Mikhal Dekel: "Die Kinder von Teheran. Eine lange Flucht vor dem Holocaust"
Mit einem Nachwort für die deutsche Ausgabe von Aleida Assmann
Aus dem Englischen von Tobias Gabel
wbg Theiss, Stuttgart 2021
464 Seiten, 28 Euro
Die vergessenen Holocaust-Überlebenden
17:47 Minuten
Während des Zweiten Weltkrieges mussten tausende jüdische Polen die Flucht antreten. Rund 870 Kinder fanden den Weg nach Palästina über einen unwahrscheinlichen Ort: Teheran. Ihre Geschichte war lange vergessen. Bis jetzt.
Mikhal Dekel wurde in Haifa geboren, nach ihrem Militärdienst und einem Jura-Abschluss ging sie nach New York, wo sie heute vergleichende Literaturwissenschaft am City College lehrt. Dort stieß die Israelin auf die unfassbare Geschichte von polnisch-jüdischen Flüchtlingen, die nach einer wahren Odyssee im Iran landeten. Ihr eigener Vater gehörte dazu.
Nach über zehn Jahren Recherche erschien nun ihr Buch "Die Kinder von Teheran: Eine lange Flucht vor dem Holocaust", in der sie die Geschichte der Geflüchteten erzählt.
Dekel sagt, dass die Verbindung zum Iran damals nicht so unwahrscheinlich war, wie sie heute klingt. Der Iran habe starke Verbindungen zu Deutschland gehabt, deutsche Ingenieure hätten den Iran modernisiert und auch noch dort gearbeitet, als Hitler die Macht ergriff. Das Land sei bemüht gewesen, politisch neutral zu bleiben. Doch ab Mitte 1941 hätten dann anglo-sowjetische Mächte angefangen, den Iran zu kontrollieren.
Ab diesem Zeitpunkt hätten vor allem christliche Polen die Gelegenheit genutzt, um nach Teheran zu gehen, so Dekel. Doch es sei auch jüdischen Kindern – ohne Eltern – erlaubt gewesen, in die iranische Hauptstadt zu fliehen. Die Eltern seien dann vor allem in Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan geblieben, während die Kinder in Flüchtlingslagern außerhalb von Teheran gelandet seien.
Das volle Ausmaß wird vielen erst jetzt bewusst
Der Weg von Polen nach Palästina, das Ziel der Flüchtlinge, wurde zu Fuß zurückgelegt. Das habe sie sehr beeindruckt, sagt Dekel: "Als ich das Buch geschrieben habe, war mein Sohn ungefähr acht Jahre alt und dem fiel schon schwer, nur einen halben Block in New York zu laufen, bevor er gesagt hat: 'Lass uns mal bitte U-Bahn fahren'."
Doch so beeindruckend die Geschichte der Kinder von Teheran ist: In offiziellen Geschichtsschreibungen sei diese kaum aufgetaucht, schildert die Professorin für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft.
Zum einen sei es sehr schwierig gewesen, zu dem Thema zu recherchieren, da die Archive der Sowjetunion auch nach ihrem Zerfall nicht offen zugänglich gewesen seien. Erst jetzt beginne sich das langsam zu ändern und man bekomme mehr Information. Auch das Holocaust-Museum in Washington sammle jetzt Dokumente zu den Überlebenden.
Zum anderen, so Dekel, würden sich die Geflüchteten auch nicht als Holocaust-Überlebende definieren: "Das habe ich festgestellt, als ich Vorträge gehalten habe, dass Leute aufstehen und sagen: 'Ja, ich war auch als Kind in Kasachstan, aber ich habe mich nie als Überlebende gesehen'."
Keine offizielle Anerkennung
Auch offiziell seien die Kinder von Teheran nie als Holocaust-Opfer anerkannt worden, sodass diese Menschen eben auch von Deutschland keine Entschädigungen bekommen hätten.
Die Recherchen Dekels führten dazu, dass viele Überlebende erst jetzt das Ausmaß der Fluchtbewegung nach Teheran verstünden: "Weil ich jetzt angefangen habe, diese Geschichte zu erzählen, fällt es auch anderen leichter, darüber zu sprechen. Ich habe zum Beispiel von einer Frau gehört, deren Großmutter in Usbekistan war und dort überlebt hat. Aber sie dachte immer ihre Großmutter sei die einzige gewesen. Dass das so viele betrifft, glaubt man nicht, wenn man nur die Geschichte einer Person hört. Und das kann sich jetzt ändern."
(hte)