Militärisches Debakel
Napoleons Feldzug in Russland galt als eines der größten militärischen Desaster. Der Historiker Adam Zamoyski stellt in seinem Werk den Feldzug dar, zeigt die Folgen der humanen Katastrophe auf und wertet zahlreiche Augenzeugenberichte aus.
"Kein anderer Heerzug wurde so unverhohlen für politische Zwecke vereinnahmt", schreibt Adam Zamoyski einleitend in "1812", seinem grandiosen Epos über Napoleons Russlandfeldzug. In Russland und der Sowjetunion mythisierte und instrumentalisierte man den "großen vaterländischen Krieg", wenn es galt, den Widerstandswillen anzustacheln (Zweiter Weltkrieg) oder Demütigungen zu kompensieren (der verlorene Krimkrieg als Hintergrund von Tolstois "Krieg und Frieden"). Der Londoner Historiker will durch den Wust der Deutungen zurück zur Sache selbst. Er zieht die großen Linien, erörtert politische Hintergründe, wendet sich aber vor allem dem militärischen Desaster und der humanen Katastrophe zu.
Mit 500.000 Soldaten setzte sich Napoleon im Juni 1812 in Marsch. Zwar hatte er bei der Organisation des Feldzugs hohen logistischen Aufwand betrieben. Aber der Nachschub blieb unterwegs im Morast stecken. Die "Blitzkrieg"-Strategie brachte es mit sich, dass die vorauseilenden Truppen sich plündernd "aus dem Land" ernähren mussten.
Das Grauen wird meist mit dem winterlichen Rückzug verbunden, aber der Marsch nach Moskau forderte mehr Opfer. Zamoyski beschreibt in aller Eindringlichkeit den Kriegshorror lange vor der ersten Schlacht. Hunger, Durst, Dauerregen, katastrophale hygienische Verhältnisse und Krankheiten wie Fleckfieber und Ruhr führten zu entsetzlichen Verlusten: "Die Westfalen starben in der Hitze wie die Fliegen. Ein Gewaltmarsch bei Temperaturen von mehr als 32 Grad hatte ein Regiment von ursprünglich 1980 Soldaten auf 210 dezimiert." Napoleon gelang es lange nicht, die Russen zum Kampf zu stellen. Die wichen einfach zurück.
Bei der Schlacht von Borodino schließlich umfassten seine Kampftruppen noch knapp 130.000 Mann, von denen etwa 30.000 fielen - ein Massaker, das erst von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs übertroffen wurde. Der Weg nach Moskau war nun frei, aber was sollte Napoleon in der niedergebrannten, verlassenen Stadt? Das Verwaltungszentrum St. Peterburg blieb unbehelligt. Es war ein schaler Sieg, der mit jedem Tag mehr wie eine Niederlage aussah. Eine Überwinterung in Moskau – woher allein das Futter für die Pferde nehmen? – ergab keinen Sinn.
Rückzug also. Bei über 30 Grad minus fallen Nasen und Ohren ab, von Händen und Füßen schält sich das Fleisch, der Eiswind schneidet Gesichter blutig, Augen platzen. Von den Hungernden werden die Pferde bei lebendigem Leib ausgeweidet. Kannibalismus macht sich breit. Und die russischen Bauern, die unter den plündernden Truppen schwer zu leiden hatten, nehmen nun grausam Rache, wenn sie verstreute Soldaten in ihre Gewalt bekommen: Aber auch Berichte von Hilfsbereitschaft, Solidarität und Edelmut werden zitiert.
Zamoyski macht das Unvorstellbare vorstellbar mithilfe vieler Originaltöne aus Briefen, Tagebüchern, Memoiren, verfasst von Offizieren wie Rekruten, Ärzten wie Zivilisten, Franzosen wie Russen. Und fügt alles zu einer glänzenden Gesamtdarstellung zusammen. "1812" ist nicht in erster Linie ein wissenschaftliches, sondern ein erzählendes, unter die Haut gehendes Werk.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Adam Zamoyski: 1812 - Napoleons Feldzug in Russland
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. C. H. Beck, München 2012, 720 Seiten, 29,95 Euro
Mit 500.000 Soldaten setzte sich Napoleon im Juni 1812 in Marsch. Zwar hatte er bei der Organisation des Feldzugs hohen logistischen Aufwand betrieben. Aber der Nachschub blieb unterwegs im Morast stecken. Die "Blitzkrieg"-Strategie brachte es mit sich, dass die vorauseilenden Truppen sich plündernd "aus dem Land" ernähren mussten.
Das Grauen wird meist mit dem winterlichen Rückzug verbunden, aber der Marsch nach Moskau forderte mehr Opfer. Zamoyski beschreibt in aller Eindringlichkeit den Kriegshorror lange vor der ersten Schlacht. Hunger, Durst, Dauerregen, katastrophale hygienische Verhältnisse und Krankheiten wie Fleckfieber und Ruhr führten zu entsetzlichen Verlusten: "Die Westfalen starben in der Hitze wie die Fliegen. Ein Gewaltmarsch bei Temperaturen von mehr als 32 Grad hatte ein Regiment von ursprünglich 1980 Soldaten auf 210 dezimiert." Napoleon gelang es lange nicht, die Russen zum Kampf zu stellen. Die wichen einfach zurück.
Bei der Schlacht von Borodino schließlich umfassten seine Kampftruppen noch knapp 130.000 Mann, von denen etwa 30.000 fielen - ein Massaker, das erst von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs übertroffen wurde. Der Weg nach Moskau war nun frei, aber was sollte Napoleon in der niedergebrannten, verlassenen Stadt? Das Verwaltungszentrum St. Peterburg blieb unbehelligt. Es war ein schaler Sieg, der mit jedem Tag mehr wie eine Niederlage aussah. Eine Überwinterung in Moskau – woher allein das Futter für die Pferde nehmen? – ergab keinen Sinn.
Rückzug also. Bei über 30 Grad minus fallen Nasen und Ohren ab, von Händen und Füßen schält sich das Fleisch, der Eiswind schneidet Gesichter blutig, Augen platzen. Von den Hungernden werden die Pferde bei lebendigem Leib ausgeweidet. Kannibalismus macht sich breit. Und die russischen Bauern, die unter den plündernden Truppen schwer zu leiden hatten, nehmen nun grausam Rache, wenn sie verstreute Soldaten in ihre Gewalt bekommen: Aber auch Berichte von Hilfsbereitschaft, Solidarität und Edelmut werden zitiert.
Zamoyski macht das Unvorstellbare vorstellbar mithilfe vieler Originaltöne aus Briefen, Tagebüchern, Memoiren, verfasst von Offizieren wie Rekruten, Ärzten wie Zivilisten, Franzosen wie Russen. Und fügt alles zu einer glänzenden Gesamtdarstellung zusammen. "1812" ist nicht in erster Linie ein wissenschaftliches, sondern ein erzählendes, unter die Haut gehendes Werk.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Adam Zamoyski: 1812 - Napoleons Feldzug in Russland
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. C. H. Beck, München 2012, 720 Seiten, 29,95 Euro