Miklós Szentkuthy: "Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus"
Aus dem Ungarischen von Timea Tanko
Mit einem Nachwort von György Dalos
Andere Bibliothek, Berlin 2020
312 Seiten, 44 Euro
Ein selbstironisches Eigenporträt
06:05 Minuten
Festhalten! "Apropos Casanova" ist ein Sturzbach an Themen, Argumenten, Bildungsfrüchten, Zitaten. Die besten hat der ungeheuer eloquente Miklós Szentkuthy eigens erfunden. Der Ungar kommentiert alles beim Venezianer. Selbst das Wort "Pantoffel".
Was für ein Sturzbachgewitter! Was für ein gewaltiges Hin- und Herfluten von Themen, Argumenten, Überlegungen eines ungemein eloquenten, ungemein gebildeten Geistes, der wie ein Solitär in das 20. Jahrhundert hineinragt und sich vor dem 18. verneigt! Der Ungar Miklós Szentkuthy kommentiert in "Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus" aus dem Jahr 1939 den ersten Band von Giacomo Casanovas "Geschichte meines Lebens" in 123 Kurz- und Kürzestessays.
Nicht Satz für Satz oder Seite für Seite, dafür aber manchmal Wort für Wort, sofern er an ihnen "einfach nicht wortlos vorbeigehen kann". Und Szentkuthy kann an gar nichts wortlos vorbeigehen, auch nicht an "Pantoffel" oder "Tod". Sein Vorbild, meint György Dalos im Nachwort, könnte die minutiöse Exegese des Römerbriefs von Paulus durch den Theologen Karl Barth gewesen sein.
Erstaunliche Schlussfolgerungen
Der Venezianer erreiche das Glück, so Szentkuthy, indem er sich nicht instinktiv, sondern mit "einer bis aufs Äußerste zugespitzten intellektuellen Erregung" hingebe. Das ist natürlich eine höchst steile These, und es bleibt nicht die einzige. Denn Szentkuthys Kommentar, für den die Kenntnis von Casanovas "Geschichte meines Lebens" nicht nötig ist, ja: hinderlich sein könnte, ist ein – sagen wir: breiter Fluss.
Er schwemmt allerlei mit sich, auch Bekanntes aus den 30er-Jahren wie die Kritik an Lauheit und Heuchelei der Gegenwart. Allerdings sollte man keinem Begriff, keinem Beweis im "Brevier" trauen. Szentkuthys quicke Eloquenz führt sie nur vor, um zu blendenden, meist erstaunlichen Schlussfolgerungen zu gelangen. Der Mann ist Geist, die Frau Fleisch? Nein, Casanova, der "eingefleischte Rationalist", ist ein Mann der trockenen Knochen und die Frau vielerlei, manchmal gar – ein Mann.
Um originell zu sein, scheut Szentkuthy keinen Fettnapf: Frauen, schreibt er, müssten wie "sehr schöne Blumen und sehr schöne Bücher" behandelt werden. In der Liebe müsse immer einer dienen, der andere herrschen, weshalb es "großartig (ist), dass es im 18. Jahrhundert noch Sklavinnen gibt": "Wenn die Dienerin schon der Himmel ist, so muss die Sklavin doch der siebte Himmel sein."
Selbstironisches Eigenporträt
31 Jahre alt war der Lehrer, als sein "Brevier" 1939 dank der vermögenden Ehefrau erschien. Davor hatte er bereits einen 1200-seitigen Essayroman vorgelegt, der die Kritiker an Proust und Joyce denken ließ. Der "Heilige Orpheus" wurde vom präfaschistischen Horthy-Regime wegen Obszönität zensiert und konnte erst 1973 wieder veröffentlicht werden, gefolgt von dann gleich neun Bänden, denen Szentkuthy nun jeweils die Vita eines Heiligen voranstellte.
Die Hagiographie im "Apropos Casanova" ist ein selbstironisches Eigenporträt: "Das Formulieren ging (dem Heiligen Alfonso) leicht von der Hand, doch korrigierte er nichts, gar nichts, Gedanke und Gefühl rieselten nur so aus ihm heraus, mal in einfachem Stil, mal in barockem, wie unaufhörlicher Schnee, doch hinter seiner Stilsicherheit wüteten Leidenschaft, Kummer und Freude in Bezug auf das Schicksal Gottes …" – und so perlt es weiter, außerordentlich gut lesbar dank der Übersetzerin Timea Tanko, die Wendungen findet wie "Tüddelkram der Moral", "zahncremefrisch", "geistige Versackgassung", "ethosschleimig".
Anachronistisches Unternehmen
Szentkuthy schrieb bis zu seinem Tod 1988 noch ein etwa 100.000 Seiten umfassendes Tagebuch sowie Biografien zu Goethe, Händel, Haydn, Mozart, Dürer, Brunelleschi, Luther und einigen anderen. Er liebte das klingende Argument mehr als das stringente: In der Mitte von "Apropos Casanova" argumentiert er begeistert mit Tintoretto und Ariost gegen Casanova – um diesen dann wieder zu feiern.
Er erfindet Zitate und dichtet einer venezianischen Kirche gleich fünf Kuppeln an. Eine elementare Freude am Maskenspiel, ein ungeheures Stilbewusstsein, eine mondäne Bildung machen den Reiz dieses bereits zu seiner Zeit anachronistischen Unternehmens aus.