Milo Rau, Kaatje de Geest und Carmen Hornbostel (Hrsg.): "Why Theatre?"
Verbrecher Verlag, Berlin 2020
368 Seiten, 16 Euro
Das Buch erscheint am 30. September
Das Gegenwartstheater im Krisenmodus
04:31 Minuten
Was ist uns das Theater wirklich wert? Im Zuge der Coronakrise hat der Regisseur Milo Rau diese Frage dem Kulturbetrieb gestellt und zahlreiche Antworten prominenter Theaterschaffender erhalten. Jetzt liegen die Essays als Buch vor.
Wie rettet man die Welt? Indem man Theater spielt womöglich? Die Schauspielerin Ursina Lardi erzählt eine alte australische Legende. Von einem riesigen Frosch, der alle Ozeane der Welt verschluckt und die Meeresbewohner verzweifelt auf dem Trockenen zurücklässt. Schließlich ist es ein Aal, der die Sache wieder in Ordnung bringt. Nicht indem er mit dem Untier diskutiert oder an seine Moral appelliert, sondern indem er vor dem Frosch auf und ab stolziert – auf der Spitze seines Schwanzes – und ihn mit seiner Vorstellung derart zum Lachen bringt, dass er all das Wasser wieder ausspuckt.
Diese kleine feine Geschichte ist eine der schönsten Antworten auf die Frage "Why Theatre - Warum Theater?". Nachlesen kann man sie jetzt in dem gleichnamigen Buch der Golden-Books-Reihe, die vom NTGent und dem Berliner Verbrecher Verlag herausgegeben wird, und in der ganz grundsätzlich das Verhältnis von Theater, Ästhetik und Politik erörtert wird.
Kompendium des Gegenwartstheaters
Im März, als die Spielstätten coronabedingt landauf, landab schließen mussten, verschickten NTGent-Leiter Milo Rau, Dramaturgin Carmen Hornbostel und Assistant Artistic Director Kaatje De Geest Briefe an bedeutende internationale Theaterkünstlerinnen und -künstler mit der Bitte um die Beantwortung der alles entscheidenden Frage: Warum brauchen wir überhaupt das Theater?
106 Antworten, allesamt auf Englisch, füllen nun die Veröffentlichung. René Pollesch ist ebenso vertreten wie die Peformerinnen von She She Pop, Florentina Holzinger, William Kentridge und Mohammad Al Attar. Es sind kleine Essays, Sprachspiele, Dialoge, Plakate, Kampfschriften und Nachdenklichkeiten. Gemeinsam ergeben sie ein Kompendium des progressiven, performativen Gegenwartstheaters: mal hochfliegend theoretisch, mal bodenständig praxisbezogen, mal selbstgerecht, mal selbstironisch.
Zwischen Selbstrechtfertigung und Selbstvergewisserung
Falk Richter schreibt von zu hinterfragenden Privilegien und dem drohenden Untergang der Welt, und Matthias Lilienthal weist (wenig überraschend) daraufhin, dass nicht nur Automobilkonzerne systemrelevant sind. Luk Perceval stellt fest, dass schon die Frage "Warum Theater?" ein Echo des Neoliberalismus sei, und der taiwanesische Medienkünstler Hsin-Chien Huang beobachtet, wie er sagt, "zutiefst bewegt und fasziniert", dass die Künste während der Pandemie aus ihrem elitären Umfeld ins wahre Leben zurückkehren, nun da die Performer zu Hause tanzen, spielen und ihre Gedichte vorlesen.
Der Drang zur Selbstrechtfertigung und Selbstvergewisserung ist groß, und zwischen den knapp 370 Seiten ist immer wieder die Panik spürbar, dass in schweren Zeiten die Kultur als verzichtbar angesehen werden könnte – vor allem die unbequeme, herausfordernde Arbeit freier Künstlerinnen und Künstler.
Der große Dank ans Publikum
Am eindrucksvollsten sind deshalb auch hier die ganz persönlichen, zweifelnden, vorsichtigen Aussagen: Kirill Serebrennikov gesteht, dass er seit seiner Kindheit Angst vorm Leben habe: "That is why I prefer Theatre" – deswegen bevorzuge er das Theater. Und Kelly Copper vom Nature Theatre of Oklahoma berichtet von ihrer Lockdown-Niedergeschlagenheit, von dem Gefühl "useless", also nutzlos zu sein.
Die Performer von Gob Squad schließlich drehen den Spieß um. Sie sprechen uns direkt an, ihr Publikum. "Ihr habt uns geholfen, unsere Angst vor Fremden zu überwinden, unsere Angst vor Nähe und Intimität. Wir danken euch dafür. Why Theatre – Just because of you." Warum Theater? Weil es das Publikum gibt, und unverzichtbare tapfere Aale, die die bösen Frösche dieser Welt zum Lachen bringen.