Miljenko Jergović: "Der rote Jaguar"
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021
191 Seiten, 22 Euro
Angestachelt zu Hass und Gewalt
05:44 Minuten
Ein Unfall reicht aus: Der kroatische Autor Miljenko Jergović warnt in "Der rote Jaguar" vor den Gefahren alter Konflikte auf dem Balkan. Dabei beschreibt er auch eine mögliche Zukunft, die erschreckend real scheint.
Auf dem Balkan kreuzen sich die Wege zweier Männer. Was folgt, ist eine Katastrophe, die wie die Wiederholung der Vergangenheit daherkommt. Der Furor des Nationalismus bricht sich Bahn, Menschen rotten sich zusammen, um ihre Mitbürger zu ermorden. Eine Geschichte der Brutalität: Miljenko Jergović erzählt sie in seinem Roman "Der rote Jaguar" auf eindrückliche Weise.
Der titelgebende Wagen - darin sitzen Zoran und seine Frau Borka - fährt auf einer kroatischen Küstenstraße. In einem ehemaligen Urlaubsort erfasst das Auto Herkul, den geliebten Sohn des Bürgerkriegsgenerals Ante Gavran, genannt Ćumur. Dieser "Held" des Jugoslawienkriegs ist so skrupellos wie chauvinistisch und somit die Blaupause für die in den 1990er-Jahren emporgekommenen großen und kleinen Haudraufs.
Chronist des Zerfalls
Der Unfall wird – angeheizt durch im Internet verbreitete Fake News – zum Anlass für antiserbische Pogrome, die von offizieller Seite als "unliebsame Vorfälle" abgetan werden, denn der Ruf Kroatiens soll keinen Schaden nehmen. Die Regierung gibt sich geschäftig, um die Situation für sich zu nutzen.
Jergović ist nicht nur ein außergewöhnlicher Erzähler der Irrungen und Wirrungen im ehemaligen Jugoslawien, sondern auch einer der streitbarsten Publizisten Kroatiens. Der aus Sarajevo stammende Autor erlebte hautnah den Beginn des Bosnienkriegs und die Belagerung seiner Geburtsstadt mit.
Nationalismus ist nicht seins, das kann man lesen. Zugleich ist er ein Chronist, der den Weg des Vielvölkerstaats in die blutigen Bruderkriege nachzeichnet. Er legt den Finger in die Wunde, nicht nur, weil er zeigt, was alles verloren ging, sondern auch, was zuvor schieflief, zu Wut und schließlich zur Gewalt führte.
In zwei der vier Kapitel lässt Jergović sowohl Zoran wie auch Ćumur als Icherzähler über ihr Leben berichten. Beide stammen aus Bosnien und könnten dennoch gegensätzlicher kaum sein.
Zoran ist Serbe, doch er hadert mit dieser Zuschreibung. Ćumur ist Kroate, geriet schnell mit dem jugoslawischen Staat in Konflikt und wurde schließlich zum glühenden Nationalisten, der sich offen zu den im Zweiten Weltkrieg herrschenden und mordenden faschistischen Ustascha bekennt.
Während der Belagerung Sarajevos bleibt Zoran in der Stadt, die zum Symbol des Leidens der Zivilbevölkerung wird. Trotz dieses persönlichen Opfers haftet ihm seine Herkunft als Makel an. Als sich die Möglichkeit ergibt, zieht er mit seiner Frau Borka nach Wien, sie lassen alles hinter sich für ein vollkommen neues Leben. Selbst ihre Kinder bekommen österreichische Namen, zu Hause wird Deutsch gesprochen. Eigentlich wollen sie nie wieder zurück.
Ćumur schlägt sich im Sarajevo der 80er-Jahre mit schwerer Arbeit durch, heiratet nach einer gescheiterten Ehe schließlich eine Serbin, die ihm zuliebe zum Katholizismus konvertiert. Ihr Kind wächst die ersten Jahre ohne Vater auf. Deswegen, so vermutet Ćumur, kann Herkul nicht sprechen.
Das Fehlen des Vaters hat Gründe, denn als die Spannungen in Jugoslawien zunehmen, erkennt er seine Chance und tritt der kroatischen Armee bei. Präsident Franjo Tudjman sieht in ihm mehr als den zu allem bereiten Unteroffizier und schickt ihn nach Bosnien. Krieg wird zu Ćumurs Metier, der kroatische Nationalismus dient dafür als Rechtfertigung.
Als Zoran für eine Ausstellung über die frühen Jahre des Punks in Jugoslawien angefragt wird, lehnt er nicht ab, sondern reist zurück in die Heimat, der er einst den Rücken kehrte. Fragen zu Identität und zur Herkunft treiben ihn um. Dagegen ist für Ćumur klar, wie die Welt läuft – alle sind gegen Kroatien – und wo sein Platz ist: alle Feinde der Heimat bekämpfen.
Katastrophe nach dem Schlusspfiff
Im letzten Kapitel werden die Ereignisse am Ende des Sommers des unbestimmten Jahres "20XY" nachgezeichnet. Während eines Fußballspiels zwischen Serbien und Kroatien kommt es in einem wegen einer Typhus-Epidemie von Touristen entvölkerten Badeort in Dalmatien zu dem bereits erwähnten Unfall. Nach dem Schlusspfiff folgen ethnischer Hass und Gewalt. Diese Entwicklung wirkt wie der Fantasie entsprungen, doch könnte sie sich in einer nicht allzu fernen Zukunft zutragen.
Dass die Handlung realistisch erscheint, ist dem sprachlichen Talent Jergovićs' zu verdanken. Gekonnt lässt er seine Protagonisten die Vergangenheit Revue passieren, ebenso wie er den anschließenden Bericht über "die Vorfälle" sprachlich schnörkellos erzählt.
Die Geschichte ist somit auch eine literarisch gelungene und zugleich eindrückliche Warnung davor, dass unter der sich demokratisch gebenden Hülle der postjugoslawischen Staaten noch immer alte Konflikte schlummern. Sie könnten leicht angefeuert werden, als Auslöser reicht lediglich ein Unfall.
Im Internet werden sich diejenigen finden, die mehr daraus machen, als die Vorkommnisse hergeben, und es wird Brandstifter geben, die gezielt Neues erfinden, um jene aufzustacheln, für die das Phantasma Nation mehr zählt als ein Menschenleben.