"Wir sind ganz und gar hier"
Auf gut 15.000 wird die Zahl der Israelis geschätzt, die inzwischen dauerhaft in Berlin leben. Auch Maler Olaf Kühnemann und seine Frau Tal Alon, Herausgeberin des hebräischen Magazins "Spitz", gehören dazu.
Wir sitzen im Atelier einer Kreuzberger Hinterhofwohnung. Wände und Boden sind mit grauem Packpapier ausgekleidet. Farbspuren überall. Offene Dosen, Tuben, und am Haken Kleidung, die ein Modelabel für die Berlin Fashion Week mit einigen seiner Bildmotive bedrucken ließ. In Israel hatte Olaf Kühnemann für seine Malerei Preise erhalten. Er unterrichtete Kunst an namhaften Instituten und stellte regelmäßig aus. Ein Gefühl der Enge und Sehnsucht nach dem Unbekannten trieb ihn nach Berlin. Seine Familie blieb in Tel Aviv, während er mehrfach zu Erkundungstouren aufbrach, um herauszufinden, ob es hier Platz für ihn gäbe. Es gab Platz und eine große Einzelausstellung.
"Tal kam zu der Eröffnung und sagte nur: Vergiss es! Wir ziehen nicht nach Deutschland. Es ist dunkel hier, kalt und die Straßen sind wie leergefegt! Mehr als ein Jahr später saßen wir in einem Café in Tel Aviv, und plötzlich sagte sie: Weißt du was, lass uns gehen. Wir versuchen es einfach. Es hat dann noch ein ganzes Jahr gedauert, bis wir unseren Lebensschwerpunkt hierher verlegt hatten."
Olaf Kühnemann ist 41 Jahre alt. Er wuchs in Basel auf, kam im Grundschulalter nach Israel, musste ad hoc Hebräisch und Englisch lernen und vergaß sein Deutsch. Den deutschen Pass wollte er nie aufgeben. Seine etwas jüngere Frau Tal leitete vor dem Umzug nach Berlin die Nachrichtenredaktion einer großen Tageszeitung. Viel Stress, lacht sie und streicht die langen Haare aus dem ebenmäßigen, schmalen Gesicht.
"Ich war reif für etwas Neues, für ein Abenteuer. 2008 fing ich an, Facebook zu nutzen und dann auch Smartphones. Ich spürte geradezu körperlich, wie die Welt durch diese Technologie schrumpft und dass ich mit meinem bisherigen Leben nicht komplett brechen muss, wenn ich für ein paar Jahre woanders hinziehe."
Konzentriert und aufrecht sitzend hört Olaf Kühnemann seiner Frau zu. Tal Alon hat ein impulsives, charmant-einnehmendes Temperament. Sie will verstehen, wo sie lebt und worin Deutsche und Israelis sich unterscheiden und ergänzen. 2012 gründete sie das hebräische Magazin "Spitz". Es liegt in Sprachschulen, Cafés und Kinos, in der Jüdischen Volkshochschule und in Synagogen aus.
"Ich finde, 'Spitz' ist eine kleine israelische Insel mit einer Brücke zum deutschen Festland. Wenn es ein Wiedererwachen und -erstarken jüdischer Kultur in Berlin gibt, dann gehen die Impulse klar von den Israelis aus. Sie fokussieren ihren Blick auf das Hier und Heute und lassen die Vergangenheit auch mal ruhen."
Dauerhaft bleiben oder doch zurückgehen?
In "Spitz“ berichten Israelis und Deutsche von ihren Versuchen, als Liebespaare glücklich zu werden. Man erfährt, warum in Israel wegen politischer Differenzen oft gröbste Beleidigungen ausgestoßen werden, während Deutsche stolz darauf sind, dass Beziehungen wegen politischer Gegnerschaft nicht zwangsläufig abbrechen. Tal Alon gibt Filmkritiken, Interviews und Konzertberichte in Auftrag, auch skurrile Örtlichkeiten werden für den "Spitz“ aufgespürt. Sie, ihr Mann und die beiden Söhne haben sich längst eingelebt in Berlin. Und trotzdem:
"Wir wollen nicht so viel Zeug, nicht so viele Gegenstände anschaffen, denn wie sollen wir das alles los werden, wenn wir eines Tages nach Israel zurückkehren. Alles schön leicht halten, das ist die Grundhaltung, aber in Wirklichkeit ist die Wohnung voller Möbel, und ich habe ein Atelier. Das Leben geht eben seinen eigenen Gang. Und wir sind ganz und gar hier."
Dauerhaft bleiben oder doch zurückgehen? Tal glaubt, dass ihre Kinder die Richtung weisen werden.
"Ich habe das Gefühl, dass, wenn unser älterer Sohn aufs Gymnasium kommt, er wirklich ein Deutscher wird, und das nimmt mich emotional doch mit. Als ich neulich beim Laternenfest hörte, wie meine Kinder deutsche Lieder sangen, gab es mir einen Stich, denn die Lieder meiner Kindheit kennen sie nicht. Es berührt mich, aber gut, das wirkliche Leben wird am Ende eine Entscheidung herbeiführen."
Olaf drängt es, weiter zu malen. Er bereitet gerade zwei neue Ausstellungen mit abstrakten Bildern vor. Sie bilden einen scharfen Kontrast zu früheren Arbeiten: großformatige, auf Holz gemalte Panoramabilder, Baumdickicht und häusliche Szenen, die sofort Sammler fanden.
"Manchmal beneide ich Leute, die sich in einer Sprache und in einer Identität zuhause fühlen und die ein Bildwerk schaffen, das eine klare Geschichte erzählt. In meinem Werk herrscht Uneindeutigkeit. Bei mir beginnt und endet immer alles mit einem Fragezeichen und nicht mit einer Feststellung."