Die Gestrandeten von Tijuana
In Tijuana endet für viele Flüchtlinge aus Mittel- und Südamerika die Reise auf ihrem Weg nach Norden - zumindest vorläufig. Denn sie geben die Hoffnung nicht auf und warten auf ihre nächste Chance.
"Paso del Norte" - der Weg nach Norden singen die drei Musiker am Strand von Tijuana. Die Sonne flimmert, der Pazifik ist ruhig - aber tief hinein ragt der Sperrzaun. Eisenstangen vielleicht fünf Meter hoch.
Die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Der Strand von Tijuana ist der nordwestlichste Punkt Mexikos und auch Lateinamerikas. Danach kommt nur noch der Pazifik - oder das gelobte Land: die Vereinigten Staaten. Der Sehnsuchtsort für Millionen Mexikaner oder Mittelamerikaner, die tausende Kilometer zurückgelegt haben, um nach Tijuana zu kommen. Zäune, Mauern, Kameras - die letzte Hürde, die entscheidende.
Vom Traum zum Alptraum
In Sichtweite steht ein Haus. Das "Casa de Migrantes". Wer Glück hat, bekommt hier eins der 50 Betten. Die Salesianer gewähren Unterkunft, ein katholischer Orden. Das Haus steht direkt vor dem verschlossenen und gesicherten Tor zu einem vermeintlich besseren Leben. Legaler Grenzübertritt nur mit Visum oder Arbeitserlaubnis - für mittellose Mexikaner oder Zentralamerikaner sind die aber kaum zu bekommen. Padre Ernesto, der Leiter des Casa de Migrantes, hat hier schon tausende Schicksale erfahren:
"Eigentlich gibt es den amerikanischen Traum gar nicht mehr. Er ist mit den Jahren zu einer Illusion geworden, manchmal auch zu einem Alptraum. Viele sind hier, weil sie das Gefühl haben, den USA ganz nah zu sein - vielleicht auch ihren Familienangehörigen dort. Ein trügerisches Gefühl: Zwar sind es nur einige Kilometer, aber durch die Mauer sind sie fast unüberwindbar. Viele erkennen das nicht oder sie glauben, dass der Sprung über die Grenze ihre einzige Chance ist."
Das Casa de Migrantes: Oben ein Schlafsaal mit Doppelstockbetten, fünf Klos, fünf Duschen - im Erdgeschoss die Küche und der Frühstücksraum. Die Bewohner hier -eine zufällige Gemeinschaft sich fremder Menschen, die ein Schicksal teilen: Sie warten auf ihre Chance, um nach Norden zu kommen - gleich am Zaun.
Wenn es so etwas wie die typischen Bewohner des Hauses gibt, dann sind es vielleicht Raúl und Helbert. Beide Mitte 20, ein etwas misstrauischer Blick - man weiß nie. Beide haben in den USA gelebt und wurden von dort abgeschoben:
"Ich kam in eine Routinekontrolle. Sie nahmen meine Fingerabdrücke und merkten, dass ich keine gültigen Papiere hatte, um in den USA zu leben. Nach 30 Tagen haben sie mich dann abgeschoben."
"Ich habe zwölf Jahre in den USA gelebt und nie einen einzigen Strafzettel bekommen. Aber dann haben sie bei mir zuhause Drogen von einem Bekannten gefunden. Ich konnte zwar nachweisen, dass ich damit nichts zu tun habe, aber sie haben mich trotzdem abgeschoben."
"Meine Frau und meine Tochter sind in den USA geboren. Wir können jetzt nur miteinander telefonieren, manchmal besuchen sie mich auch am Wochenende, aber dann muss meine Frau wieder in die Arbeit zurück."
Auf der Suche nach einem besseren Leben
Freddy Romero kommt aus El Salvador. Er ist 40, kräftig, um den Hals trägt er eine Kette mit einem Kreuz. In seiner armen, mittelamerikanischen Heimat hat Freddy als Tagelöhner auf dem Land gearbeitet, ansonsten selbst geschlagenes Holz verkauft. Vor zwei Jahren hat er sich auf den Weg gemacht - Richtung Norden. Eine Odyssee. Erst hat sich Freddy durchgeschlagen bis zur Grenze zwischen Mexiko und Guatemala. Dann ist er auf den Güterzug aufgesprungen - La Bestia. Die Bestie, wie er von vielen genannt wird. Hunderte sitzen oft auf dem Dach oder halten sich an den Waggons fest. Jeder kennt den Zug, sagt Freddy. Auch die Banden des organisierten Verbrechens, die große Teile der Strecke kontrollieren, um die Migranten auszunehmen:
"Kurz vor Coatzacoalcos wurden wir von schwerbewaffneten Zetas gestoppt. Sie wollten von jedem 300 US-Dollar für die Weiterfahrt und sagten, wer nicht zahlt, den bringen wir um. Ich habe mich in eine Kirche geflüchtet und der Priester dort gab mir Geld für den Bus. Ich hatte Angst und wollte nicht mehr auf die Bestie. Wenn ich nur darüber rede, kommt sofort diese Angst vor den Männern mit ihren Waffen zurück. Hier in Mexiko gibt es viele gefährliche Banden."
Freddys Angst kommt nicht von ungefähr. Für Banden wie die rücksichtslosen Zetas sind die Migranten aus Mittelamerika leichte Opfer. Mit allem, was sie haben, sind sie meist unterwegs. Anonym und schutzlos. Vor der mexikanischen Polizei müssen sie sich in Acht nehmen - Hilfe ist von ihr kaum zu erwarten. So brauchen die Gangs des organisierten Verbrechens die Migranten nur abzufangen. Manche sollen Schutzgelder zahlen, andere werden gezwungen, Drogen über die Grenze zu schmuggeln - wer sich weigert, riskiert sein Leben. Ungezählte Migranten verschwinden einfach auf dem Weg Richtung Norden. Manche spurlos, andere enden in Massengräbern, die irgendwann entdeckt werden. Freddy hat es an die Grenze geschafft. In dem Casa gleich hinterm Zaun lebt er nun seit gut drei Monaten:
"Ich bin besorgt, ausgelaugt und leer, habe nichts erreicht, besitze kein einziges Dokument, um zumindest in Mexiko Arbeit zu finden. Gott sei Dank habe ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen. Es geht mir nicht darum, reich zu werden. Aber ich wollte ein besseres Leben. Hätte ich in meiner Heimat ein Haus und ein bisschen Land gehabt, wäre ich nie weggegangen."
"Man kann die Leute nicht stoppen"
Drinnen wird das Frühstück ausgeteilt. Manchmal eine Suppe mit Brot, manchmal Enchiladas mit Bohnen. Dazu Kaffee und Saft. Ein kurzes Gebet am Sechser-Tisch, dann bleiben vielleicht 15 Minuten - draußen warten die Nächsten. Victoria Rosas kommt drei Mal die Woche als freiwillige Helferin aus San Diego herüber. Seit gut 30 Jahren lebt sie ganz legal in den USA, hat ein kleines Business und einen großen Wagen, mit dem sie Brot und anderen Lebensmittel rüberbringt, deren Haltbarkeit abgelaufen ist. Freier Grenzverkehr für sie - im Gegensatz zu denen, die zum Frühstück ins Haus kommen:
"Je höher sie den Grenzzaun bauen, desto mehr werden dort ihr Leben lassen. Aber man kann die Leute nicht stoppen. Sie sind so verzweifelt - wenn es hier nicht mehr geht, dann versuchen sie es in einem Boot. Ich finde es verlogen, dass alle immer nur auf die Mexikaner schauen. Viele Europäer kommen als Touristen in die USA geflogen und bleiben dann einfach da. Diesen Fällen wird kaum nachgegangen. Aber den mexikanischen Migranten schreibt man alles Negative zu."
Victoria teilt heute Morgen Kaffeebons aus. Im Gegensatz zu vielen in der Frühstücksschlange wirken auch die Bewohner des Casas fast schon privilegiert. Auch sie können geben und nicht nur nehmen, sind sauber gekleidet, haben ein Bett, bekommen zwei Mahlzeiten am Tag. Es ist ein Deal: Arbeit gegen Unterkunft. Frühstück machen für die täglich eintausend Besucher. Klare Regeln herrschen im Haus. Geordneter Tagesablauf. Rausgehen nur mit Erlaubnis. Kein Alkohol, keine Drogen.
Für Hugo vielleicht die letzte Chance. Der junge, dürre Mann ist am ganzen Körper tätowiert. Hugo hat ein Drogenproblem und wirkt manchmal nicht ganz bei sich. Aus Mexikos Hauptstadt hat es ihn wohl hierher verschlagen. Aber so genau weiß das keiner. Hugo liegt unten in einem der Etagenbetten. Eines Morgens ist er verschwunden. Als er irgendwann gegen Mittag wieder auftaucht, ist klar: Hugo wurde fast umgebracht. Am Hals dunkle Drosselmahle, das Gesicht blutig und geschwollen. Er braucht ein paar Tage, um wieder sprechen zu können:
"Ich wollte mir gegen halb sieben einen Kaffee kaufen, da hielt mich eine Polizeistreife an und fragte mich nach Drogen. Einer von ihnen schlug mir mit der Faust auf den Kopf, legte mir Handschellen an, zerrte mich in den Polizeiwagen. Während der Fahrt lag ich auf dem Bauch, er trat mir immer wieder ins Gesicht und in den Rücken und sagte: Verschwinde aus unserer Gegend oder wir lassen dich verschwinden. Dann legte er mir ein Seil um den Hals, zerrte mich in eine Schlucht. Ich musste mich hinknien, mein Hemd über das Gesicht ziehen und ich dachte, jetzt erschießt er mich. Aber er schlug weiter auf mich ein. In der Nähe des Grenzzauns ließen sie mich dann gehen und sagten einfach nur: Verpiss dich."
Eingesperrt, ausgeraubt, erpresst
Der Padre erstattet sofort Anzeige. Er kennt das schon. Tijuana ist zwar der Ort der wartenden Migranten. Aber viele in der Stadt sehen das nicht gerne. Vor allem die Behörden und die Polizei. Die Patrouillen halten in der Innenstadt ständig Leute an, die aussehen, als ob sie hier nicht hingehören. Hände an die Wand, abtasten, ausfragen - oft wohl auch mehr. Padre Ernesto Tage später:
"Auf unsere Anzeige haben wir bis jetzt keine Antwort bekommen. Wir gehen davon aus, dass korrupte Polizisten ihre korrupten Kollegen decken. Hier in Tijuana gibt es Polizeibeamte, die versuchen, die Not und Verzweiflung der Migranten auszunützen. Von diesen Beamten geht die größte Gefahr aus. Für sie ist jeder verdächtig, der einen Rucksack oder eine Decke auf dem Rücken hat. Und wenn er ein Migrant ist, wird er eingesperrt, ausgeraubt, erpresst oder manchmal sogar gezwungen, eine Straftat zu begehen."
Es ist Abend. Aufregung im Casa. Für die Nacht ist Bodennebel angekündigt. Die Chance zum Grenzübertritt. Raúl und Helbert wollen nicht länger warten, sondern ihr Glück versuchen. Der Padre weiß, dass er sie nicht abhalten kann:
"Das wichtigste was Ihr habt, ist Euer Leben. Ihr müsst wissen, wie weit ihr gehen könnt. Habt Ihr was Warmes zum anziehen dabei?"
Ja, sagt Helbert. Ein kurzes Gebet vor einem Bild der Heiligen Jungfrau von Guadelupe. Nur ein Rucksack auf den Schultern, etwas Wasser.
Warten auf die nächste Chance
Im Linienbus geht es dann durch die Dunkelheit entlang der hell erleuchteten Grenze zu einem sandigen Hügel mit vielen Gräben, in denen man sich gut verstecken kann. In zehn, fünfzehn Kilometern Entfernung sehen Helbert und Raúl die Lichter von San Diego.
"Wenn der Nebel kommt, haben wir einen Vorteil. Die US-Grenzer in den Hubschraubern können uns dann nicht mit ihren Nachtsichtgeräten erkennen. Jetzt gerade kommt ein Helikopter, wenn sie uns sehen, wissen sie, wo wir sind. Besser wir halten uns in Deckung."
Auf dem Hügel warten Dutzende in dieser Nacht auf ihre Chance. Eine Stimmung wie zwischen Schnitzeljagd und Fronteinsatz. Es geht um viel: Sich in die Zukunft schleichen oder im Abschiebegefängnis enden. Die Grenze ist gut gesichert. Bewegungsmelder, Patrouillen - manchmal auch mit Hundestaffeln. Genau hier am Berg gibt es aber ein paar hundert Meter ohne Zaun. Vielleicht ein Trick der US-Grenzer, um die Migranten gerade hierherzulocken. Abgefangen werden sie dann im kilometerbreiten Niemandsland gleich hinter der Grenze. Nur wer bis zur Stadt kommt und dort vielleicht von Bekannten mit Auto erwartet wird, hat es geschafft.
Am nächsten Morgen im Casa de Migrantes. Raúl und Helbert tauchen wieder auf - mit ihren Rucksäcken. Sie haben es nicht geschafft. Raúl schaut enttäuscht:
"Es ist einfach kein Nebel gekommen. Und die ganze Zeit waren da Patrouillen und Hubschrauber. Es war schlicht zu gefährlich, obwohl wir bis acht Uhr morgens dort waren. Aber wir werden wieder an die Grenze gehen und versuchen rüberzukommen, wenn es sicherer ist."
Auch Raúl und Helbert ist klar: Was sie machen, ist eigentlich illegal. Zumindest nach US-Gesetzen. Doch vieles in Tijuana ist auf den heimlichen Grenzübertritt ausgerichtet. Und so kann man auch dem Casa de Migrantes vorhalten, dass es zumindest Beihilfe leistet zum Rechtsbruch. Aber Padre Ernesto betont, dass er an Gott glaubt und sich den Menschen verpflichtet fühlt - nicht den US-Einwanderungsgesetzen:
"Wir geben den Migranten Essen, Orientierung und Unterstützung - aber wir stiften sie nicht dazu an rüberzugehen. Es geht hier nicht um Legalität oder Illegalität. Wir können dieses Übel nicht mit ansehen, ohne etwas dagegen zu machen. Man sollte darüber nachdenken, in wie weit diese restriktiven Gesetze angemessen sind. Oder ob wir eine tiefgreifende Reform brauchen, die von reellen Bedürfnissen ausgeht."
"Ich finde es eine Schande, was die US-Regierung macht. Das Land an sich ist gut, um dort Geld zu verdienen. Aber heutzutage gilt es als Verbrechen, ohne Erlaubnis den US-Boden zu betreten. Als hätte man sonst was ausgefressen. Das ist nicht korrekt. Denn der amerikanische Traum heißt für die meisten Leute doch nur, dass sie dort arbeiten wollen."