Migrations-Hotspot Kanaren

Die Stimmung droht zu kippen

23:06 Minuten
Flüchtlinge landen im Dezember in einem Boot am Strand von Los Cristianos auf der spanischen Insel Teneriffa. Dazwischen sind Touristen.
Flüchtlinge landen im Dezember am Strand von Los Cristianos auf der spanischen Insel Teneriffa. © picture alliance/dpa/Andreas Jütte
Von Oliver Neuroth und Christina Teuthorn-Mohr |
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Werden die Kanarischen Inseln zum zweiten Lesbos? Letztes Jahr kamen dort 23.000 Menschen in Booten an, in den ersten Wochen dieses Jahres waren es 2000. Behörden und Bevölkerung sind überfordert. Es kommt zu Übergriffen und Gewaltandrohungen.
"Esta es la sopa, pimiento rojo…"
70 Liter fasst der Suppentopf, den Attilano umrührt: Rot ist er, denn viel Paprika, zehn Kilo Hühnerfleisch und Nudeln sind in der Suppe, die sein Sohn Borja und andere Helfer gekocht haben. Vor dem Topf auf dem Tisch steht eine riesige, rechteckige Paellapfanne. Normalerweise kocht Alicia, eine Freundin von Borja, für große Dorffeste oder Altenheime.
Doch seit drei Monaten bereitet sie ab 5.30 Uhr morgens bis spätabends Gerichte in Borjas Garage zu – zu fünft versorgen sie einen Teil der Migranten auf der Kanareninsel El Hierro mit Essen.


Borjas kleines Restaurant konnte das Volumen nicht mehr stemmen, darum kochen sie inzwischen bei ihm zu Hause.
"Heute kochen wir Hühnersuppe mit Karotte, danach Thunfischmakkaroni, und sie bekommen Saft und Brot. Die Senegalesen essen sehr gerne viel Reis, Hühnchen, Frikadellen und Makkaroni. Jeden Tag gibt es gemischte Gerichte."
Heute kochen sie nur für 82 Menschen. An manchen Tagen mussten sie 235 versorgen – jeweils morgens, mittags und abends: erst ein Sandwich, dann ein reichhaltiges Mittagessen und schließlich noch ein Abendbrot. Das Essen verteilt dann das Rote Kreuz in den improvisierten Erstaufnahmelagern auf der Zweitkleinsten der Kanareninseln.

"Wie gehen wir mit diesem Migrationsdruck um?"

Zeitweise waren auf El Hierro mehr als 500 Migranten gleichzeitig – vor allem aus dem Senegal, Mali, Guinea und Gambia. Für die kleine Insel eine gewaltige Aufgabe.
"El Hierro ist das Gebiet, das in ganz Spanien in den letzten Monaten unter dem größten Migrationsdruck gelitten hat. Wir sind 7500 Einwohner, und alleine zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 sind etwa 1000 Migranten hier angekommen. Der Großteil von ihnen – 775 Personen wurde inzwischen nach Teneriffa gebracht. Wir sind eine sehr kleine Insel mit nur 277 Quadratkilometern – und bei uns hat sich alles natürlich fast nur noch darum gedreht: Wie gehen wir mit diesem Migrationsdruck um?"
Bunt angemalte Holzreste, kaum als ehemaliges Boot zu erkennen, liegen im Hafen auf dem Boden herum.
Gestrandet: Flüchtlingsbootteile im Hafen von La Estaca auf El Hierro.© Deutschlandradio / Christina Teuthorn-Mohr
José Carlos Hernández ist als Vertreter des spanischen Staates auf El Hierro der Chef-Koordinator der Insel. Bei allen Fragen der Nationalen Sicherheit, und auch der Einwanderungspolitik, ist er zuständig.

Wann und wie kommen sie und in welchem Zustand?

Seit Monaten trifft sich jeden Morgen in seinem Büro an einem blank polierten Holztisch der Krisenstab der Insel: der örtliche Chef des kanarischen Gesundheitsdienstes und des Roten Kreuzes, Vertreter der Inselregierung, der spanischen Polizeieinheit Guardia Civil und der Nationalpolizei.
"Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Du weißt nicht, wann sie kommen, wie sie kommen und wie es ihnen geht. Wir müssen jederzeit, rund um die Uhr vorbereitet sein. Das Flüchtlingsboot kann um zwei Uhr morgens oder auch mitten am Tag kommen, in perfektem Gesundheitszustand, oder auch so krank, dass sie uns an der Hafenmole gestorben sind – auch das ist passiert. Und das ist das Schlimmste, was geschehen kann."
Wenn José Carlos schläft, liegt sein Handy neben ihm: Er ist 24 Stunden erreichbar, um alles zu koordinieren, wenn der Alarm der Küstenwache kommt. Auch in der Weihnachtsnacht kam ein Anruf der Polizei – um drei Uhr morgens.

Die Altantikroute ist gefährlich

Am dramatischsten war jedoch ein Tag im November. 60 Kilometer vor der Küste El Hierros trieb ein Fischerboot mit 158 Menschen an Bord. Moussa Djop war einer der Insassen. Der 27-jährige Student stammt aus Joal-Fadiouth, einem senegalesischen Fischerdorf. Ende Oktober waren er und sein Bruder zusammen mit den anderen Senegalesen an Bord des Fischerkahns gestiegen. Rund 450 Euro hatte er für die Überfahrt bezahlt, die ihn beinahe sein Leben kostete. Nach einer Woche auf dem Atlantik waren Benzin, Wasser und Essen aufgebraucht. Eine weitere Woche trieben sie auf dem Meer.
"Während der letzten sieben Tage hatten wir weder Wasser noch etwas zu essen. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben. Wir haben diese sieben Tage nur überlebt, indem wir Meerwasser getrunken haben."
Etwa 60 Kilometer vor El Hierro, als die jungen Senegalesen dachten, sie würden sterben, sahen sie plötzlich ein Frachtschiff. Aus leeren Benzinkanistern bauten sie ein Kanu und rissen Holzplanken von ihrem brüchigen Kahn als Ruder ab. Sieben Menschen klettern auf das Kanister-Kanu und paddelten mit letzter Kraft, um das Frachtschiff auf sich aufmerksam zu machen.
"Diese sieben Personen haben ihr Leben für uns alle riskiert. Sie hatten nichts zu trinken oder zu essen und waren schon mit ihren Kräften am Ende. Und sind dann noch 15 Kilometer gerudert, bis das Frachtschiff sie gesehen hat und die Küstenwache gerufen hat. Wenn sie das nicht geschafft hätten, wären wir alle gestorben."

Ein Covid-Test zur Begrüßung

Der Augenblick der Rettung ist Moussas kostbarstes Video. Auf seinem Handy zeigt er die überglücklichen Gesichter der Migranten, das Frachtschiff im Hintergrund, als die Seenotrettung auf sie zusteuert. Später umkreist sie ein Hubschrauber, als die Seenotrettung den Holzkahn mit den 158 Personen in den Hafen von La Restinga schleppt.
Am Hafen-Pier warten schon Militärpolizisten der Guardia Civil und Mitarbeiter des Roten Kreuzes auf die Afrikaner. Unter einem Sonnenschutz machen Helfer in Schutzanzügen den Covid-Test, Ärzte des kanarischen Gesundheitsdienstes helfen bei der medizinischen Erstversorgung. Die meisten Schiffsinsassen sind dehydriert – acht von ihnen werden sofort ins Krankenhaus gebracht, einer stirbt. Die positiv getesteten werden isoliert, Moussa kommt wie alle anderen ebenfalls in Quarantäne – in ein leer stehendes Schülerwohnheim: Eine Art Jugendherberge mit Stockbetten in der Inselhauptstadt Valverde.
Ein junger Mann mit Brille und Atemschutzmaske steht in der Küche, im Hintergrund ein Mann afrikanischer Herkunft.
Freundschaft auf den ersten Blick: Borja Padrón kocht in seiner Küche gemeinsam mit dem Senegalesen Moussa für die Migranten auf El Hierro.© Deutschlandradio / Christina Teuthorn-Mohr
"Es ist eine schwierige, harte Arbeit. Unser Ziel ist, die Migranten würdevoll und menschlich zu behandeln: Jeder bekommt ein Bett, etwas zu essen und kostenlose Gesundheitsversorgung. Unser Hauptproblem hier auf El Hierro ist, dass auf allen Cayucos, den Flüchtlingsbooten, Covid-positive Insassen waren. Alle anderen sind enge Kontakte, daher mussten alle Personen, die nach El Hierro gekommen sind, in Quarantäne."
An der Wand in José Carlos Büro hängen die spanische Flagge und ein Porträt des spanischen Königs – Madrid, das Zentrum der Macht und Ziel vieler Migranten, ist fast 2000 Kilometer weit entfernt. José Carlos sorgt dafür, dass hier spanisches Recht eingehalten wird – und eben auch Spaniens Linie der Flüchtlingspolitik.

Der Tourismus ist um 80 Prozent eingebrochen

Ein Sprung über den Atlantik, knapp 250 Kilometer in östliche Richtung. Auch das sind die Kanaren: Ein Hotelblock steht neben dem anderen. Dazwischen Diskotheken, Nachtklubs und Schnitzel-Restaurants. Playa Del Inglés auf Gran Canaria ist die Urlaubsfabrik. Doch im Moment stehen die Bänder quasi still. Die Pandemie hat den Tourismus um etwa 80 Prozent einbrechen lassen.
Leere Liegestühle am Strand von Las Canteras.
Las Palmas de Gran Canaria: Leere Liegestühle am Strand von Las Canteras.© picture alliance/dpa/ Manuel Navarro
Nur einzelne Deutsche und Briten spazieren die Strandpromenade entlang. Und das Anfang des Jahres, wo hier eigentlich die Hauptsaison läuft.

Not-Unterkünfte für Migranten im Hotel

Es sind mehr Migranten, die an diesem Nachmittag an einer Ufermauer sitzen. Sie haben ihr Quartier gleich um die Ecke – im Vier-Sterne-Hotel Waikiki. Es ist eine der Not-Unterkünfte für Menschen aus Afrika.
"Wir haben nach einem Notruf von den spanischen Behörden gesagt: ‚Wir öffnen unsere Türen für eine gewisse Zeit," sagt der Niederländer Tom Smulders, Vize-Präsident des Hotelier-Verbandes FEHT.
Für die Betreiber der Hotels hörte es sich im November erst einmal nach einem guten Geschäft an: Der spanische Staat mietet Migranten in den Zimmern ein, die wegen der Urlauberflaute leer stehen. Zumindest der eine oder andere Hotelier konnte sich so durch schwierige Corona-Wochen retten. Doch Tom Smulders stellt klar:
"Wir können nicht gestatten, dass es eine Dauersituation wird. Denn wir sind touristische Anlagen. Sie haben recht, wir werden auch dafür bezahlt. Aber nicht die Preise, die wir in anderen Jahren gehabt haben."
Ein älterer Herr mit rotem T-Shirt und Jacke steht vor einer großen Palme in der Sonne.
"Wir öffnen unsere Türen für eine gewisse Zeit", sagt Tom Smulders, Vize-Präsident des Hotelier-Verbandes FEHT.© Oliver Neuroth, ARD-Studio Madrid
Pro Migrant und Nacht zahlt die Regierung etwa 45 Euro. Eigentlich sollte dieser Deal mit den Hoteliers bis Ende Dezember laufen. Dann war ein Umzug der rund 8000 Migranten aus den Hotels in Übergangsquartiere gedacht. Doch diese Camps wurden und wurden nicht fertig, die Bauarbeiten verzögerten sich von Woche zu Woche.
Tom Smulders und seine Kollegen verlängerten die Frist für den Umzug bis Mitte Februar. Dieser Termin platzte wieder. Immer noch leben rund 6000 Afrikaner in Hotelzimmern.
"So geht das nicht. Und so behandelt man auch nicht Leute, wovon viele auch das Recht haben, als Flüchtling anerkannt zu werden."

Unterbringung in neuen Camps als Ziel

Die Menschen seien wie auf einem Abstellplatz geparkt, sagt Tom Smulders, man kümmere sich nicht gut genug um sie. Der Niederländer berichtet von Problemen mit Migranten in manchen Hotelanlagen. Einige seien aggressiv geworden, hätten sich als Minderjährige ausgegeben, um einen besonderen Schutzstatus zu genießen. Obwohl sie in Wirklichkeit über 30 gewesen seien.
Doch langsam leerten sich diese Problemhotels, sagt Smulders, und die Menschen werden in den neuen Camps untergebracht. Wohl auch eine Kostenfrage: Zeltstädte zu errichten und gleichzeitig Hotelzimmer für mehrere Tausend Menschen zu bezahlen, kann sich die Kanaren-Regierung nicht allzu lange erlauben.
Das Foto zeigt Hilfskräfte, die sich um Migranten in Las Salinas auf Fuerteventura kümmern.
Betroffen sind alle Kanareninseln: Hilfskräfte kümmern sich um Migranten, die in Las Salinas auf Fuerteventura ankommen.© imago images/Agencia EFE/Carlos de Saá
Gut 50 Kilometer von Playa del Inglés entfernt, liegt die Hauptstadt Gran Canarias, Las Palmas. Rund 380.000 Menschen leben hier, es ist das Geschäfts- und Verwaltungszentrum der Insel, in dem die Fäden zusammenlaufen.

Migranten statt Touristen in Las Palmas

Auch beim Thema Migration: In Las Palmas hat der spanische Staat mehrere Flüchtlingscamps errichtet. Sowohl Stellen für die Erstaufnahme von Migranten, wo ihre Identität festgestellt werden soll, als auch Unterkünfte für längerfristige Aufenthalte. Seit ein paar Wochen leben Menschen aus Afrika dort. Endlich, sagt Chema Santana von der halbstaatlichen Flüchtlingsorganisation CEAR. Es habe viel zu lange gedauert, dass die ersten Quartiere bezugsfertig gewesen seien. Allerdings sieht Chema die Standorte kritisch.
"In einigen der Stadtviertel mit den größten sozialen Problemen sind nun die Camps entstanden. So hat es die Regierung entschieden. Nicht etwa, weil Untersuchungen ergeben hätten, dass die Standorte besonders geeignet wären – nein, weil das Verteidigungsministerium dort Grundstücke besitzt.
Die Stadtteile stehen in der Liste der Problemviertel, die das Sozialministerium erstellt hat. Die Ministerien haben sich wohl nicht abgesprochen. Man kann doch nicht ein Zentrum für 1500 Migranten in solche Viertel bauen! Das wird nicht funktionieren."
Ein junger Mann mit dunklem Haar, gelbem Pulli  und Mundschutz sowie einem Halstuch steht in seinem Büro.
"Das wird nicht funktionieren", sagt Chema Santana von der halbstaatlichen Flüchtlingsorganisation CEAR.© Oliver Neuroth, ARD-Studio Madrid
Chema sollte mit dieser Einschätzung Ende Januar recht behalten. In den folgenden Wochen kommt es zu einzelnen Übergriffen zwischen Einheimischen und Migranten. Steine und Gummigeschosse fliegen auf das Gelände einer Zeltstadt für Afrikaner.

"Man hat einen Sündenbock gefunden"

Bewohner der Anlage berichten von Gewaltandrohungen und Prügelattacken. Arcadio Diaz Tejera ist Richter in Las Palmas.
"Einige Bewohner der ärmsten Viertel, nicht alle, haben einen Sündenbock gefunden: Menschen, die noch ärmer und verletzlicher sind als sie selbst. Die Ärmsten lassen also ihre aufgestaute Wut an den Vergessenen unserer Gesellschaft aus. Sei es die hohe Arbeitslosigkeit, die wirtschaftliche Lage wegen der Pandemie, die Angst vor der Zukunft und so weiter."
Eine enge Straße mit baufälligen bunten Häusern und einem parkenden Auto.
Willkommenskultur auf Gran Canaria? - Das Multi-Kulti-Viertel La Isleta, wo ein Camp steht.© Oliver Neuroth, ARD-Studio Madrid
Die Stimmung scheint zu kippen. Zumindest an einigen der Punkte, an denen Einheimische und Migranten eng beieinander leben. So etwas habe er in der Bevölkerung Gran Canarias noch nie erlebt, sagt Antonio Santana. Der 53-Jährige stammt von der Insel und arbeitet als Sozialarbeiter, kümmert sich seit Langem um ankommende Afrikaner.

Die extreme Rechte in Spanien hat Rückenwind

Selbst im Jahr 2006, als so viele Migranten in Booten auf den Kanaren ankamen wie nie, habe es keinen spürbaren Rassismus unter den Einheimischen gegeben. Antonio glaubt, dass das an der Geschichte der kanarischen Gesellschaft liegt.
"Die Menschen auf den Kanaren haben in der Vergangenheit selbst Erfahrungen als Migranten gesammelt. Etliche sind nach Lateinamerika gegangen, nach Venezuela, Kuba oder Uruguay. Und wir haben immer Fremde bei uns aufgenommen. So sind wir aufgewachsen, ich selber auch. Aber jetzt gibt es etwas Neues: Die extreme Rechte in Spanien hat Rückenwind und in den Medien hat sie einen Lautsprecher für ihre Ideologie gefunden. Dazu kommen die sozialen Netzwerke, in denen oft Falschmeldungen unterwegs sind."
Auch auf den Kanaren seien viele Menschen empfänglich für Botschaften von populistischen Parteien, sagt Antonio. Vor allem diejenigen, denen es wegen der Pandemie wirtschaftlich schlecht gehe.
"Momentan haben etliche Einheimische keine Arbeit. Und da ist es nachvollziehbar, dass sie sagen: ‚Den Schwarzen und den Arabern helfen sie, aber mir nicht!‘ Aber das ist natürlich falsch."

Zentrale Einrichtungen liegen auf Teneriffa

Seit Kurzem schlägt auch Insel-Präsident von El Hierro härtere Töne an. Er hat der kanarischen und der spanischen Regierung ein Ultimatum gestellt: Diese sollen unverzüglich die Insel-eigenen Unterkünfte räumen. Und nach Monaten endlich selbst für ein funktionierendes Erstaufnahmezentrum für die Migranten sorgen. José Carlos Hernández, der Krisenmanager des spanischen Zentralstaats auf der Insel hat zunächst ein anderes Interesse: alle 247 derzeitigen Migranten möglichst schnell von hier wegzubringen nach Teneriffa.
"Heute verlassen 45 Migranten die Insel, morgen sind es 35. Sobald sie COVID-frei gesundgeschrieben sind, organisieren wir in wenigen Stunden ihre Abreise und die Unterkunft in Teneriffa. Das ist keine einfache Aufgabe. Unser erstes Ziel auf El Hierro ist seit dem ersten Tag, diese Personen würdevoll zu behandeln, und das zweite Ziel ist, sie so schnell wie möglich in die großen, für sie vorgesehenen Einrichtungen zu bringen – und die sind auf Teneriffa."
Eine Insel im Meer weit unten schaut unter einem Flugzeugflügel hervor.
Vorläufige Endstation für Migranten auf den Kanaren ist Teneriffa.© Oliver Neuroth, ARD-Studio Madid
Für die Fahrt nach Las Raíces braucht man gute Reifen. Das größte Quartier für Migranten auf den Kanarischen Inseln ist im Norden von Teneriffa entstanden, auf einem Militärgelände, versteckt in einem Waldstück. 2000 Menschen sollen hier Platz haben. Zu dem Camp führt nur ein holpriger Feldweg. Immer wieder fliegen Propellerflugzeuge dicht an dem Areal vorbei – es liegt nicht weit vom Flughafen Teneriffa Nord entfernt.
Ein massives Metalltor versperrt die Einfahrt. Das komplette Gelände ist mit Maschendrahtzaun umspannt. Dahinter stehen heruntergekommene Militärgebäude, die offenbar lange Zeit niemand mehr betreten hat. Fensterscheiben sind kaputt, Moos wuchert an den Wänden und auf den Dächern.
Daneben erstreckt sich eine Zeltstadt: Etliche schneeweiße Zelte stehen dicht an dicht, alles mit Stickern versehen, auf dem die EU-Flagge und das Logo der spanischen Regierung abgedruckt sind. Sie sind die Geldgeber.

"Wir teilen uns die Zelte mit vielen Leuten"

Hineingelassen werden Journalisten nicht. Aber durch den Maschendrahtzaun ist zu sehen, wie sich eines der Zelte öffnet. Dahinter: Stockbetten, eng aneinandergereiht, soweit das Auge reicht. Mindestens 15 Stück pro Zelt. Baba Sy lebt hier. Der junge Mann kommt aus dem Senegal. Er sagte dem kanarischen Fernsehen:
"Das Essen ist gut, damit gibt es keine Probleme. Aber die Kälte macht uns zu schaffen. Es ist eng, wir teilen uns die Zelte mit vielen Leuten."
Jede Menge aneinandergereihte weiße große Zelte mit nur wenig Platz dazwischen.
Camp Las Raíces VI im Norden von Teneriffa: Das größte Quartier für Migranten auf den Kanarischen Inseln.© Oliver Neuroth, ARD-Studio Madrid
Tatsächlich ist Teneriffas Norden deutlich kühler als der Süden, in dem die meisten Hotelanlagen stehen. In den vergangenen Wochen stürmte und regnete es stark, die Temperaturen sanken nachts auf null Grad.

Die Stimmung unter vielen Migranten ist angespannt

Aber die Stimmung unter vielen Migranten ist nicht nur wegen schlechten Wetters und Problemen in den Quartieren angespannt. Viele von ihnen befürchten, von den Kanaren nicht mehr wegzukommen. Die Inselgruppe sollte für sie eine Art Sprungbrett sein, der erste Schritt auf europäischen Boden, von dem es weitergeht aufs spanische Festland. Und von dort möchten etliche Migranten in andere Länder reisen. So wie Abd Ikrim El Quarachi.
"Italien, Frankreich oder Belgien – dort haben viele von uns Familie. In meinem Fall ist es Italien. Selbst wenn es dort keine Jobs gibt, dann arbeite ich eben bei einem Bauern auf dem Feld."
In einem Zelt stehen dicht beieinander Dutzende grüne Liegen.
Dicht an dicht liegen die Menschen in den Zelten im Camp Las Raíces VIII auf Teneriffa.© Oliver Neuroth, ARD-Studio Madrid
Doch die spanische Regierung hat schon vor Monaten klargestellt, dass sie nicht bereit ist, die Tausenden Afrikaner aufs Festland zu holen. Noch mehr: Die Behörden verhindern auch, dass Migranten auf eigene Faust die Inseln verlassen – mit selbst gekauften Flugtickets. Die Polizei an den Flughäfen der Kanaren hätte entsprechende Anweisungen, sagt Chema Santana von der Flüchtlingsorganisation CEAR.

"Eine Mauer zwischen Europa und den Kanaren"

Die Beamten hielten die Migranten sechs Stunden am Flughafen fest, die maximale erlaubte Zeit. Danach ließen sie sie frei – das Flugzeug ist dann längst gestartet und ihr Geld damit weg. Tom Smulders vom Hoteliersverband FEHT drückt es so aus:
"Jetzt gibt es eine Mauer zwischen Europa und den Kanarischen Inseln."
Juristen zweifeln, dass diese symbolische Mauer rechtmäßig ist. Zum Beispiel Richter Arcadio Diaz Tejera aus Las Palmas.
"Die Polizei agiert hier meiner Meinung nach ohne juristische Grundlage. Jeder, der einen negativen Corona-Test vorlegen kann, einen Pass und ein Flugticket, darf reisen. Doch was macht die Polizei?! Sie führt Ausreden an, wie: ‚Wir müssen ihre Identität kontrollieren, ob sie fliegen können oder nicht.` Dieses Prozedere strecken sie so lange, bis der Migrant seinen Flug verpasst hat."

Man darf die Kanarischen Inseln nicht allein lassen

Für den Richter ist klar: Europa muss beim Thema Migration zusammenarbeiten. Es könne nicht sein, dass die Kanarischen Inseln allein gelassen würden. Die EU vergesse gerade, dass sie die Union der Integration sei, so der Jurist. Stattdessen verwandele sie die Kanaren in einen Käfig.


Die Tür dieses Käfigs fiel Ende vergangenen Jahres zu. Vorher gelang etlichen Migranten noch die Weiterreise aufs Festland. Wer einen Ausweis und etwas Geld hatte, war sofort weg, sagt Flüchtlingshelfer Chema. So gut wie niemand habe ernsthaft auf den Kanaren bleiben wollen.
Fünf junge Schwarzafrikaner stehen mit dem Rücken zur Kamera an der Küste und schauen ins Meer.
Angekommen und auch willkommen? – Migranten in Puerto de la Cruz, Teneriffa. © Oliver Neuroth, ARD-Studio Madrid
"Die meisten haben mit Ausweis und gekauftem Ticket gleich das nächste Flugzeug bestiegen, ein paar auch das Schiff. Vor allem zwischen September und Dezember. Etwa die Hälfte der Migranten ist auf diese Weise weitergereist."

Spanien will die Migranten abschieben

Schätzungsweise 10.000 der rund 23.000 Afrikaner, die im Laufe des vergangenen Jahres auf den Kanaren angekommen sind. Nun geht unter den Verbliebenen die Angst um, dass sie nicht einmal auf Gran Canaria und Co. bleiben können. Die spanische Regierung hat angekündigt, Migranten abzuschieben, die nicht aus Kriegsgebieten kommen.
Das dürfte vor allem für Menschen aus Nordafrika gelten. Aber Spanien will auch Senegalesen zurückschicken, beide Länder haben schon ein Abkommen unterzeichnet. Die ersten Abschiebungen sollen unmittelbar bevorstehen. Migranten aus dem Senegal sind vor allem in Los Raíces auf Teneriffa untergebracht.

Auf der Flucht vor Abschiebung leben viele auf der Straße

Flüchtlingshelfer sagen, viele hätten das Camp schon auf eigene Faust verlassen. Nach dem Motto: "Sich lieber selbst durchschlagen als zurück in die afrikanische Heimat." Der Begriff des "Abschiebelagers" Los Raíces macht die Runde. Wer als Migrant freiwillig aus einem der staatlichen Quartiere auszieht, darf nicht wieder zurückkehren. Die Konsequenz: Etliche von ihnen leben nun auf der Straße. Sozialarbeiter Antonio Santana berichtet von etwa 300 bis 400 Afrikanern allein auf Gran Canaria, die kein Dach über dem Kopf haben.
Das kanarische Fernsehen zeigt Migranten auf der Insel, die in einem Gebüsch schlafen. Seit drei Wochen schon, sagt einer der jungen Männer. Der Traum von Europa, einem halbwegs stabilen Leben: Für viele Afrikaner auf den Kanaren scheint er gerade zu zerplatzen.
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