Genau. Aber das ist eine Situation, die über viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinweg sich dann langsam auflöst.
Das ist keine Situation, die sozusagen auf einem bestimmten Level verharrt, sondern es kommt dazu, dass wirklich langsam, Stück für Stück eben das läuft, was man Integration nennen kann, Integration so, dass beide Seiten zunehmend stärker aufeinander zugehen. Dass tatsächlich für diejenigen, die kommen, immer mehr Teilhabemöglichkeiten bestehen, am Arbeitsmarkt, am Wohnungsmarkt, im Blick auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln, im Blick auf politische Rechte und so weiter und so fort. Und so kommt es zu einer langsamen Annäherung. Da kann man eben mit dem Faktor Zeit und mit dem Ablauf von Zeit ganz gut auch argumentieren.
Brink: Auch mit dem Rückblick auf von vor 70 Jahren?
Oltmer: Ja, auf jeden Fall. Diese verschiedenen Elemente, die man dabei in den Blick nehmen muss, also Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt und so weiter und so fort, das sind alles Dinge, die nicht sofort da sind. Es hat mal den Mythos der schnellen Integration gegeben, in den 1950er-, 1960er-Jahren schien sich zunehmend stärker die Ansicht zu verbreiten, das sei doch alles verdammt schnell gegangen. Aber im Nachhinein kann man sagen, es hat eben sehr, sehr lange gedauert. Man muss mit 30, 40 Jahren tatsächlich in diesem Kontext dann auch rechnen.
Brink: Der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Danke für das Gespräch und Ihre Einschätzungen!
Oltmer: Dankeschön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.