Milben im Gesicht, Amöben im Mund

Jörg Blech im Gespräch mit Katrin Heise |
Der Mensch "ist ein großer Organismus, auf dem ziemlich viele kleine Organismen leben", sagt Jörg Blech, Biologe, Journalist und Autor des Buches "Das Leben auf dem Menschen".
Katrin Heise: Allein auf der Hautoberfläche eines jeden Einzelnen von uns leben so viele Mikroben wie Menschen auf unserem ganzen Planeten. Und auch wenn es jetzt bei Ihnen bei diesem Gedanken zu jucken beginnt, fangen Sie nicht an, sich hektisch die Hände zu desinfizieren – wir brauchen dieses Leben auf und in uns, nämlich um zu überleben. 90 Prozent aller Zellen im Körper sind Bakterien, Einsiedler, andere Besiedler, wir sind also quasi mehr Mikrobe als Mensch. Und erforscht hat dieses Leben auf und in uns, das ist auch ganz lange noch nicht passiert, das ganze Leben zu erforschen, aber zusammengetragen das Wissen, was wir bereits haben, das hat der Biologe, Journalist und Buchautor Jörg Blech und wird uns jetzt an seinem Wissen teilhaben lassen. Schönen guten Tag, Herr Blech!

Jörg Blech: Ja guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Geben Sie uns mal einen knappen Überblick, einen knappen Überblick, was lebt da so in und auf uns?

Blech: Ja so wie Sie jetzt zum Beispiel da sitzen, Sie sind besiedelt, wenn ich ein Stück näher komme, könnte ich bei Ihnen entdecken die Haarbalgmilbe, Demodex folliculorum, die lebt bei Ihnen im Gesicht, im Mund dürften Sie eine Amöbe haben, Entamoeba gingivalis, und so geht das immer weiter. Der menschliche Körper ist ein Biotop, da gibt es Egel, Fliegen, Flöhe, Läuse, Mücken, Pilze, einzellige Parasiten, Viren, Wanzen, Würmer, Zecken und vor allen Dingen Bakterien. Die unsichtbaren Besiedler sind auf Ihrer Haut, aber auch in Ihren inneren Häuten, sprich in Ihrem Mund und in Ihrem Darm.

Heise: Also ich kann mich dessen nicht erwehren, es ekelt mich, wenn ich das höre.

Jörg Blech: Das ist eine ganz natürliche Art und Weise, wie man auf die Welt kommt. Sie können gar nichts damit machen, das ist vielleicht … Vielleicht ist Ihnen das ein bisschen unheimlich, Sie haben gedacht, Sie seien ein Einzelwesen …

Heise: Das mit diesen Milben im Gesicht und so weiter?

Blech: Ja, Sie sind, Sie haben immer gedacht, Sie sind ein Einzelwesen – was für ein Trugschluss! Und vielleicht haben Sie ein Problem damit, dass Sie in Wahrheit womöglich ferngesteuert sind. Tatsache ist, wenn ein Außerirdischer auf die Welt käme, er würde Sie sehen, dann würde er nicht sagen, mensch da ist ein Mensch! Er würde sagen, da ist ein großer Organismus, auf dem ziemlich viele kleine Organismen leben. Ein wandelndes Biotop.

Heise: Ein Gewimmel sozusagen. Wie tief sind die, weil Sie gerade jetzt von Fernsteuerung sogar sprechen, wie tief sind die in uns eingedrungen? Also das heißt, sind die auch schon im Erbgut, diese ganzen Bakterien?

Jörg Blech: Ja. Das menschliche Erbgut, das ist herausgekommen bei der Sequenzierung, besteht zu einem Großteil aus Erbgutstücken, die ursprünglich von Bakterien und von Viren gekommen sind. Also wirklich bis auf Ebene unserer Zellkerne sind wir besiedelt. Das erklärt aber eben auch etwas über unsere Herkunft: Der Mensch war noch nie ein Einzelwesen, er ist in der Evolution entstanden immer in der Interaktion mit der Umwelt, mit der belebten Umwelt. Und heute können wir nur existieren, weil wir besiedelt sind. Die Ärzte reden ja immer zu Recht von den Krankheitskeimen – es gibt Krankheitskeime, natürlich, keine Frage –, es sind aber letztendlich nur 50 bis 100 Keime, die man als böse Keime, die man als Krankheit bezeichn…, Krankheitserreger bezeichnen kann. Die große Vielfalt, die große Mehrheit der Besiedler, die lebt auch an guten Tagen auf und an Tagen, an denen wir gesund sind. Das sind unsere treuen Besiedler, die uns helfen.

Heise: Inwiefern, was machen die? Was haben die für Aufgaben?

Blech: Wenn wir die Bakterien anschauen, wir haben zwei Kilogramm Bakterien im Körper, also schwerer als das Gehirn, und diese Bakterien entfalten eine biochemische Aktivität, die ungefähr so groß ist wie die Aktivität der Leber. Wir haben also ein zusätzliches Organ und die Bakterien helfen uns. Sie trainieren unser Immunsystem, sie siedeln auf uns und vermeiden dadurch, dass noch schlimmere, dass schlimme Keime auf uns leben können, sie spalten für uns Nährstoffe, die wir dann gleich mit unseren Darmzellen verstoffwechseln, und sie schenken uns auch den Geruch. Weil wir produzieren zwar am Tag ziemlich viel Talg und andere Absonderungen, die sind aber alle geruchlos. Und erst durch die Bakterien, die auf unserer Haut leben, werden diese Stoffe umgewandelt in flüchtige Stoffe, und dann kommt eben der Pesthauch zustande, aber eben auch der erotische Duft, der für das menschliche soziale Miteinander extrem wichtig ist.

Heise: Da haben wir es wieder, diese zwei Seiten des Ganzen. Was ist, wenn wir diese Bakterien nicht haben, was wäre dann?

Jörg Blech: Also das ist ja von der Natur gar nicht vorgesehen. Nur im Mutterleib leben wir steril und sobald wir auf die Welt kommen, werden wir schon besiedelt, meistens von den Bakterien der Mutter, das ist der normale Gang. Dann, sobald wir gestillt werden, nehmen wir auch die Bakterien der Mutter auf, bestimmte Milchbakterien, und das ist so die Grundausstattung, um normal groß zu werden. Man hat im Labor Tiere gezogen, gezüchtet, unter sterilen Bedingungen. Das sind, machen die sogenannten Gnotobiologen, und da sieht man diese Tiere: Wenn die keinen Kontakt haben mit der Umwelt, das heißt, die waren in einer sterilen Kammer, die haben Essen bekommen, Nahrung bekommen, die sterilisiert war, und diese Tiere können nicht richtig gedeihen. Also das keimfreie Tier ist eine elende Kreatur, man braucht die Interaktion mit der besiedelten Umwelt, damit der Körper sich optimal entfalten kann.

Heise: Unser Thema im Deutschlandradio Kultur, das Leben auf dem Menschen. Mit Jörg Blech, dem Autor des gleichnamigen Buches, spreche ich über die Mikroorganismen in und um uns. Ist eigentlich ein Bakterium, Herr Blech, entweder gut oder böse?

Blech: Die sind also meistens, es gibt halt ein paar Krankheitskeime, die neigen auch dazu, böse zu sein, und die Bakterien auf uns sind gut. Es hängt aber auch von unserem Immunsystem ab. Das Immunsystem sorgt dafür, dass die Bakterien sich an gewisse Spielregeln halten und umgekehrt sind die Bakterien unsere Symbionten, sie helfen uns auch und schaden uns auch nicht zu sehr. Das heißt, der Zustand, den wir Gesundheit nennen, der ergibt sich aus der Balance aus unserem großen Körper und den vielen kleinen Körpern, die auf uns leben. Allerdings im hohen Alter, also wenn man an einem natürlichen Tod stirbt, dann ist es so, dass die Bakterien wie auf ein geheimes Signal erkennen, dass der Mensch stirbt, und dann kennt auch ihr Wachstum keine Grenze mehr. Und dann durchbrechen sie auch Körperbakterien. Aber man nicht sagen, dass das schlechte Bakterien sind, das Leben geht eben wirklich weiter, die Bakterien leben weiter und die Kreisläufe in der Natur gehen immer weiter.

Heise: Sie haben vorhin, als ich gesagt habe, irgendwie ekelt es mich dann ja doch, wenn ich das alles so höre, also es ist so ein leichter Schauer eben einfach, der einen da überkommt – wie ist eigentlich, wie unterschiedlich ist eigentlich der Umgang mit diesen Mitbewohnern in den unterschiedlichen Kulturen?

Jörg Blech: Interessant ist, dass es mehr, also in der westlichen Kultur zum Beispiel mehr an den Besiedlern selber liegt, zum Beispiel die Läuse und die Flöhe wollen beide unser Blut. Die Laus hat einen denkbar schlechten Ruf, das liegt daran, dass sie 90 Prozent ihres Lebens auf unserem Körper verbringt, es kratzt und es juckt uns und wir sehen die Viecher und sie sind natürlich ein Signal für schlechte Lebensumstände. Umgekehrt der Floh, der möchte auch unser Blut, er verbringt aber nur ungefähr zehn Prozent seines Lebens auf uns und der hat einen sehr guten Ruf. Knigge hat schon gesagt, es ist nichts dabei, einen Floh bei sich zu führen, aber eine Laus sollte man nicht haben. Also da gibt es wirklich interessante Beispiele, wie die Besiedler auch unsere Kulturgeschichte geprägt haben.

Heise: Wenn wir jetzt mal das alles so zusammenfassen – ich meine, ich habe am Anfang gesagt, wir können noch gar nicht so wahnsinnig viel zusammenfassen, weil vieles weiß man auch noch gar nicht. Seit wann erforscht man eigentlich dieses Leben in und auf uns?

Blech: Ja es gibt eine spannende Sache gerade, was die Bakterien angeht: Bis vor wenigen Jahren war es so, um die Bakterien auf der Haut zum Beispiel erforschen zu können, hat man einen Abklatsch gemacht, das heißt, man hat eine Kulturplatte an die Haut gedrückt und diese Kulturplatte ins Labor mitgenommen und abgewartet, was für Bakterien wachsen da. Dann haben sich nach einer gewissen Zeit kleine Kolonien gebildet von Bakterien und die konnte man dann untersuchen. Der Punkt ist nur, von diesem Abklatsch, bei einem Abklatsch wachsen vielleicht nur zehn Prozent der Bakterien in der Kulturschale, die anderen wachsen erst gar nicht. Und die sind den Forschern bisher durch die Lappen gegangen. Das ändert sich jetzt ganz grundsätzlich: Zum ersten Mal kann man einfach zum Beispiel ein Stück Haut abschaben und dann rein anhand des Erbguts erkennen, welches Erbgut gehört zum Menschen, welches Erbgut gehört zu den Bakterien, und dann kann man anhand der Sequenz oder der Abfolge des Erbguts erkennen, zu welchen Arten von Bakterien das jeweilige Stück Erbgut gehört. Und am Computer kann man sich dann diese verschiedenen Genome, das heißt das komplette Erbgut jeweils zusammenpuzzeln und das ist eine fantastische Möglichkeit, die man gerade ausnutzt. Man weiß über die vielen Besiedler derzeit noch wenig und derzeit hat man die Möglichkeit, dieses Terra incognita zu erforschen, und man macht Untersuchungen und sieht dann, aha, wir haben jetzt mal zum Beispiel im Darm nachgeschaut und wir haben wieder ein paar Hundert völlig neue Bakterienarten entdeckt, die wir noch gar nicht kannten. Und das ist das sogenannte Humane Mikrobiomprojekt, eine ganz spannende Forschung, die jetzt erst richtig losgeht.

Heise: Würden Sie dann sagen, da ändert sich auch das Verhalten dann, oder das Verhältnis zu diesen Besiedlern, also indem man viel mehr über sie erfährt, indem man überhaupt mal ihre Mängel langsam abzugrenzen weiß?

Jörg Blech: Auf jeden Fall. Ich denke, die Abneigung gegen die Bakterien ist natürlich historisch bedingt, weil früher waren Bakterien und Erreger immer mit schlechten Lebensbedingungen assoziiert und haben Krankheiten überbracht. Das war das, was wir wussten über die 50 bis 100 bösen Keime. Jetzt sehen wir aber, wir lernen, es gibt da Abertausende von guten Keimen, und die Auseinandersetzung mit diesen Keimen ändert natürlich auch unser Weltbild. Wie gesagt, wir sind keine Einzelorganismen, wir sind besiedelt, wir sind wandelnde Ökosysteme und wir können froh sein, dass es Tierchen gibt, die uns nahestehen, weil die uns helfen zu überleben.

Heise: Kann man die sogar zur Heilung einsetzen?

Blech: Das ist ganz interessant, ja. Also es gibt da erste Versuche: Wenn man jetzt zum Beispiel dicke Menschen sieht oder dünne Menschen, dann ergibt die Forschung, dass man unterschiedliche Sorten von Bakterien im Körper findet. Man versucht jetzt, zum Beispiel herauszufinden, was passiert, wenn ich die Darmbakterien eines dünnen Menschen auf einen dicken Menschen übertrage, wird der dann auch dünn? Das ist so eine Fragestellung. Sie hatten nach Krankheiten gefragt – es gibt auch eine Menge von Krankheiten, bei denen der Darm auf eine ganz komische Art entzündet ist, man kann sich das noch nicht richtig erklären, warum das so ist. Auch hier ist die Überlegung, dass man vielleicht einfach hingeht und von gesunden Menschen die Darmbakterien verpflanzt auf darmkranke Menschen in der Hoffnung, dass man diese Menschen heilen kann.

Heise: Also wehren Sie sich nicht länger gegen irgendwelche Bakterien in und auf Ihnen, sondern interessiert Sie sich für sie! Vielen Dank für diese Information über unsere unsichtbaren Besiedler, vielen Dank, Jörg Blech, für diesen genauen Blick und Ihr Buch "Leben auf dem Menschen" ist übrigens erschienen bei rororo. Herr Blech, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!