Das "Stadttheater der Zukunft" im Praxistest
05:32 Minuten
Ein weltoffenes, zeitgenössisches Stadttheater, das ist die Vision des freien Regisseurs Milo Rau. Über sein "Genter Manifest" wurde viel disktutiert. Am NTGent konnte er erstmals seine Vision von einer Fusion der festen und freien Theaterszene testen.
Über dem Eingang zum Theater am zentralen Sint Baafsplein in Gent hängt, in Flämisch und Englisch und mit goldenen Lettern auf weißem Grund, ein stolzer Spruch: "Stadttheater der Zukunft". Die Schouwburg ist der größte der drei Spielorte des traditionsreichen NTGent in der zweitgrößten Stadt Flanderns. Das Theater wollte unter Milo Raus Leitung den Beweis antreten, dass es in der zumal in Deutschland seit Jahren geführte Systemdebatte zwischen den Stadttheatern und der freien Szene eine Lösung gibt: Eine Fusion von Repertoirebetrieb und dem Produktionsmodus freier Theater- und Tanzgruppen.
"Für mich ist es eher eine Hoffnung, das Modell, das ich am Stadttheater kennen und sehr schätzen gelernt habe", sagt Milo Rau. "Dieses Know-how von Werkstätten, die mir dann, wenn ich frei produziere, extrem fehlen. Und auf der anderen Seite, das Know-how, das man als freie Gruppe hat, in Recherche, in Touring und so weiter, eine Art, demokratischer zu produzieren. Also wie kann man Ensemble und Repertoire und so weiter halten, und das gleichzeitig beweglicher gestalten?"
"Für mich ist es eher eine Hoffnung, das Modell, das ich am Stadttheater kennen und sehr schätzen gelernt habe", sagt Milo Rau. "Dieses Know-how von Werkstätten, die mir dann, wenn ich frei produziere, extrem fehlen. Und auf der anderen Seite, das Know-how, das man als freie Gruppe hat, in Recherche, in Touring und so weiter, eine Art, demokratischer zu produzieren. Also wie kann man Ensemble und Repertoire und so weiter halten, und das gleichzeitig beweglicher gestalten?"
Erst Skandal, dann Versöhnungsangebot
Zur Eröffnung seiner ersten Saison gelang dem Schweizer Künstler eine Arbeit mit einer großzügigen, die Stadtgesellschaft ins Theater einladenden Geste. "Lam Gods", "Das Lamm Gottes", hatte zwar im Vorfeld in der Presse mit Skandalmeldungen auf sich aufmerksam gemacht, einte dann aber die diverse belgische Gesellschaft in einem großen spirituellen Versöhnungsangebot. Raus Vorhaben, sich einem, wie er es nennt, "globalen Realismus"zu verpflichten, und sein Theater zugleich lokal, in der Stadt zu verorten, wurde eingelöst.
Etwas weniger überzeugte sein weitaus komplexerer "Orest in Mossul". Hier wie in den anderen Produktionen des NTGent tritt ein gemischtes Ensemble auf, in dem sich die Diversität der belgischen Gesellschaft spiegelt: "People of color" und beliebte Schauspieler von früher wie Johan Leysen oder Elsie de Brauw sind auf der Bühne. Sie alle sind aufgefordert, an Stückentwicklungen mitzuwirken.
"Das ist für mich wirklich die Befreiung, könnte man sagen, des Künstlers innerhalb des Betriebs selbst, indem jeder gezwungen wird, Künstler zu sein", sagt Rau. "Ich konfrontiere die Schauspieler damit, dass sie die Texte bringen müssen. Ich redigiere, ich versuche, zu helfen – aber ich bin nicht derjenige, der am Anfang der Proben mit einem Text kommt. Es ist Tabula Rasa am Anfang jeder Produktion."
"Das ist für mich wirklich die Befreiung, könnte man sagen, des Künstlers innerhalb des Betriebs selbst, indem jeder gezwungen wird, Künstler zu sein", sagt Rau. "Ich konfrontiere die Schauspieler damit, dass sie die Texte bringen müssen. Ich redigiere, ich versuche, zu helfen – aber ich bin nicht derjenige, der am Anfang der Proben mit einem Text kommt. Es ist Tabula Rasa am Anfang jeder Produktion."
Mörderische Geschichte des belgischen Kolonialismus
Der Kongo und die mörderische Geschichte des belgischen Kolonialismus in dem schwarzafrikanischen Land war einer der Saisonschwerpunkte am NTGent, unter anderem mit Luk Percevals "Black/The Sorrows of Belgium", einem theatralen Dokument der Suche nach einer neuen Ästhetik der Dekolonisierung und mit Ersan Mondtags herrlich poetischem Theater der Wortlosigkeit im mit zwei schwarzen Schauspielerinnen besetzten "De living"nach Franz Xaver Kroetz.
Künstlerisch hat sich das Genter "Stadttheater der Zukunft" nichts vorzuwerfen und so wird Milo Raus erste Spielzeit am NTGent vor Ort als Erfolg gewertet: 80 Prozent Platzausnutzung. Ca. 38.000 Zuschauer haben es besucht. 42.000 Zuschauer erreichte es bei Tourneen außerhalb von Gent. Wenige Tage nach Veröffentlichung des jetzt schon detailliert mit allen Terminen vorliegenden Programms der neuen Spielzeit 2019/2020 waren bereits 50 Prozent der Karten verkauft.
Funktioniert die Fusion von fester und freier Theaterszene?
Politisch hat sich das NTGent sehr deutlich positioniert in den Konsensräumen der linken Bürgerlichkeit. Auch der Beweis, dass mit Milo Rau ein Regisseur der freien Szene ein festes Haus leiten kann, ist erbracht. Aber in der Frage, ob das NTGent das "Stadttheater der Zukunft" sei, sind in einem wesentlichen Punkt Zweifel angebracht. Denn die Genter Zuschauerzahlen sind im Vergleich zu einem deutschen Stadttheater in einer Stadt mit rund 250.000 Einwohnern wenig beeindruckend. Ein Grund sind viele Schließtage aufgrund der Tourneebetriebsamkeit des Theaters. Nur 140 Aufführungen in Gent, das ist sehr wenig im Vergleich zu einem deutschen Repertoirebetrieb.
So sind die Lehren, die sich aus Milo Raus Genter Theaterreform ergeben, ambivalent. Es zeigt sich der große Produktionsvorteil der freien Szene wenn sie plötzlich über die Kapazitäten eines festen Hauses verfügt: Es ist frei in der Beherrschung seiner technischen Mittel und seiner dramaturgischen Setzungen. Aber bei der Distribution ist es dem deutschen Repertoirebetrieb mit seiner großen Bindung ans lokale Publikum unterlegen.
Das freie Modell ist flexibel in der Produktion und damit gut für die Kunst. Das Repertoiremodell ist flexibel in der Spielplangestaltung und regiert damit besser auf die Nachfrage des Publikums. Und für dieses Dilemma gibt auch Milo Raus NTGent keine endgültigen Wahrheiten.