Migration neu denken

"Europa führt Krieg gegen Migranten"

38:28 Minuten
Nachtaufnahme: Flüchtlinge an der Grenze zwischen Serbien und Rumänien.
Migration aus der Sicht der Migranten: Donatella Di Cesare nimmt eine neue Perspektive auf Staat und Bürgerrechte ein. © imago / Le Pictorium / Michael Bunel
Donatella Di Cesare im Gespräch mit Christian Möller |
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Flucht und Migration bringen Nationalstaaten in ein Dilemma: Wie das Asylrecht garantieren und Einwanderung kontrollieren? Die Philosophin Donatella Di Cesare hält schon die Frage für falsch. Niemand habe das Recht, Migranten zurückzuweisen.
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, hat das Thema Flucht und Migration wieder ganz nach vorn in die Schlagzeilen gebracht. Aufrufe zu einer schnellen Evakuierung afghanischer Ortskräfte und Appelle an die Verantwortung des Westens für Menschen auf der Flucht nehmen Bezug auf das Krisenjahr 2015. Über eine moralische Verpflichtung Europas, seine Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, wurde damals kontrovers diskutiert. Der Streit unter den Staaten der Europäischen Union, wer wie viel Verantwortung für Schutzsuchende übernimmt, reißt seither nicht ab.

Fragwürdige Souveränität

Die italienische Philosophin und Publizistin Donatella Di Cesare hält moralische Erwägungen in dieser Debatte für völlig fehl am Platz. Die Frage, welche ethischen Pflichten nationale Staaten oder eine Staatengemeinschaft wie die EU gegenüber Migranten haben, setze immer schon voraus, dass jedem Staat das Recht zukomme, souverän zu entscheiden, wer sich auf seinem Territorium niederlassen darf und wer nicht. Doch genau diese Souveränität stellt Di Cesare in Frage.
In ihrem Buch "Philosophie der Migration" kehrt Di Cesare die gewohnte Sichtweise um, indem sie nicht von der Position des Staates aus denkt, sondern den Blickwinkel der Migranten selbst einnimmt. "Viele Phänomene, die außerhalb des Staates stattfinden, sind sehr wichtig", sagt die Philosophin, "und die Gefahr ist, dass wir, wenn wir immer diese staatliche Perspektive einnehmen, Phänomene wie Migration nicht verstehen."

Umstrittene Bürgerrechte

Di Cesare, die Theoretische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom lehrt, begreift den Perspektivwechsel als Chance, um grundsätzlich zu hinterfragen, was staatliche Souveränität legitimiert, worauf Bürgerrechte gründen, und wie deren Verhältnis zu den allgemeinen Menschenrechten bestimmt ist.
Donatella Di Cesare in einem schwarzen Sakko und weißer Bluse sitzt auf dem Sofa vor Bücherregalen, die bis zur Zimmerdecke reichen.
"Migration gehört zu unserer Geschichte": Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare erinnert daran, dass wir auf diesem Planeten alle nur zu Gast sind.© Christian Mantuano
Aus der Sicht souveräner Staaten erscheine Migration als Ausnahme und nicht selten als Bedrohung, so Di Cesare. Diese Vorstellung gehe auf die antike griechische Philosophie zurück, die zwischen Bürgern und Fremden streng unterschieden habe. So gestehe Platons Staatstheorie Bürgerrechte ausschließlich "Autochtonen" zu, Menschen also, die auf dem Gebiet des Staates geboren wurden und sich von dort am besten auch nicht wegbewegten.

Ideologische Wurzeln von "Blut und Boden"

"Ich habe meine Wurzeln hier, meine Eltern sind hier geboren, dieser Ort gehört mir, diese Erde gehört mir - und ich gehöre dieser Erde", dieser Mythos bilde bis heute die Grundlage, auf der Bürgerschaft in den europäischen Nationalstaaten definiert werde, so Di Cesare. Seine zentralen Begriffe erinnerten nicht von ungefähr an die "Blut und Boden"-Ideologie des Dritten Reiches: "Blut und Boden ist im Grunde die Ideologie Athens, das sind die Prinzipen der Autochtonie."
In dieser tief verankerten Haltung sieht Di Cesare eine wesentliche Ursache dafür, dass Europa sich auf martialische Weise gegen Einwanderung abschotte. "Was heutzutage geschieht, ist im Grunde ein Krieg der Nationalstaaten, ein Krieg Europas gegen die Migranten", sagt Di Cesare.
Ein Soldat patrouilliert an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei.
Europa schottet sich ab: Ein Soldat patrouilliert an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei.© picture alliance / NurPhoto / Nicolas Economou
In ihrem Buch erinnert Donatella Di Cesare an andere Traditionslinien der Idee von Staatlichkeit und Bürgerschaft. Rom habe sein Imperium ausgedehnt, indem es Menschen in seinem gesamten Machtbereich in Aussicht stellte, Bürgerrechte zu erhalten, ohne dass deren Herkunft eine Rolle spielte. In der Geschichte Jerusalems wiederum erkennt Di Cesare eine Auffassung von Bürgerschaft, die ihr bis heute vorbildlich erscheint.
Dort werde von Bürgerinnen und Bürger gerade nicht erwartet, seit Generationen im Land verwurzelt zu sein, sondern sie würden als "ansässige Fremde" betrachtet – ein Schlüsselbegriff in Di Cesares Buch, das auf Italienisch dementsprechend "Stranieri residenti" heißt.

Leben im planetarischen Exil

Ansässige Fremde seien "diejenigen, die in der Fuge der Trennung von der Erde wohnen", erklärt Di Cesare. Für sie bedeute Wohnen eben nicht, "sich niederzulassen, sich einzurichten, mit der Erde eins zu werden, sondern die Trennung von der Erde zu respektieren." Mit weitreichenden Konsequenzen, denn in Jerusalem als einer "Stadt der Fremden" falle "die Bürgerschaft mit der Gastfreundschaft zusammen", so Di Cesare. "Es geht nicht mehr um die Frage: Sollen wir gastfreundlich sein oder nicht?"
Donatella Di Cesares Philosophie der Migration erklärt nicht die Staatsangehörigkeit zur Grundlage jeder individuellen und gesellschaftlichen Existenz, sondern geht von einem Urzustand existenzieller Fremdheit aus, von einem "planetarischen Exil" als Conditio humana. "Exil ist die Art und Weise unserer Existenz", sagt Di Cesare. "Wir alle haben mehr oder weniger Eltern oder Großeltern, die Migranten gewesen sind. Migration gehört also zu unserer Geschichte, und das sollten wir nicht vergessen."
(fka)

Donatella Di Cesare: "Philosophie der Migration"
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz
Matthes & Seitz, Berlin 2021
343 Seiten, 26 Euro

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