"Es wurde nie ein Schuldiger zur Rechenschaft gezogen"
Seit 2013 beschäftigt sich der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo Rau mit dem Bürgerkrieg im Kongo: Als Theaterprojekt und in Form eines Dokumentarfilms, der jetzt beim Filmfestival in Locarno zu sehen war. Rau sieht darin eine Möglichkeit, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Es ist eines der ambitioniertesten Kunstprojekte und das größenwahnsinnigste unserer Zeit – das war der Tenor an Reaktionen auf "Das Kongo-Tribunal", das der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo Rau seit 2013 kontinuierlich weiterverfolgt. Es geht um den seit 20 Jahren tobenden Bürgerkrieg im Kongo – um sechs Millionen Tote, um Vertreibungen und Massaker, um den globalen Handel mit Gold und Coltan. Milo Rau schaut hinter die Fassade des Welthandels und hat es geschafft, Beteiligte aller Fronten in sein Projekt einzubinden.
Zunächst gab es das "Kongo-Tribunal" als Re-enactment-Theaterprojekt, dann machte Milo Rau einen Dokumentarfilm daraus. Rau lässt darin - neben sich selbst beim Machen des Films - echte Protagonisten rund um den Konflikt auftreten: Angehörige der Milizen, Menschenrechtsaktivisten, Anwälte, Richter oder Rohstoffhändler. Am Sonntag hatte der Film beim Festival in Locarno seine Weltpremiere.
Über seine Beweggründe, dieses außergewöhnliche Projekt in Angriff zu nehmen, sagte Rau:
"Einerseits ist es tatsächlich so, dass dieser Krieg, der seit 20 Jahren sieben Millionen Tote gefordert hat - dass da nie ein Schuldiger zur Rechenschaft gezogen wurde. Es gibt kein internationales Wirtschaftstribunal, das zum Beispiel die Firmen für die Massenvertreibung zur Rechenschaft ziehen könnte. Da habe ich beschlossen, eines zu schaffen - und zwar im Bürgerkriegsgebiet selbst."
Überrascht über die Bereitwilligkeit der Protagonisten
Schon bei dem Theaterprojekt sei er überrascht gewesen, wie bereitwillig Protagonisten des Konflikts sich - "ohne Verschleierung" - zu Verfügung gestellt hätten. Die Opfer seien sicher bereit gewesen, weil es eine andere Form des Tribunals nicht gegeben habe. Aber auch Verantwortliche von Regierung und Rohstoffkonzernen hätten mitgemacht. "Das hing wohl einfach damit zusammen, dass sie gewöhnt sind, dass sie recht behalten. Die waren dann sehr schockiert, dass sie dann auch verurteilt wurden von dem Gericht", sagte Rau. Zwei Minister seien hinterher tatsächlich entlassen worden.
Für seinen Dokumentarfilme wählte Rau drei Verbrechen - von circa 1000 - exemplarisch aus: Zwei Fälle von Massenvertreibungen, ausgelöst durch Minenbetreiber, und einen Fall, in dem die Weltbank involviert ist und ethnische Konflikte genutzt werden, um Menschen zu vertreiben.
Milo Rau sagte weiter: Er habe den Film bereits im Kongo vor großem Publikum gezeigt - und die Reaktionen hätten ihm gezeigt: Dieses Tribunal werde nicht das letzte sein, das er durchführe.
"Und da haben wir beschlossen - im Sinne von Che Guevara: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams - schaffen wir zwei, drei viele Kongo-Tribunale. Also, verhandeln wir jetzt einfach weiter, quasi basisdemokratisch in allen Dörfern, wo Massaker und Vertreibung vorgefallen sind. Zusammen mit Anwälten aus dem Kongo machen wir jetzt Graswurzelprozesse. Es geht also weiter, und es ist wirklich etwas, von dem ich keine Ahnung habe, wohin der Prozess geht."
Ein Resultat sei, dass er seinen Film vor dem Schweizer und auch dem Europäischen Parlament vorführen werde. Er hoffe, dass letztlich ein Gesetz erlassen werde, mit denen Firmen in ihren Heimatländern zur Rechenschaft gezogen werden könnten für Taten, wie sie beispielsweise im Kongo verübt würden. "Die leben ja in totaler Straflosigkeit."
Das Interview im Wortlaut:
Britta Bürger: Es ist eines der ambitioniertesten Kunstprojekte und das größenwahnsinnigste unserer Zeit, so der Tenor der Reaktionen auf "Das Kongo Tribunal", ein Projekt des Schweizer Theater- und Filmemachers Milo Rau, das er seit 2013 kontinuierlich weiterverfolgt. Es geht um den seit 20 Jahren tobenden Bürgerkrieg im Kongo, um sechs Millionen Tote, um Vertreibungen und Massaker, um den globalen Handel mit Gold und Coltan. Milo Rau schaut hinter die Fassade des Welthandels und hat es geschafft, Beteiligte aller Fronten in sein Projekt einzubinden. Zuerst gab es "Das Kongo Tribunal" als Reenactment-Theaterprojekt. Jetzt hat Milo Rau seine Methode weiterentwickelt und daraus einen Dokumentarfilm gemacht, und der hatte heute beim Filmfestival in Locarno seine Weltpremiere. Ich freue mich, dass Milo Rau sich die Zeit nimmt für ein "Fazit"-Gespräch, schönen guten Abend in Locarno!
Milo Rau: Guten Abend!
Bürger: Wie schon in früheren Arbeiten, also den "Züricher Prozessen" oder den "Moskauer Prozessen" verhandeln Sie jetzt den Bürgerkrieg und den Rohstoffkrieg im Kongo in Form eines Prozesses, eines Tribunals. Warum in dieser Form?
Rau: Das hat verschiedene Gründe. Einerseits ist es tatsächlich so, dass dieser Krieg, der seit 20 Jahren sieben Millionen Tote gefordert hat, dass da nie ein Schuldiger zur Rechenschaft gezogen wurde, es gibt kein internationales Wirtschaftstribunal, das zum Beispiel die Firmen für die Massenvertreibung zur Rechenschaft ziehen könnte. Da habe ich beschlossen, eins zu schaffen, und zwar im Bürgerkriegsgebiet selbst. Das war dann 2015, dass das stattfand. Da habe ich Richter aus Den Haag und Richter von vor Ort und Anwälte und dann sehr viele Experte, Opfer natürlich, Vertriebene, Rebellen, Leute aus der Regierung und so weiter vor die Schranken dieses Gerichts gebeten und da befragen lassen. Zum Schluss gab es auch Urteile und einen zweiten Teil noch in Berlin. Und das ist die Möglichkeit, einen Konflikt, der jegliche Grenzen der Zeit in den Auswirkungen gesprengt hat und auch in der Komplexität – da geht es ja um Verwertungsketten von Coltan für Handys, da hängt von der EU bis zur Weltbank, bis zum kleinen Schürfer alles drin –, das also in einem Raum theatral, fiktiv, symbolisch zu verhandeln. Also, plötzlich ist die ganze Welt in einem Gerichtssaal.
Bürger: Und all diese unterschiedlichen Beteiligten treten vor diesem Tribunal auf, Opfer und Zeugen, Milizen, Politiker, Angehörige der UN, auch von NGOs, Rohstoffhändler ebenso wie Menschenrechtsaktivisten, außerdem zwei Anwälte des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Das ist wirklich komplett beeindruckend. Wie ist Ihnen das gelungen, schärfste Kontrahenten, Opfer wie Täter, miteinzubinden?
Rau: Da gibt es viele Gründe. Ein Grund ist sicher gerade auf der Opferseite, dass es so ein Tribunal nie gegeben hat und dass da der Wunsch da war, dass es das geben muss und soll. Und das war die erste und bisher auch einzige Möglichkeit und deshalb waren sehr viele bereit, das zu tun, ganz viele auch nicht anonym. Also, viele haben ohne Verschleierung und so weiter ausgesagt, was auch sehr gefährlich ist, einer ist seither verschwunden. Auf der anderen Seite der Regierung und auch der Rohstoffkonzerne muss ich sagen, die ja verantwortlich sind für diese Vertreibung und Massaker, war ich schon auch sehr erstaunt. Das hing wohl damit zusammen, dass sie einfach gewöhnt sind, dass sie Recht behalten. Die waren dann sehr schockiert, dass sie dann wirklich verurteilt wurden von dem Gericht, zwei Minister wurden nachher tatsächlich entlassen, als Folge daraus. Und meine Formel ist eigentlich: Immer, wenn so was Krasses habe, einfach dran bleiben. Das dauert dann ein Jahr, man muss 100 Leute fragen, um am Schluss einen zu kriegen, aber dann ist das eben so, dann bleibe ich da dran.
Bürger: Es sind ja ganz unterschiedliche Verbrechen und Taten, die Sie da verhandeln. Was wollen Sie damit erreichen?
Rau: Es sind sehr unterschiedliche Verbrechen und Taten, aber gleichzeitig ist das auch ein großer Zusammenhang. Also, der Grund, warum diese Verbrechen stattfinden im Ostkongo, sind die Rohstoffe, die dort sind und die sich die umliegenden Länder, aber eben auch die Industrienationen, also Europa, Firmen aus der Schweiz gerade – ich bin ja Schweizer –, aber auch aus Kanada und so weiter, Chinesen, um diese Rohstoffe streiten, alle möglichen Seiten unterstützen und diesen Krieg am Laufen halten. Und das geht natürlich dann von Vertreibung bis Massaker, bis alle möglichen Verbrechen, politische Verbrechen. Und da habe ich drei ausgewählt, es sind geschätzt etwa 1000 Verbrechen vorgefallen, also Massenverbrechen, seit 1996, als das losging. Und da habe ich drei ausgewählt, die tatsächlich sehr unterschiedlich sind, also zwei Fälle von Massenvertreibungen, von Minen, also, wenn die großen Firmen kommen, mit eine Konzession eröffnen, dann werden die Leute vertrieben, und einen dritten Fall, wo die Weltbank eine Monokultur machen will, eine riesige, und die Leute wollen nicht weg. Was ist die Lösung? Man löst ethnische Konflikte auf und bringt die Leute dazu, dann irgendwann zu gehen.
Bürger: Im Unterschied zu den Theaterprojekten sind Sie ja jetzt im Film auch selbst Protagonist, oft mitten im Geschehen drin. Warum war Ihnen das wichtig?
Rau: Es war mir wichtig, die Perspektive zu zeigen, aus der das auch erzählt wird. Es gibt jetzt keine Off-Stimme, die auktorial, allwissend irgendwie durch den Film führt. Sondern man sieht mich, wie ich manchmal auch schockiert beispielsweise vor diesem Massaker, wo ich reingerate, wie ich da davorstehe, wie ich mir denke … Wo ich das auch nicht verstehe und wie dann mit der Zeit dieses Verstehen stattfindet. Ich trete eigentlich, je länger der Film dauert, umso mehr in den Hintergrund, man sieht mich dann eigentlich nur noch ab und zu die Klappe schlagen. Und dann wird plötzlich wieder klar: Ach, das ist ja gar kein reales Tribunal, das ist ja eine Fiktion! Und das wollte ich eigentlich auch ausstellen, also, diese Utopie, die ja dieser Raum auch ist, dieser hergestellte Raum, wo sich ein paar Menschen sagen: Lasst uns das mal untersuchen, lasst uns die Schuldigen verurteilen.
Bürger: Der Film hat ja teilweise ein unglaubliches Tempo, und gerade diese Szenen am Anfang, wo Sie in dieses Massaker zufällig hineingeraten sind, vermittelt einem auch wirklich das Gefühl, dass Sie nicht wie bei der Theaterarbeit so klar strukturierte Abläufe hatten, sondern sich diesmal auch wirklich selbst haben treiben lassen bei dem Thema.
Rau: Ja, das stimmt, das stimmt. Also, das hat deshalb auch diese Dauer gehabt, wir haben jetzt Voraufführung im Kongo gemacht, wir waren zehn Tage im Kongo, letzte und vorletzte Woche, und haben da vor Tausenden von Menschen diesen Film wieder gezeigt. Und da wurde plötzlich klar: Das kann nicht das letzte Tribunal gewesen sein. Und da haben wir beschlossen, im Sinne von Che Guevara: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams, schaffen wir zwei, drei, viele Kongo-Tribunale. Also verhandeln wir jetzt einfach weiter, quasi basisdemokratisch in allen Dörfern, wo Massaker, Vertreibung vorgefallen sind, zusammen mit Anwälten aus dem Kongo, machen wir jetzt so Graswurzelprozess. Also, es geht weiter. Und das ist wirklich etwas, wo ich keine Ahnung habe, wohin der Prozess geht. Also, führt das dazu, dass die Regierung stürzt? Führt es dazu … Wir arbeiten ja sehr eng mit der Opposition zusammen, führt das dazu, dass wirklich so eine Institution gegründet wird? Heute war es die …
Bürger: Gibt es dafür Anzeichen?
Rau: Das könnte gut sein. Also, heute war in der Aufführung hier in der Weltpremiere, hier in Locarno war die Schweizer Ministerpräsidentin auch da, mit der habe ich nachher lange gesprochen, das ist jetzt ein Beispiel. Wir werden das vor dem Schweizer Parlament aufführen, wir werden es auch vor dem Europäischen Parlament aufführen und mit denen dann versuchen, eine Gesetzgebung zu diskutieren, dass die mal installiert wird. Also, dass große Rohstofffirmen in ihren Heimatländern, also Deutschland oder Belgien, der Schweiz, dass die zur Rechenschaft gezogen werden können für das, was sie in anderen Ländern tun. Weil, die leben ja in totaler Straflosigkeit.
Bürger: Im "Kongo Tribunal" haben Sie jetzt wirklich alle Formate genutzt, mit denen Sie sich in den letzten 15 Jahren künstlerisch befasst haben, ich kenne kein anderes Projekt, das in dieser Breite multimedial die Öffentlichkeit sucht. Es gibt also das Dokumentartheater, den Film jetzt, ein Buch, ein Computerspiel, ein Online-Rechercheportal und ein Virtual-Reality-Projekt. Wie kam es zu der Idee, immer noch mehr aus diesem Projekt herauszuziehen und das so vielfältig weiterzuentwickeln?
Rau: Es war eigentlich schon am Anfang, als wir gedreht und gedreht und gedreht haben und dann plötzlich auf 400 Stunden saßen und das zu 100 Minuten … Jetzt war ich gerade im Schweizer Fernsehen, mit dem ZDF zusammen, für die müssen wir eine 53-Minuten-Fassung noch daraus schneiden. Und da war mir klar, wir brauchen ein Internetportal, wo diese 400 Stunden zugänglich sind. Also, gerade auch, weil das wirklich die ersten Verhöre sind, da sind teilweise unglaubliche Aussagen drin, also von der Weltbank bis eben runter zu irgendwelchen lokalen Machthabern, Rebellen und so weiter. Dass wir das verfügbar machen und dass wir auch auf allen Kanälen versuchen, da wirklich ein Wissen zu schaffen. Ich denke, die Frage des internationalen Rohstoffhandels ist die nächste große Frage, die auf Europa zuläuft, zumindest auf die Schweiz. Das wird die nächste große Debatte werden: Wie können wir eigentlich diese globale Wirtschaft gerechter oder nur schon weniger tödlich organisieren? Und dem müssen wir uns stellen. Und wenn man dazu eine Basis schaffen kann, ein Archiv, und auch sehr zugängliche Dinge wie eben dieses Virtual-Reality-Computerspiel, wo man einfach ein überlebender Zeuge von Muthaura ist, der quasi herausfinden muss, warum ist das eigentlich geschehen, wenn ich da etwas beitragen, das anstoßen kann, dann versuche ich, alle Kanäle zu bespielen.
Bürger: Der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo Rau über sein bislang größtes Projekt, "Das Kongo Tribunal". Heute hatte der Dokumentarfilm beim Festival in Locarno seine Weltpremiere, läuft dort in der Sektion "Semaine de la critique", dem Wettbewerb für Dokumentarfilme. Und es war wohl so erfolgreich, dass es einige Zusatzvorstellungen geben wird. Herr Rau, herzlichen Dank für das Gespräch!
Rau: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.