Minderjährige Flüchtlinge in den USA

Ein Heim als Ersatzfamilie

Ein Mädchen in einem Flüchtlingslager in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras.
Ein Mädchen in einem Flüchtlingslager in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras. © picture alliance / dpa / Roberto Schmidt
Von Kerstin Zilm |
Sie fliehen vor Gangs, Gewalt und Armut: Zehntausende Minderjährige kommen jedes Jahr aus Mittelamerika in die USA. Wer Glück hat, landet im Casa Libre in Los Angeles, ein Heim – und eine Art Ersatzfamilie mit hohem Bildungsanspruch.
Das Casa Libre ist riesig. Die gotische Villa wurde vor hundert Jahren für eine reiche Familie mit elf Kindern gebaut. Kronleuchter, hohe Gewölbedecken, holzverkleidete Wände, ein Kaminsims in der Eingangshalle. Hier leben vierzehn Teenager. Doch zu hören sind nur leise Stimmen aus dem zum Computerlabor umfunktionierten Wohnzimmer.
Drei Jungen wiederholen leise Sätze des Online-Englischunterrichts. Einer in weiten weißen Basketballshorts und blauem T-Shirt hat seine weiße Baseballkappe tief über kurzes Haar ins Gesicht gezogen. Er nennt sich Jesus. Den richtigen Namen will er nicht sagen. Er ist 17 Jahre alt, im letzten Sommer ohne Papiere aus El Salvador in die USA gekommen und mitten im Asylverfahren.
Wie Schwerverbrecher behandelt
"Ich bin allein gekommen und mein Ziel war es, zu arbeiten, damit meine Mutter Schulden bei der Bank bezahlen kann. Wir hatten jahrelang Geldprobleme, nicht genug zu Essen, keine Kleidung und keine Schuhe. Ich habe ihr gesagt, ich werde arbeiten, damit wir ein besseres Leben haben können."
Jesus telefoniert alle paar Monate ein paar Minuten mit seiner Mutter. Sein Traum, ihr Geld zu schicken und ein Haus zu kaufen ist nicht in Erfüllung gegangen. Er landete nach monatelanger Reise durch Mexiko in einem Jugendlager in den USA.
"15 Tage lang war ich in einer Zelle. Wir haben nur ein Sandwich und einen Saft pro Tag bekommen. Wir hatten Hunger, haben mal gefroren, mal geschwitzt, wussten nicht, ob es Tag oder Nacht war. Wir waren verwirrt und wütend, wollten abhauen. Dann haben sie mir Ketten um Hände, Füße und die Taille gelegt, als wäre ich ein Schwerverbrecher und mich nach New York gebracht."
"Viele dieser Jugendlichen haben niemanden – und das an sich ist schon ein Trauma"
Die Tante bei der Jesus leben sollte schickte ihn zur Großmutter nach Kalifornien. Nach sechs Monaten gab es dort Streit. Jesus zog aus, war obdachlos und fand Hilfe im Casa Libre. Dessen Direktor, Federico Bustamante – athletisch, Jeans und T-Shirt, dunkle Locken lässig zum Pferdeschwanz gebunden –, ist Ersatzvater und -bruder für die Jungs, die hier leben. Die meisten von ihnen flüchteten vor Gangbrutalität, Kriminalität und Armut in Guatemala, El Salvador oder Honduras. Freunde und Verwandte wurden getötet. In den USA landeten sie auf der Straße.
"Ich denke, kaum jemand hat versucht sich vorzustellen, wie das ist, niemanden zu haben, den man um Hilfe bitten kann. Niemanden! Keiner weiß, wie Du heißt. Keiner macht sich Sorgen, wie es dir geht. Keiner nimmt den Hörer ab, wenn du anrufst. Viele dieser Kinder haben buchstäblich niemanden und das an sich ist schon ein Trauma."
Yoga-Unterricht im Casa Libre
Yoga-Unterricht im Casa Libre© Deutschlandradio Kultur / Kerstin Zilm
Federico schaltet den Fernseher ein: Fußball. Vier Jungs lümmeln sich auf Stühlen vor dem Schirm. Einer, dünn, ganz in schwarz gekleidet, versteckt die Augen hinter langem schwarzen Haar. Ein anderer macht sich breit auf dem Stuhl in der Mitte des Raums, streckt seine Beine aus, faltet die Hände hinterm Kopf. Wenn die Jungs Hausaufgaben und Gartenarbeit erledigt, Küche und Toilette sauber gemacht haben und gute Noten nach Hause bringen, können sie in ihrer Freizeit machen, was sie wollen. Casa Libre, ein aus staatlichen Mitteln und privaten Spenden finanziertes Heim, versteht sich als Akademie, erklärt Direktor Federico Bustamante.
"Leider haben viele die falsche Vorstellung, dass diese Kinder höchstens Hilfskräfte oder Tagelöhner werden können. Das ist natürlich lächerlich. Wir alle werden mit bestimmten Talenten geboren und sind am glücklichsten, wenn wir diese ausleben können."
"Hi Cristian, this is Kerstin. I give her a quick tour ..."
Cristian, dünn, keine 1,60 Meter, weißes T-Shirt unter grauem Kapuzenpulli, kommt ins Büro. Der 21 Jahre alte Student aus Guatemala hat vier Jahre in Casa Libre gelebt. Seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. Er lebte bei der Großmutter. Die trank zu viel und prügelte ihn regelmäßig. Mit 13 Jahren floh Cristian zur Tante in Los Angeles.
"Wir dachten, ich würde einfach wie all die anderen Menschen ohne Papiere bleiben. Zwei Jahre haben wir uns um nichts gekümmert. Dann verlor meine Tante ihre Jobs und ich fand, es war zu viel verlangt, dass sie sich nicht nur um ihr Kind, sondern auch um mich kümmern soll."
Das Heim fördert Interessen und hilft beim Asylantrag
Casa Libre förderte Cristians Interesse am Theater und half mit seinem Asylantrag. Er studiert jetzt Bühnenbild. Die Großmutter ist gestorben und Cristian hat keinen Kontakt mehr nach Guatemala. Für ihn ist Casa Libre so viel mehr als ein Dach über dem Kopf.
"Wenn ich herkomme, fühle ich mich noch immer als Teil der Familie. Andere Heime sind Anstalten. Hier hast du das Gefühl, dass du jemandem wichtig bist und dass man dich wie Familie behandelt."
Zurück im Computerraum macht sich Jesus fertig fürs Ringkampf-Training. Er hat in Los Angeles seine Leidenschaft für den Sport entdeckt, Medaillen gewonnen und den zweiten Platz bei Städtemeisterschaften belegt. Sein Trainer sagt, er könnte es zu Olympischen Spielen schaffen.
Vierzehn Jungs aus Mittelamerika bekommen in dieser Villa die Chance, ein neues Leben aufzubauen. Zigtausende andere Minderjährige müssen einen anderen Weg aus der Hoffnungslosigkeit finden.
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