Solidarität unter Ungleichen – wie kann sie gelingen?
Wir Europäer verteidigen unseren Wohlstand auf Kosten des globalen Südens. Wie kann so Zusammenhalt entstehen? Soziologe Stephan Lessenich kritisiert eine "Struktur festgefügter sozialer Ungleichheit" mit dem Westen in der Gewinner-Position.
Europa schwenkt auf einen gemeinsamen Kurs der Abschottung ein, der Kapitän des Seenot-Rettungsschiffs "Lifeline" steht vor Gericht und einige deutsche Politiker sprechen von einer "Asyl-Industrie". Erleben wir gerade das Ende der Solidarität in Europa? Nein, meint der Münchner Soziologe Stephan Lessenich, denn wir dürften nicht aus dem Blick verlieren, dass sich nach wie vor viele Menschen für mehr sozialen Zusammenhalt engagieren:
"Insofern ist die Gesellschaft durchzogen von millionenfachen Praktiken der Solidarität. Das Füreinander-Einstehen ist also eine gängige Praxis. Eine gängige Praxis, die jetzt aber mit jetzt aber plötzlich öffentlich infrage gestellt wird, auch öffentlich", sagt Lessenich.
Dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung rund um das Thema Migration inzwischen großen Raum einnimmt, darin erkennt der Soziologe auch Positives: "Was wir seit der 'Willkommenskultur' 2015 in München erleben, ist eine ganz offensive Verhandlung die Grenzen der Solidarität in diesem Lande, was im Grunde genommen auch gut ist. Diese vermeintliche Krise, die eigentlich eine Krise der europäischen Solidarität und dem Füreinander-Einstehen in Europa ist, hat auch etwas Gutes: Wir verhandeln gegenwärtig über die Grundlagen unseres Gemeinwesens"
Auch Institutionen müssen Solidarität einüben
Denn Solidarität müssen nicht nur Menschen lernen, ist Lessenich überzeugt, sondern auch Institutionen: "Solidarität ist das Zusammenhalten in Situationen, wo es Not gibt und ich glaube, dieses Zusammenhalten muss man lernen. Man lernt das in der Familie von Anfang an. Aber gesellschaftliche Solidarität muss man einüben. Dann stellt sich die Frage: Wie sind Institutionen eingerichtet – fördern die das Einüben von Solidarität oder fördern die eher Egoismus und Individualismus. Weil die Europäische Union vor allem eine Wirtschafts- und Markt-Union ist, ist dort Solidarität – das Zusammenhalten in Notlagen – nicht eingeübt worden."
Ende eines "geheimen Gesellschaftsvertrages"?
Gut an der Zuwanderung der letzten Jahre sei auch gewesen, "dass die Weltprobleme wenigstens ein bisschen zu uns nach Hause gekommen sind". Lange hätten die Deutschen ihren politischen Repräsentanten zugestimmt, solange diese für Wohlstand und Wachstum gesorgt hätten. Dieser "geheime Gesellschaftsvertrag" gehe heute nicht mehr auf, argumentiert Lessenich, weil es der Elite nicht mehr gelinge, "uns das Elend der Welt vom Hals zu halten". Spätestens jetzt müssten wir uns die Zusammenhänge zwischen Migration und Wirtschaftspolitik klarer machen:
"Der gesamtgesellschaftliche Wohlstand der Bundesrepublik beruht auf sehr ungleichen Handelsbeziehungen – auf der Möglichkeit, anderswo Arbeits- und Naturressourcen auszubeuten und sich einseitig anzueignen und nicht den wirklichen Preis zu zahlen, der beispielsweise durch die Umweltschäden entsteht, die anderswo auftreten. Das heißt, im Grunde genommen basiert das Funktionieren unserer Gesellschaft hierzulande zu nicht unerheblichem Maße auf gerade nicht praktizierter Solidarität".
Die frühe Arbeiterklasse ist noch mit dem Slogan "Hoch die internationale Solidarität" auf die Straßen gezogen und fühlte sich mit der Arbeiterschaft unterschiedlichster Länder verbunden. Internationale Solidarität sei damals kein Lippenbekenntnis, sondern ein Grundwert gewesen, meint Lessenich. Die Welt von heute hat sich allerdings dramatisch verändert – die Globalisierung hat zu einer ganz neuen Dimension wirtschaftlicher und sozialer Abhängigkeiten geführt.
Wie funktioniert transnationale Solidarität?
Noch dazu widersprechen sich die Interessen der westlichen Mittelschichten und die breiter Bevölkerungsteile des globalen Südens: die einen setzen auf Wohlstands-Wahrung, den anderen fehlt es an Wohlstands-Mehrung. Wie soll heute also transnationale Solidarität funktionieren?
"Das ist in der Tat die Preisfrage", meint Lessenich und verweist auf den Unterschied zwischen Solidarität unter Gleichen und jener unter Ungleichen. Diese Unterscheidung geht auf den französischen Soziologen Émile Durkheim zurück, der den Übergang von der Feudal- zur frühen Industriegesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert vor Augen hatte. Wo die bäuerliche Gesellschaft noch von Solidarität unter Gleichen – unter Bauern – geprägt war, machte die Industriegesellschaft durch die neue Arbeitsteilung auf einmal Solidarität unter Ungleichen nötig.
Zusammenhalt unter Ungleichen
"Wir sind heute an einem selben Umbruch: Die Solidarität unter Ungleichen noch einmal auf eine neue Basis zu stellen. Es geht heute nicht mehr nur um die Arbeitsteilung in der Industriegesellschaft, sondern um Arbeitsverteilung und Lebenschancen auf der ganzen Welt unter sehr ungleichen Menschen. Und die Frage ist: Wie kann sich eine globalisierte Gesellschaft neu integrieren?", so Lessenich.
So wie die Arbeiter damals die Einsicht entwickelt hätten, dass sie aufeinander angewiesen waren, so müssten wir wechselseitige Abhängigkeiten heute über Grenzen hinweg verstehen, führt Lessenich aus: "Heute geht es um dieselbe Frage: Wir müssen einsehen, dass wir als westliche Dienstleistungsgesellschaften abhängig sind von der Arbeit anderer anderswo auf der Welt. Diese neue Form der globalen Abhängigkeit müsste bewusst werden, um auch neue Formen der Solidarität etablieren zu können."
Westliche "Verantwortung für Gerechtigkeit"
Wir Westler müssten außerdem offensiver behandeln, welche Rolle wir derzeit im globalen Gefüge einnehmen: "Wenn ich in einer Struktur festgefügter sozialer Ungleichheit in einer Gewinner-Position gestellt bin, die regelmäßig profitiert von der Einrichtung der Verhältnisse, dann habe ich die politische Verantwortung, an diesen Verhältnissen etwas zu verändern – im Sinne einer größeren Symmetrie. Oder ich müsste die politische Verantwortung dafür übernehmen, dass ich daran nichts verändern möchte. Diese beiden Elemente müssten öffentlich stärker diskutiert werden", führt Lessenich aus und greift damit Iris Marion Youngs Idee der "Verantwortung für Gerechtigkeit" auf.
Brauchen wir zwei Autos vor der Tür?
Wir müssten gut unterscheiden zwischen Grundbedürfnissen, die alle Menschen befriedigen können sollten und Privilegien, die nur uns zu Gute kommen und diskutabel sind. Jeder Mensch sollte Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem haben, macht Lessenich deutlich und fährt fort:
"Das Privileg, zwei Autos vor der Tür zu haben, um beliebig einsteigen zu können für die Kiste Bier, das Privileg einer grenzenlosen Individual-Mobilität dagegen lässt sich nicht verallgemeinern."
Globale Solidarität zu üben ist, heißt aus Lessenichs Perspektive heute also vor allem, einen Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzung anzustoßen: "Wenn man einen vernünftigen Prozess einrichten würde, wo sich die Gesellschaft wirklich darüber verständigt, was wir brauchen, dann würde fast niemand auf die Idee kommen, dass man Panzer in Innenstädten braucht" – mit diesem Bild endet der Soziologe.