Migration im 19. Jahrhundert

Die Kontrollen wachsen - die Ängste auch

Besucher vor dem Eingang zum Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven (aufgenommen 2008)
Besucher vor dem Eingang zum Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven © picture alliance / dpa / Wolfgang Weihs
Von Eva-Maria Götz |
Wie die Migration steuern und die Grenzen kontrollieren? Dies waren auch im Europa des 19. Jahrhunderts zentrale Fragen. Angesichts wachsender Wanderungsbewegungen wurden vielerorts die Ängste vor Neuankömmlingen größer. Preußen wies ab 1885 jeden aus, der Polnisch sprach.
"Es gibt das sprechende Beispiel von Frankfurt, das als sehr kleines Staatsgebiet schon Mitte des 19. Jahrhunderts schon einen sehr hohen Ausländeranteil hat von so 25 bis 50 Prozent, aber diese Ausländer kommen bei näherem Hinsehen aus den Kommunen im Umland, aus Darmstadt, aus Wiesbaden, aus Homburg, was ja alles Gemeinden in anderen Staaten sind",
sagt Andreas Fahrmeir, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

Eingeschränkte Freizügigkeit für ausländische Juden

Dass Menschen auf den Straßen unterwegs sind auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensmöglichkeiten, gehört zum Alltag. Handwerker sind auf der Walz, Dienstboten ziehen umher und bieten ihre Arbeit an, die Landwirtschaft benötigt Saisonkräfte.
Solange es Beschäftigung genug gibt - kein Problem. Zwar müssen sich Fremde beim Betreten eines neuen Staatsgebietes ausweisen können und sich bei der Polizei registrieren lassen, aber:
"Auf der einen Seite ist die Praxis insofern liberal, als in der Regel Arbeit für fast alle Menschen fast überall möglich ist, solange sich daraus keine Ansprüche ergeben."
Doch Fremder ist nicht gleich Fremder. Für ausländische Juden beispielsweise gilt die Freizügigkeit nicht in gleichem Maße wie für ausländische Christen. Aber auch für die wird es schwierig, wenn sie eine dauerhafte Niederlassung und einen damit verbundenen sozialen Aufstieg anstreben.
"Die fordert die Zustimmung der jeweiligen Obrigkeit, in der Regel für Inländer wie Ausländer, die nachweisen müssen, dass sie auf absehbare Zeit der Gemeinde nicht zu Last fallen werden, und diese Niederlassungserlaubnis braucht man aber auch, um sich als Handwerksmeister niederzulassen, ein Kaufmannsgewerbe zu gründen oder andere geschützte Gewerbe zu ergreifen."

Frankreich als Vorbild für Passkontrollen

Vorbild für die Kontrollen ist Frankreich, das nach der Revolution im Jahr 1789 erstmals ein Passwesen eingeführt hat. Der Staat will wissen, wo sich seine Bürger aufhalten und wer überhaupt "dazu gehört". Und auch nach dem Ende der französischen Besatzung von Teilen Deutschlands 1814 und dem Wiener Kongress ein Jahr darauf, bleibt die Ausweispflicht in den einzelnen deutschen Staaten bestehen.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verändert sich die Situation. Immer mehr Menschen aus den Ländern östlich des deutschen Reichsgebietes wandern ein, gleichzeitig wandern andere Richtung Westen und nach Amerika aus.
Patrice Poutrus, Historiker im DFG- Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung":
"Die große Wanderungsbewegung, die sich in der zweiten Hälfte in Zentral und Osteuropa einsetzte, die hat natürlich Deutschland getroffen, und der deutsche Nationalstaat hat relativ früh und relativ rabiat dafür gesorgt, dass die Menschen, die von Ost nach West wandern, möglichst nicht in Deutschland bleiben sollen."
Nach der Märzrevolution 1848 muss die Obrigkeit einsehen, dass Passkontrollen nicht vor revolutionärem Aufruhr schützen. Mit der aufkommenden Industrialisierung werden Passkontrollen lockerer gehandhabt. Andreas Fahrmeir erklärt das so:
"Vor allem das Kommen der Eisenbahn macht das detaillierte Kontrollieren an jedem wichtigen Aufenthaltsort zu einer großen Barriere für den wirtschaftlichen Aufschwung, und im Kern ist das und das Vertrauen in den Freihandel und Freizügigkeit das Motiv dafür, dass man das Passwesen in zweifacher Hinsicht lockert, es gibt keine regelmäßigen Kontrollen von Pässen mehr, und es gibt auch keine Pflicht mehr, einen Pass oder ein anderes offizielles Dokument zu besitzen."
Durch die neue Massenmigration wächst die Angst vor "Überfremdung". Wer darf kommen -und wer bleiben? Fragen, die auch nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 eine wichtige Rolle spielen.

Wer in Preußen Polnisch spricht wird ausgewiesen

Auch, weil die Obrigkeit bemüht ist, das Bild einer vermeintlich homogenen und deshalb konfliktfreien Gesellschaft zu zeichnen. Patrice Poutrus:
"Wer ist Deutscher? Was bedeutet es, deutsch zu sein? Und das in aller Regel auch meinte, dass Zuwanderer grundsätzlich nicht dazu gehören können."
Es trifft vor allem die Einwanderer aus dem Osten: 1885 wird in Preußen zum ersten Mal verfügt, dass Menschen pauschal ausgewiesen werden, die Polnisch sprechen- die meisten sind jüdischer Herkunft sind und haben sich keinerlei Verfehlungen verdächtig gemacht. Allerdings merkt man schnell: Ohne diese Menschen geht es nicht.
Fahrmeir: "Dann stellt man fest, dass die polnischen Arbeitskräfte begehrt sind, und dann entwickelt sich in Preußen ein sogenanntes Rotationsprinzip, dass Arbeiter zwar zugelassen sind aber immer nur für einen Teil des Jahres, für bis zu neun oder zehn Monaten, und dadurch, dass sie ihren Aufenthalt unterbrechen müssen, hofft man, dass dadurch keine dauerhafte Einwanderung entsteht."
Die polnischen Arbeitskräfte dürfen also kommen, aber sie sollen nicht bleiben. Diese relative Freizügigkeit bleibt bis in die Weimarer Republik hinein bestehen.
Ein Gesetz, das Einwanderung im Vorhinein regelt, hat es übrigens nie gegeben, meint Jochen Oltmer, Professor für Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Er hat das "Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert" herausgegeben:
Oltmer: "Sie finden sehr selten eine Konstellation, in der Staaten so etwas planen. Meistens ist es so, es gibt Bewegungen, und Staaten bzw., Obrigkeiten, Regierungen werden eher überrascht von der Dynamik und versuchen dann - etwas langsamer oder schneller -Reaktionsmuster zu finden."
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