Militante Schiitenorganisation im Libanon

Wie die Hisbollah die Kampfbereitschaft stärkt

24:04 Minuten
Anführer des Hisbollah-Marsches
Anführer des Hisbollah-Marsches im Süden von Beirut am jährlichen Gedenktag der Schiiten an ihren Glaubensstifter. © Marc Thörner
Von Marc Thörner |
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Vor drei Wochen wurde die Hisbollah in Deutschland verboten. Im Libanon sitzt die militante Schiitenorganisation als Partei im Parlament. Welche Rolle spielt sie dort? Und wie überzeugt sie bis heute auch junge, gebildete Anhänger, in den Kampf zu ziehen?
Schwarze Fahnen. Schwarz gekleidete Menschen, wohin man blickt. Schwarze Hosen, schwarze Kappen, schwarze Körperschleier, schwarze T-Shirts, hautenge schwarze Jeans und sogar schwarzes Make-up. Aschoura, das jährliche Fest der Schiiten im Süden von Beirut im Herbst 2019 - das ist ein Karneval mit umgekehrten Vorzeichen. Ein Straßenfest der Trauer. So wie hier fühlen sich viele Schiiten auf der Welt. Ein Blick hierhin zeigt, was sich aus diesen Gefühlen politisch ergeben kann.
"Each year the Shiates take part in this celebration, not only in Lebanon. In Syria, in Iraq, in Iran."
Mein Begleiter Ahmed ist ein untersetzter, aber höchst beweglicher Endvierziger. Selbst kein Schiit, aber mit besten Kontakten ins schiitische Milieu. Aschoura, so erklärt er, erinnert an ein Martyrium, das einer der Glaubensstifter der Schiiten erlitt, Imam Hussein. Vor rund 1400 Jahren in der Schlacht von Kerbela.
Organisiert wird der Gedenktag in diesem Viertel weitgehend von der Hisbollah, der von Iran gesponserten militanten Schiitenorganisation – hier im Libanon nicht nur Kampftruppe, sondern auch als politische Partei im Parlament vertreten.

"Heute passiert das Gleiche wie damals"

Haydar Jamal, Anfang 20, schwenkt die Hisbollah-Flagge: Gelb, mit dem arabischen Wort Allah, in dem ein Buchstabe zur Faust wird und eine Maschinenpistole hält. Haydar steht vor einem Plakat, das den schiitischen Märtyrer Hussein zeigt, zu Pferd in seiner mittelalterlichen Rüstung. Hinter dem Hussein des Jahres 680 sind Hisbollah-Soldaten abgebildet, die ihm aus der Gegenwart zu Hilfe eilen. Für Haydar überhaupt kein Stilbruch.
"Was sich vor Jahrhunderten ereignete und was sich heute abspielt, das ist ein und dasselbe! Wir müssen alles, was passiert, genau beobachten, die Zusammenhänge erfassen und die Phänomene miteinander in Verbindung bringen. Wenn wir die Geschichte von damals auf heute projizieren, dann sehen wir, dass heute genau das gleiche wie damals passiert."

"Es gibt viele Schiiten, die die Hisbollah ablehnen, aber denen fehlt eine politische Alternative", sagt Achim Vogt von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er beschäftigt sich schon lange mit der Hisbollah und deren Einfluss im Libanon und lebt seit 2013 in Beirut. Für die Hisbollah komme das Verbot in Deutschland ungelegen, "denn sie ist vor allem darauf bedacht, Legitimität auszustrahlen, und die politischen Kontakte, die es noch gibt, nicht zu riskieren", erklärt Achim Vogt im "Weltzeit"-Interview:
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Haydar ist glattrasiert, trägt Jeans und T-Shirt, hat eine moderne College-Ausbildung und würde sich auf dem Campus einer westlichen Universität nicht von anderen unterscheiden. Er entspricht so gar nicht dem Klischee eines islamischen Fundamentalisten. Was meint er, wenn er sagt, dass heute das gleiche wie damals passiert? Was treibt junge, gut ausgebildete Leute wie ihn, Mitglied der Hisbollah zu werden und bereitwillig für sie in Kriegseinsätze zu ziehen?
Junge Hisbollah-Mitglieder im Libanon mit dem gelbem Stirnband der Partei.
Junge Hisbollah-Mitglieder im Libanon mit dem gelbem Stirnband der Partei.© Marc Thörner
"Ich meine, die Sache der Hisbollah ist die gerechteste, die es gibt. Sie hat uns verteidigt, und tut das noch immer. Und hoffentlich bis in die weit entfernte Zukunft."
Haydar muss weiter, zum organisierten Public Viewing der Hisbollah-Predigt. Aber er verspricht, sich anschließend wieder mit uns zu treffen. Ahmed und ich arbeiten uns durchs Gedränge vor, zur großen Moschee, in der die Predigt stattfinden soll. Wie ich hoffe, endlich eine Gelegenheit, mit einem ihrer Offiziellen ins Gespräch zu kommen. Bisher hat es nicht geklappt.

Die Hisbollah ist absolut geheimniskrämerisch

"Es gibt einen grundlegenden Mangel an Transparenz und Demokratie in allen libanesischen Parteien. Aber in der Hisbollah ist das so stark zu spüren wie in keiner anderen Organisation. Ihre Organisationsstruktur ist absolut geheimniskrämerisch."
Ayman Mhanna leitet die Samir-Kassir-Stiftung, eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Meinungs- und die Pressefreiheit im Libanon einsetzt. Der Besuch bei ihm war ein paar Tage vorher erste Etappe meiner versuchten Annäherung an die Hisbollah gewesen. Ayman, ein junger Universitätsdozent, ist Spezialist für die Parteienlandschaft im Libanon. Und die Hisbollah ist ja eine offizielle, im Parlament vertretene Partei, die in der Regierung sogar den Gesundheitsminister stellt.
Alle in Schwarz: Teilnehmer der Aschoura-Zeremonie.
Alle in Schwarz: Teilnehmer der Aschoura-Zeremonie.© Marc Thörner
"Häufig haben wir Probleme, Freunden oder Journalisten aus Europa die Hisbollah zu erklären. Viele von ihnen sehen die Dinge von ihrer linken politischen Warte aus, sie neigen dazu, Widerstandsbewegungen grundsätzlich zu romantisieren. Aber es handelt sich hier um eine zutiefst religiöse und fundamentalistische Organisation. Und sie hat es geschafft, eine Islaminterpretation, die aus dem Iran stammt, in den Libanon zu übertragen und sie unter einem Großteil unserer Bevölkerung zu verbreiten."
Dazu trägt auch bei, so räumt Ayman Mhanna ein, dass die Hisbollah bei vielen mit ihrem Angebot an sozialen und medizinischen Hilfsleistungen punkten kann.

Rächer der Enterbten – Gründungsmythos der Hisbollah

Als sie in den frühen 1980er-Jahren im Libanon gegründet wurde, definierte sich die religiös-politische Bewegung als Rächer der Enterbten. Nicht ohne Grund. Die alteingesessene Elite des Landes bestand hauptsächlich aus Sunniten und anderen Muslimen. Die schiitische Bevölkerung war in vielem marginalisiert und zudem durch Israels Kampfeinsätze im Grenzgebiet gebeutelt.
Ganz Libanon befand sich im Bürgerkrieg. So gut wie alle Fraktionen waren bewaffnet und bezogen Hilfe von einer internationalen Macht. Im Falle der Hisbollah war das Iran. Heute aber sei die Hisbollah dank ihres Sponsors, dem Iran, alles andere als elend und enterbt. Sie sei die mächtigste Macht im Land geworden, meint Ayman Mhanna von der Samir-Kassir-Stiftung.
"Ihre Daseinsberechtigung schöpft sie inzwischen hauptsächlich aus ihrem Militär. Und ich würde sie nicht mal mehr 'paramilitärisch' nennen. Ihre Kampfkraft reicht weit hinaus über die der regulären Armee bei uns im Libanon und auch in anderen Staaten der Region."
Also keine Partei mit einer Miliz mehr. Sondern eher eine Armee mit politischem Arm. Das sehen auch libanesische Politiker so. Insbesondere die traditionellen Gegner des politischen Schiitentums zeigen sich über den wachsenden Einfluss der Hisbollah alarmiert. Wie Serge Dagher von der christlich dominierten Kataeb-Partei – auch sie eine ehemalige Bürgerkriegsfraktion.

Kritik an Hisbollah wegen ihrer Nähe zu Iran

"Wir sind ein offenes Land und wir teilen die westlichen Werte. Aber die Hisbollah ist bereit, in den Krieg zu ziehen, wann immer Iran angegriffen wird. Iran ist ein weit entfernter Staat. Wir werden es nicht akzeptieren, dass der Libanon mit Hilfe der Hisbollah Teil des iranischen Lagers wird. Wirtschaftlich hängen wir stark am Tropf der Hilfe, die aus Europa und den Vereinigten Staaten kommt. Auf keinen Fall werden wir uns mit Israel anlegen und mit den großen Wirtschaftsmächten dieser Welt. Unsere Wirtschaft würde innerhalb von fünf Sekunden zusammenbrechen."
Oberste Autorität für die Partei ist der iranische Revolutionsführer Khamenei. Auch Hisbollah-Führer Scheich Nasrallah bekleidet einen religiösen Rang, trägt den schwarzen Turban und das religiöses Ornat der Schiitengeistlichkeit. Zugleich ist er der Oberbefehlshaber der Hisbollah-Armee.
Vor den Kameras des Partei-eigenen Manar-TV beschreibt er die Reichweite seiner Raketen und erklärt dem Reporter anhand einer Karte, welche Teile Israels er damit sofort ausradieren könnte. Mit ihm oder mit seinen Unterführern hätte ich gerne gesprochen. Doch auf unsere Kontaktversuche ging die Partei nicht ein. Mails waren zwecklos. Rückrufe blieben aus. So mache ich mich mit Ahmed zusammen auf zum offiziellen Pressebüro der Hisbollah. Ein Ort, an dem ich erfuhr, dass auch die Gegenseite die Hisbollah im Visier hat.
"Auf dieses Büro gab es kürzlich zwei Angriffe. Eine erste Drohne wurde angeblich von ein paar Jungen mit Steinwürfen zum Absturz gebracht. Die andere ist explodiert. Die Fassade des Bürogebäudes wurde demoliert. Die Fenster gingen zu Bruch. Es gab keine Toten, aber ein paar Leute wurden durch die umherfliegenden Glassplitter verletzt."
Dann hieß es: Mikrofon ausschalten. Hisbollah-Wachen geleiten uns in ihr Büro hinauf. Interviews kann uns das Pressebüro nicht verschaffen. Dafür gibt uns der Pressechef eine Akkreditierung für Aschoura. Zur morgigen großen Predigt in der Hisbollah-Hauptmoschee.

Hauptpredigt als Höhepunkt des Aschoura-Festes

Dort eskortiert mich am nächsten Tag der Funktionär im schwarzen Anzug bis zur ersten Reihe vor dem Predigerpult. Der riesige Gebetssaal ist voll von Gläubigen. Die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, viele mit dem gelben Stirnband der Partei.
Dann tritt der Prediger ans Pult. Es ist nicht Scheich Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah. Auch dieses Jahr fürchtet man offenbar, Amerikaner oder Israelis könnten bei einem solchen Auftritt eine ihrer Drohnen auf ihn lenken. An seiner Stelle spricht der kaum weniger prominente Scheich Naim. Nach ein paar Eingangsworten lässt er in seinen Rezitationen die schiitische Leidensgeschichte aufleben.
Wir sind im Jahr 680, rund 50 Jahre nach dem Tod Mohammeds. Im irakischen Kerbela sammeln sich rund 70 treue Krieger um den Prophetenenkel Hussein. Sie sind die ersten Schiiten, übersetzt: Parteigänger. Parteigänger der Gerechtigkeit, so sehen sie es. Sie wollen die legitime Nachfolge des Propheten durchsetzen gegen die Verräter am Islam. Husseins 70 Kriegern stehen Tausende gegenüber, angeführt vom Kalifen Yazid. Er beansprucht die Nachfolge des Propheten – aus Sicht der Schiiten illegal, denn er wolle nur die eigene Macht sichern und den Islam zur Monarchie machen.
Gegen die Übermacht Yazids haben Hussein und seine Anhänger keine Chance. Die Mehrheit richtet unter der Minderheit ein Gemetzel an. Hussein und seine Getreuen werden abgeschlachtet. In Husseins Zeltlager machen die Anhänger Yazids selbst vor unschuldigen Frauen und Kindern nicht halt. Auch Husseins Schwester Zeynab wird ergriffen und von den Siegern fortgeschleppt.

Hisbollah spricht vom Zeitalter der Ungerechtigkeit

Ich fühle mich wie in einer Zeitmaschine. Das Hier und Heute scheint auf einmal ausgelöscht. Oder anders: Das Hier und Heute scheint auf einmal mit dem Geschehen vor 1400 Jahren zu verschmelzen. Der Tod Husseins hat aus Sicht der Schiiten ein Zeitalter der Ungerechtigkeit eingeleitet. Und diese dunkle Zeit, so meinen sie, ist heute noch nicht zu Ende. Kann man denn sagen, wir lebten heute in einer gerechten Welt? Das frage auch ich mich.
Alle um mich herum: Die Geistlichkeit, die Gläubigen im Saal, die Kameramänner der Hisbollah beginnen hemmungslos zu weinen. Selbst die martialischen Milizionäre, die an den Wänden Wache stehen, holen Taschentücher raus. Dass mir ein Interview mit Scheich Nasrallah fehlt, kommt mir plötzlich nicht mehr als ein Mangel vor. Lässt sich irgendwo besser verstehen als hier, wie die Hisbollah ihre Anhänger motiviert?
Haydar, das junge Hisbollah-Mitglied, hat Wort gehalten. Vor der Moschee erscheint er mit einem Freund, der sich ebenfalls in der Hisbollah engagiert. Beide sind von der nach draußen übertragenen Rezitation höchst aufgewühlt. Heute, so sagt Haydars Freund, finde der Kampf gegen die Tyrannei in Syrien statt.

In Syrien für die gerechte Sache sterben

"Es gibt einen Grund, weshalb die Hisbollah nach Syrien gegangen ist, weshalb sich die Schiiten diese Sache zu eigen gemacht haben. Der Grund ist, dass das Grab von Zeynab, der Schwester von Imam Hussein, sich dort befindet. Und es geht um den Krieg gegen die Tyrannen in Syrien."
Auch er, so sagt der junge Mann, würde lieber heute als morgen in Syrien für die gerechte Sache sterben. Genauso wie die 70 Getreuen in Kerbela, die nicht von der Seite Husseins wichen.
"Für sie war es nicht schwer. Was sie in Kerbela auf sich genommen haben, war für sie ein Leichtes. Sie starben aus dem gleichen Grund, aus dem sie lebten. Für Gott. Ich weiß nicht… ich hoffe, ich werde es können. Jeden Tag wünsche ich, dass mir so etwas passiert. Es kann so einfach sein zu sterben."
"Die Zahl der 'registrierten Märtyrer' in Syrien geht weit in die Hunderte, wenn nicht mehr. Immer wenn ein Tod verkündet wird, wird auch das Geburtsjahr des Betreffenden genannt. Und wenn Sie sehen würden, wie jung die Leute sind, dann wären Sie geschockt", so hatte mir Ayman Mhanna von der Samir-Kassir-Stiftung für Presse- und Meinungsfreiheit gesagt.
"Fahren Sie einfach auf dem alten Zubringer Richtung Flughafen Beirut. Überall sehen Sie die Bilder dieser Märtyrer aufgehängt."
Auf meinem Weg durchs Zentrum komme ich an ganz anderen jungen Leuten vorbei. Nicht auf Bildern und nicht tot. Sie haben sich im Zentrum Beiruts zum Protest versammelt. Gegen das politische Establishment, zu dem für sie auch die Hisbollah gehört. Sie wollen, das geht aus ihren Sprechchören und Transparenten hervor, etwas Neues versuchen: zu leben, und zwar selbstbestimmt. Doch, so ist zu hören: Die Gegendemonstranten der Hisbollah sind schon unterwegs.
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