Milch

Streit um das weiße Gesöff

Ein Kind trinkt am 10.1.2006 in Düsseldorf ein Glas Milch.
Ein Kind trinkt ein Glas Milch. © picture-alliance / dpa / MArtin Gerten
Von Udo Pollmer |
Milch und Milchprodukte in großen Mengen: Ob das gesund ist, bleibt trotz vieler Studien eine Streitfrage. Der Ärger fängt meist schon in Kindertagen mit dem Ekel vor der Milchhaut an – und der ist angeboren, weiß unser Lebensmittelchemiker.
Eine tapfere Autorin fasste sich auf der Website von Zeit-Online ein Herz und lederte ab: Die Milch, die sie in ihrer Kindheit trinken sollte, "schmeckte als hätte ich Scheiße gefressen". Und sie klagt an: "Systematisch werden Kinder damit vollgepumpt. Dabei schmeckt das weiße Zeug schlimm".
Der Anlass ihres offenbar dramatischen Problems ist schnell identifiziert: Die Milchhaut, die entsteht, wenn Milch gekocht wird. Die allermeisten Kinder ekelt es davor, was hartleibige Erziehungsberechtigte nicht davon abhält, den Konsum einzufordern.

Angeborener Ekel vor Schwefel

Doch das funktioniert nicht, denn der Ekel vor der Milchhaut ist angeboren. Dieser Haut entströmt nämlich ein schwefelhaltiger Duftstoff, den Kinder instinktiv ablehnen, weil dieser evolutionär ein Hinweis auf giftige Dämpfe ist. Der Erwachsene kann diesen Ekel überwinden, so wie er sich auch an bittere Getränke wie Kaffee gewöhnen kann.
Zwingt man Kinder die Milch mitsamt der Haut zu konsumieren, wird ihnen das Nahrungsmittel verleidet, oft für ihr ganzes Leben. Also das typische Ergebnis aller Versuche, Kindern Essen aufzunötigen, das ihnen widersteht. Andere wiederum verbieten Kindern die Milch, die diese gerne trinken würden.

Warnung vor gefährlichen Nanopartikeln

Sie können sich dabei auf einen Hautarzt in Gütersloh berufen: "Milch ist grundsätzlich gefährlich" erklärte Bodo Melnik gegenüber der Presse. Denn sie enthält "genmanipulierende und krebsfördernde Moleküle" – noch dazu in Form von "Nanopartikeln".
Melnik meint damit winzig kleine Botenstoffe, die Gene an- und abschalten, Mikro-RNA genannt. Diese sind in allen Tieren und Pflanzen enthalten – und damit auch in fast jeder Nahrung. Damit müssen alle Lebewesen seit Jahrmillionen zurechtkommen. In der Milch fällt der Mikro-RNA auch die Aufgabe zu, den Stoffwechsel des Säuglings bzw. des Kälbchens zu regulieren.

Abschaltung der natürlichen Sättigung

Melnik sieht darin eine Gefahr: Diese Botenstoffe der Milch würden nicht nur beim Säugling für das nötige Wachstum sorgen, sondern bereits bei Kleinkindern auch die Fettzellen "künstlich" zum Wachstum anregen und die natürliche Sättigung "praktisch abschalten". Die Folge von einem Glas frischer Milch seien ungezügelter Appetit und auf Dauer Fettleibigkeit. Nach Melnik sei nur H-Milch, also ultrahocherhitzte Milch unbedenklich, da dabei die Mikro-RNA ihre schützende Hülle verlieren würde.
Zwei beleibte Frauen sitzen am Strand von British Columbia.
Besteht ein Zusammenhang zwischen Milchkonsum und starkem Übergewicht?© imago/Enters
Wenn der Hautarzt erklärt, frische Milch sei zudem eine wichtige Ursache von Krebs, Demenz, Herzinfarkt und Diabetes, können jene Völker das Gegenteil bezeugen, die aufgrund klimatischer Gegebenheiten sich reichlich von Milch ernähren, weil ihre Heimat gute Weidegründe bietet. So die afrikanischen Massai – ein Hirtenvolk, deren junge Männer täglich bis zu sieben Liter frische Milch tranken.
Nun schließen daraus andere Mediziner, dass nur der Konsum von Rohmilch der Garant sei für schlanke, kräftige und kerngesunde Menschen, frei von Herzinfarkt und anderen Altersleiden. Durch die bei uns übliche Erhitzung der Milch würde alles Wertvolle zerstört. Daher kämen unsere Zivilisationskrankheiten.
Schon kommt die nächste ärztliche Theorie um die Ecke gewankt – gespickt mit biochemischen Kaskaden, die zeigen sollen, dass Milch, oder besser gesagt die falsche Milch dick macht und zu den üblichen Zivilisationskrankheiten führt. Ein holländisch-deutsches Team will soeben herausgefunden haben, dass Bio-Milch und Bio-Milchprodukte dick machen. Denn diese verändern die Darmflora, dadurch siedeln sich ungewöhnliche Mikroorganismen im Darm an namens Archaeen, auch Urbakterien genannt.

Urbakterien im Bauch

Weil diese Urbakterien im Bauch das Klimagas Methan bilden können, würden die Kinder – so die Spekulation – durch den dadurch entstehenden Mangel an Wasserstoffgas dick. Denn dieser Mangel begünstige die nächste Gruppe "falscher" Bakterien im Darm. Das mag glauben wer will.
Nun haben die meisten Studien gezeigt, dass Menschen, die handelsübliche Vollmilch trinken, im Durchschnitt schlanker sind als solche, die Milch meiden oder bewusst Magerprodukte kaufen. Ob das Milchfett nun bio ist oder nicht, ist so belanglos wie die Mikro-RNA. Mahlzeit!

Literatur
De Velasco S: Das heilige Gesöff. Zeit-Online, Rubrik Kultur, 27. September 2017
Kienscherf S: "Kuhmiilch ist kein Nahrungsmittel für den Menschen!" Interview mit B. Melnik Osnabrücker Zeitung 1. Juni 2015
Messmann W: Hat Milch eine krebsfördernde Wirkung? Osnabrücker Zeitung 11. September 2017
Melnik BC et al: Milk is not just food but most likely a genetic transfection system activating mTORC1 signaling for postnatal growth. Melnik et al. Nutrition Journal 2013; 12: e103
Melnik: Milk – a nutrient system of mammalian evolution promoting mTORC1-dependent translation. Molecular Sciences 2015; 16: 17048-17087
Van de Pol JAA et al: Gut colonization by methanogenic Archaea is associated with organic dairy consumption in children. Frontiers in Microbiology 2017; 8: e355
Barrea L et al: Influence of nutrition on somatotropic axis: Milk consumption in adult individuals with moderate-severe obesity. Clinical Nutrition 2017; 36: 293-301
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