Argentiniens gestohlene Kinder
Nach dem Putsch von 1976 raubten die argentinischen Militärs rund 500 Babys ihrer politischen Gegner. Eine Gruppe von Großmüttern versucht seit Jahren, die Identität ihrer gestohlenen Enkel zu erfahren - und hofft dabei auf die Hilfe der katholischen Kirche.
24. April 2013. Im Vatikan kommt es nach der Generalaudienz des Papstes zu einer ungewöhnlichen Begegnung: Franziskus, erst seit wenigen Wochen im Amt, begrüßt zwei alte Damen aus seiner Heimat Argentinien. Estela de Carlotto, 83, und Buscarita Roa, 74. Beide gehören zu den sogenannten Großmüttern der Plaza de Mayo. Und beide wurden noch nie zuvor von Jorge Bergoglio empfangen.
"Ich habe dem Papst ein weißes Kopftuch übergeben, das Symbol der Großmütter, und einen Brief, in dem wir ihn um Hilfe baten. Er sagte, wir sollten für ihn beten. Ich sagte, er solle auch für uns beten. Wir erinnerten ihn an die Suche nach unseren geraubten Enkeln, und er antwortete, wir könnten auf ihn zählen."
Estela de Carlotto, die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo. An jenem Tag im April segnet Franziskus das Kopftuch. Aber weder er noch die Katholische Kirche Argentiniens haben das Versprechen, die Großmütter zu unterstützen, bisher umgesetzt.
Die inzwischen betagten Frauenwollen Hilfe bei der Suche nach ihren während der Militärdiktatur geraubten Enkeln. Seit 37 Jahren suchen sie nach ihnen, unzählige Male demonstrierten sie mit ihren weißen Kopftüchern. Nach dem Putsch 1976 eigneten sich die argentinischen Militärs illegal rund 500 Babys politischer Gegner an. Die meisten von ihnen kamen in Diktaturgefängnissen auf die Welt. Die Eltern verschwanden - das heißt im Klartext: Sie wurden ermordet. Und ihre Kinder? Sie wuchsen mit einer falschen Identität bei fremden Familien auf.
"Noch immer kennen Hunderte von Argentiniern ihre wahre Identität nicht. Wenn du zwischen 1975 und 1980 geboren wurdest, und vermutest, du könntest jemand anders sein, als man dir gesagt hat, komm zu den Großmüttern der Plaza de Mayo."
Tauf-Urkunden von Kindern aus Diktatur-Gefängnissen
Ein Spot der Großmütter im staatlichen argentinischen Fernsehen, mit dem sie versuchen, die inzwischen erwachsenen Enkel ausfindig zu machen. 109 von ihnen haben sie bis heute gefunden. Mit Hilfe von Gentests wurde bewiesen, dass es sich tatsächlich um ihre Enkel handelt. Doch knapp 400 Argentinier kennen nach wie vor weder ihre eigentliche Herkunft noch ihre leibliche Familie. Die Großmütter glauben, dass die Kirche helfen könnte.
"Unsere Bitte ist, dass die Kirche nachforscht, ob es Tauf-Urkunden von Kindern gibt, die in Diktatur-Gefängnissen geboren wurden. Denn wir wissen ja, dass die Militärs katholisch waren, und vermuten, dass die Kinder, die sie sich aneigneten, getauft wurden. Wo sind also die Taufurkunden? Das wollen wir wissen, und auch, wer sie taufen ließ und wer die Paten waren. Das könnte uns dabei helfen zu erfahren, wo die geraubten Kinder, inzwischen Erwachsene, heute sind."
Buscarita Roa hat ihre eigene Enkelin bereits gefunden. Diktaturschergen hatten das acht Monate alte Baby Claudia 1978 gemeinsam mit seinen Eltern verschleppt. Diese wurden ermordet, ihre Überreste tauchten niemals auf. Doch Claudia und ihre Großmutter sahen sich im Jahr 2000 wieder. Hingegen sucht Estela de Carlotto, die in Argentinien sehr bekannte Vorsitzende der Großmütter, bis heute nach ihrem Enkel.
"Laura, meine Tochter, war neun Monate in Gefangenschaft, in dieser Zeit brachte sie ihren Sohn auf die Welt. Nach der Geburt hat man ihn ihr weggenommen. Ich habe keine Ahnung, wo er ist."
Als er noch Präsident der argentinischen Bischofskonferenz war, pflegte Papst Franziskus zu Angehörigen von Diktatur-Opfern quasi keine Kontakte. Deshalb wurde seine Ankündigung, die Großmütter könnten auf ihn zählen, von der Öffentlichkeit mit einiger Überraschung registriert. Zwar hat der derzeitige Vorsitzende der argentinischen Bischofskonferenz, José Maria Arancedo, die Großmütter inzwischen empfangen und ihnen ebenfalls Unterstützung zugesagt.
Dem Papstversprechen sind bislang keine Taten gefolgt
Doch was sie konkret tun will, hat die Bischofskonferenz bisher nicht gesagt. Ihr Sprecher war zu keiner Auskunft bereit. Bei der Vollversammlung im November stand das Thema nicht auf der Tagesordnung. Warum sind dem Papstversprechen bisher keine Taten gefolgt? Der Journalist und Kirchenexperte Washington Uranga:
"Nicht die Bischofskonferenz hat die Initiative ergriffen, den Großmüttern zu helfen, sondern der Papst. Für die Bischöfe ist dies eine unbequeme Situation. Sie können Franziskus nicht widersprechen, aber sie wissen auch nicht, was sie tun sollen."
Ob die Kirche handeln werde, hänge davon ab, wie viel Druck Franziskus auf die argentinische Bischofskonferenz ausüben werde – glaubt Kirchenkenner Uranga:
"Ein paar Bischöfe sind absolut konservativ und verschließen sich komplett der Wahrheitssuche. Bischöfe, die entschieden für Transparenz und Aufarbeitung sind, gibt es quasi nicht. Die Mehrheit der Bischöfe hat schlicht Angst, dass das Image der Kirche beschädigt werden könnte, und will daher keine Zugeständnisse machen. Sie befürchten wohl, dass Dinge ans Licht kommen könnten, die nur die Spitze des Eisbergs sind, und dass etwas ins Rollen kommt, das sie dann nicht mehr kontrollieren können."
Die Angst ist sicher nicht unbegründet. Schließlich stand die argentinische Kirchenspitze während der Diktatur der Militärjunta nahe und hielt sich mit Kritik an den schweren Menschenrechtsverletzungen zurück. Einige Kirchenvertreter waren regelrechte Komplizen. Es gab aber auch Bischöfe, die versuchten, den Verfolgten und den Angehörigen der Opfer zu helfen. Und einige Geistliche, Nonnen und Bischöfe wurden selbst zu Diktaturopfern. Der argentinische Theologe Ruben Dri kritisiert, Jorge Bergoglio habe vor seiner Wahl zum Papst nichts zur Aufklärung der Diktaturverbrechen beigetragen.
"Bergoglio war zwei Amtsperioden lang Präsident der Bischofskonferenz, er war Erzbischof von Buenos Aires. Er hätte die Kirchenarchive öffnen lassen können, um bei der Aufklärung des Verschwindenlassens von Menschen und des Kinderraubs zu helfen."
Die Großmütter der Plaza de Mayo hoffen weiter auf diese Hilfe – bestärkt durch das Papstversprechen Cuenten conmigo – "Zählt auf mich". Buscarita Roa:
"Wir hoffen, dass die Kirche rasch handelt, denn wir Großmütter sind alt und haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen so bald wie möglich die Wahrheit erfahren."