Migration

"Die suchen einen Job"

Moderation: André Hatting |
In einem offenen Brief kritisieren Roma-Vertreter die deutsche "Sozialtourismus"-Debatte. Der Soziologe Sebastian Kurtenbach hat ihn übermittelt. Er sagt, den meisten der Einwanderer gehe es nicht um Sozialhilfe.
André Hatting: Seit Anfang des Jahres dürfen auch Bulgaren und Rumänen überall in der EU arbeiten und haben damit auch Anspruch auf Sozialleistungen. In Deutschland geht die Angst um vor "Sozialtourismus". Roma und Sinti würden in Scharen ihre Heimat verlassen, um im reichen Deutschland durch Tricks an Staatsleistungen zu kommen, die sie dann wieder an ihre Familien zurückschicken. "Wer betrügt, der fliegt" – markige Worte der CSU, gedacht als Abschreckung für Migranten und Beruhigung der Wähler. Als Versachlichung dieser Diskussion eher weniger tauglich. Dazu möchten Roma aus Bulgarien jetzt beitragen.
Zum Internationalen Roma-Tag haben Bewohner der größten Roma-Siedlung im Südosten Europas einen offenen Brief an die deutsche Politik veröffentlicht − und Kurier dieses Briefes ist Sebastian Kurtenbach, Stadtsoziologe an der Ruhr-Universität Bochum. Guten Morgen, Herr Kurtenbach!
Sebastian Kurtenbach: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Die Roma beklagen in diesem Brief, dass bei der Diskussion in Deutschland der – Zitat – Blick auf die Realität auf der Strecke bleibt. Was meinen Sie damit?
Kurtenbach: Ich habe mit den Kollegen von der Roma-Selbsthilfe in Stolipinovo gesprochen und denen von der Diskussion in Deutschland auch relativ kurz berichtet. Und sie waren ein wenig verblüfft, dass man ihnen unterstellt, dass einige – auch nicht alle –, dass einige von ihnen aufgrund von Sozialleistungen nach Deutschland kommen würden. Dem ist schlichtweg nicht so, auch wenn Sie in der Dortmunder Nordstadt beispielsweise oder in Duisburg-Hochfeld mit den Menschen sprechen, dann kommt immer, dass sie arbeiten wollen, die fragen nach Arbeit, die fragen nicht nach einem Formular, wo man Sozialhilfe beantragen könnte, sondern die suchen einen Job.
Hatting: Die Roma zeigen in dem Brief auch Verständnis für die Debatte in Deutschland und sagen dazu, die Probleme müssten aber vor Ort, also zum Beispiel hier jetzt in Bulgarien gelöst werden. Was sind denn konkret die Probleme vor Ort, was war Ihr Eindruck?
Kurtenbach: Ich war an drei aufeinander folgenden Tagen in Stolipinovo zur Vorbereitung einer Feldforschung, die im Sommer dort stattfinden wird. Mein Eindruck ist, dass wir es dort noch mit einer sehr viel schärferen Situation der Armut zu tun haben, als wir das in Mitteleuropa gewohnt sind. Stolipinovo in der zweitgrößten Stadt Bulgariens hat ungefähr 50.000 Einwohner, dieser Stadtteil Stolipinovo, auf anderthalb Quadratkilometer, also sehr dicht, und eine Arbeitslosigkeit nach Aussagen der Roma-Selbstorganisation von über 90 Prozent. Armut in Bulgarien unter diesen Bedingungen, ohne die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die wir in Nord- und Mitteleuropa kennen, zum Teil auch in Südeuropa kennen, hat schlichtweg eine andere Dimension, und dann in der Dichte. Das fängt an mit Problemen der verfügbaren Waren, die es im Stadtteil gibt, und man hat auch nicht das Geld, woanders hinzufahren, um sich was zu kaufen, es geht weiter mit sehr, sehr schlechten Schulen, mit katastrophalen Schulen, und einer kaum vorhandenen Gesundheitsversorgung.
Hatting: Haben sich die Lebensbedingungen in der Roma in den letzten Jahren noch verschlechtert? Was erzählen die Menschen Ihnen?
Kurtenbach: Es kommt ein bisschen darauf an, in welcher Phase wir sind, wenn wir uns an die letzten Jahre … In den Wende-Jahren vom Sozialismus zum sehr stark ausgeprägten Kapitalismus hat sich das rapide verschlechtert. Seit 2007, seitdem Rumänien und Bulgarien in der EU sind, hatten viele aus Stolipinovo die Gelegenheit, in Westeuropa oder Nordeuropa – das ist nicht nur Deutschland, das ist auch Frankreich und Großbritannien beispielsweise –dorthin zu migrieren, um dort Arbeit zu finden. Das ist deswegen so wichtig für Stolipinovo, weil, die Leute sind nicht einfach weg, die pendeln zum Teil hin und her, es gibt Besuche zu Hause. Und es ist ganz, ganz wichtig: Die schicken Geld zurück. Und das hält diesen Stadtteil zurzeit sehr stark am Leben und das führt auch dazu, dass sich Familien entschulden. Das ist ein ganz wichtiger Antriebsfaktor einer ganz kleinteiligen Wirtschaft, die es dort vor Ort gibt.
Hatting: Zum Internationalen Roma-Tag hat Amnesty International jetzt eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass die Gewalt gegen Roma zunimmt. Berichten das die Menschen dort in Bulgarien auch?
Kurtenbach: Ja. Wenn Sie außerhalb von Stolipinovo sind, dann ist das gar nicht die körperliche Gewalt, die so stark stattfindet, sondern eine sehr starke Kontrolle. Immer wieder und immer wieder und immer wieder von der Polizei kontrolliert, zum Teil mehrfach auf dem kurzen Weg zwischen Stolipinovo und der Innenstadt in Bulgarien, so dass jeder Ausflug – in Anführungszeichen – aus dem Stadtteil raus mit sehr großen Problemen verbunden sein kann.
Hatting: Sie haben vorher – und das auch schon angesprochen – zur Dortmunder Nordstadt geforscht, das ist eine typische Erstadresse in Deutschland für Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien. Was macht den Bezirk für sie so interessant?
Kurtenbach: Es gibt Stadtteile, die eben so sind wie die Dortmunder Nordstadt, das sind sozial segregierte, also Gebiete, wo sich stärker beispielsweise Armut konzentriert, sozial segregierte Stadtteile, in denen primär Zuwanderung zuläuft. Das unterscheidet sie von anderen armutsgeprägten Gebieten, beispielsweise Großsiedlungen. Und ich habe mir die Frage gestellt: Warum eigentlich solche Gebiete? Dazu habe ich schon im Rahmen meiner Masterarbeit geforscht, aber auch in der Studie danach. Es gibt wesentliche Merkmale, die diese Ankunftsgebiete ausmachen: Das ist eine bereits ansässige Bevölkerung, die praktisch als Brückenkopf fungiert, also Menschen, die vielleicht vor Jahren schon aus Stolipinovo oder Bulgarien in die Dortmunder Nordstadt migriert sind; dann gibt es einschlägige Opportunitäten, das heißt Geschäftsstrukturen, die helfen, den Alltag zu bewältigen, dazu gehört beispielsweise so etwas wie Western Union oder andere Opportunitäten zum Geldverschicken.
Wir haben gerade erzählt, dass Stolipinovo sehr stark davon lebt, dass da Menschen Geld hinschicken, und genau das bieten zum Beispiel auch so Stadtteile wie die Dortmunder Nordstadt. Ein zusätzlicher Punkt ist, die Leute finden dort Arbeit. Das ist schlechte Arbeit, gar keine Frage zum Teil, wo der Großteil des kleinen Teils von Migranten aus Rumänien und Bulgarien, die aus Armutsgründen zugewandert sind und dann auch noch …
Hatting: … und dann in die Dortmunder Nordstadt ziehen.
Kurtenbach: Genau.
Hatting: Der Stadtsoziologe Sebastian Kurtenbach von der Ruhr-Universität Bochum, er war gerade in der größten Roma-Siedlung Südeuropas. Ich habe mit ihm über seine Eindrücke und Schlussfolgerungen gesprochen. Ich bedanke mich.
Kurtenbach: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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