Mikhal Dekel: Die Kinder von Teheran. Eine lange Flucht vor dem Holocaust
Mit einem Nachwort für die deutsche Ausgabe von Aleida Assmann
Aus dem Englischen von Tobias Gabel
wbg Theiss, Stuttgart 2021
464 Seiten, 28 Euro
Familien- und Fluchtgeschichte
06:17 Minuten
Die Literaturwissenschaftlerin Mikhal Dekel erzählt in „Die Kinder von Teheran“ die Geschichte ihres Vaters. Er floh in den 1940er-Jahren aus Polen nach Palästina. Bei ihrer Spurensuche taucht Dekel in eine kaum bekannte Geschichte ein.
Wir kennen die ikonischen Fotos: deutsche Soldaten, die einen alten Juden am Bart ziehen, ein Kind mit erhobenen Händen im Warschauer Getto, die Überlebenden der Konzentrationslager nach ihrer Befreiung. Die Schoah ist vielfach dokumentiert, auch literarische Zeugnisse der Deportationen und Verhältnisse in den Lagern sind zahlreich. Was es dagegen kaum gibt, sind Bilder der Flucht.
Flucht als Existenzform
Die Flucht als Bewegung und Existenzform steht im Mittelpunkt des ungemein beeindruckenden und hervorragend geschriebenen Buches von Mikhal Dekel. Historische Fakten, akribische Recherchen und subjektive Erlebnisse führt sie auf zwei Erzählebenen zusammen: der Entstehung des Buches und der rekonstruierten Geschichte ihres Vaters.
Eher zufällig stieß die in Israel geborene und in den USA lebende Literaturwissenschaftlerin auf ihr Thema. In New York unterhält sie sich mit einem aus dem Iran stammenden Kollegen. Beiläufig erwähnt sie, dass ihr Vater als Kind in Teheran gewesen sei und von dort ins damalige Palästina gelangt war. Dort, so das israelische und das Familiennarrativ, habe seine Geschichte begonnen.
Erst als er auf dem Totenbett plötzlich Polnisch spricht, begreift Dekel, wie wenig sie über die Geschichte ihres Vaters und die Umstände vor seiner Ankunft im damaligen britischen Mandatsgebiet weiß. Für sie war er immer einfach ein fleißiger, zurückhaltender Mann, der bei der israelischen Luftwaffe diente.
20.000 Kilometer bis Palästina
Dekels iranischer Kollege erzählt etwas über die "Kinder von Teheran" und sie wird neugierig. Sie liest, recherchiert und beschließt, ein Buch über diese Gruppe zu schreiben, denn ihr Vater war eines dieser 900 Kinder, und die wiederum ein kleiner Teil jener Viertelmillion Polen, die damals auf der Flucht vor KZ und Gulag waren.
Von einer Kleinstadt nahe Warschau aus, in der seine Familie seit acht Generationen gelebt hatte, legte Dekels Vater Hannan 20.000 Kilometer zurück, bevor er 1943 in Palästina ankam. Die Autorin reist an viele der Orte, die er während seiner Odyssee kennengelernt oder besser, die er erlitten hat. Zuerst in den östlichen Teil Polens, dann nach Archangelsk, dann nach Sibirien, wo er und seine Eltern in einer "Sondersiedlung" als Arbeitssklaven vegetierten.
Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wurden die von den Sowjets dorthin deportierten Polen ohne Mittel auf den Weg nach Taschkent und Samarkand geschickt, wo exilpolnische und jüdische Hilfsorganisationen ein Minimum an Überlebenshilfe versprachen. Dort wird Mikhal Dekels Vater von seinen Eltern getrennt, um mit Soldaten der polnischen Heimatarmee nach Teheran zu reisen.
Verwebte Erzählstränge
Die Autorin erzählt mehrere Geschichten auf einmal. Auch vom polnischen Nationalismus gestern und heute, auch von der Geschichte der Juden im Iran und Zentralasien, vom israelischen Narrativ und vom Selbstverständnis der "2. Generation". Dekel benennt eigene Gefühle beim Schreiben, wertet historische Quellen und Interviews aus, gibt die Gespräche mit Zeitzeugen und Menschen wieder, die ihr im Zuge ihrer Recherchereisen begegnen. Die einzelnen Erzählstränge fließen organisch ineinander, sodass ein über die Familiengeschichte hinausgehendes Epos entsteht, vielstimmig, farbig und intensiv.
Mit ihrem Buch erhellt sie eine unterbelichtete Stelle in der Holocaustforschung. "Die Kinder von Teheran" überführt die Vergangenheit in die Gegenwart, erkundet Fragen um nationale Identität, ist beeindruckend fundiert, anschaulich und gefühlvoll geschrieben. Mehr als ein Sachbuch und nicht weniger als Sonderklasse.