Lieber Boxer als Dieb
Noch vor zwei Jahren hatte Hamburg große Probleme mit minderjährigen Flüchtlingen, die in die Hansestadt kamen und dort zu Intensivtätern wurden. Die Stadt hat das in den Griff bekommen - auch mithilfe von Sportangeboten.
"Ja, ich komm aus Marokko, mein Heimatland ist Marokko und ich mit ein Schiff nach Deutschland gekommen. Das heißt ohne Passport, ohne nix, ohne Geld. Nur so, wie andere Flüchtlinge.
Ich hab zu meiner Mutter gesagt, dass ich nach die Schule gehe und sie sagte: 'Okay, Tschüss.' Ich bin nicht zur Schule gegangen, aber ich bin nach Spanien gefahren mit einem Bus. Das heißt mit einem Bus von Casablanca, meine Stadt, nach Melilla. Und dann, da gibt es Schiffe. Ich bin zu einem Seil geklettert. Ich habe mit paar Freunden das gemacht, mit einem Kollegen, einem Freund von mir. Und dann habe ich das geschafft und er hat es leider nicht geschafft. Und er ist noch in Marokko."
An einem Freitagnachmittag: Abdelhaq, 18-Jahre, vor der Brust verschränkte Arme, sitzt auf einem klapprigen Holzstuhl vor einem Boxclub im Hamburger Stadtteil Hammerbrook - ein Industrie- und Büroviertel südöstlich des Hauptbahnhofs. Abdelhaq kommt fast täglich zum Training hierher. Er ist ein schlanker junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren. Vor etwas mehr als zwei Jahren ist er von Marokko nach Deutschland geflohen.
"Mein Vater in Gefängnis, ja… in Marokko. Ja, das schon lange. Ich glaub seit 20 Jahren oder so."
Der Armut in der Heimat entflohen
Abdelhaq, der sich Abi nennt, ist hierhergekommen, um in seiner Heimat der Armut zu entgehen. Als er ankam, war er 15 Jahre alt - ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling. 4373 von ihnen sind allein in den vergangenen drei Jahren nach Hamburg gekommen. So viele wie nie zuvor. In seiner Anfangszeit in Hamburg gehörte Abi zu denen, die fast täglich Schlagzeilen produziert haben.
"Vor zwei Jahren waren wir nur in die Straße, haben wir geklaut, haben wir viele Sachen getan. Wegen Essen und sowas. Wir haben Handys geklaut. Geld. Leute Geld geklaut. Die Leute zum Beispiel kommen von Arbeit, dann, ja. Keine Chance.
Wir haben in Reeperbahn geklaut und auch manchmal in Steindamm. Überall in Hamburg... Ich weiß, das ist ein schlechte Sache, aber jemand zu Deutschland gekommen, hat kein Geld, keine Familie, 15 Jahre alt war. Normal."
Weil Abi minderjährig war, konnte er nicht abgeschoben werden. Für die Polizei war er ein sogenannter Intensivtäter.
"Wir bei uns in Hamburg sprechen von Intensivtätern dann, wenn sie mindestens zwei schwerwiegende Straftaten innerhalb von zwölf Monaten begangen haben."
Reinhold Thiede, Landesjugendbeauftrage der Hamburger Polizei.
"Dazu gehören dann besonders schwerer Diebstahl, Raub, räuberische Erpressung und dergleichen."
Reinhold Thiede - graues Haar, grauer Bart - ist ein ruhiger Mann. Bei der Polizei arbeitet er seit rund 40 Jahren. Er hat schon viel erlebt. Die vielen Straftaten der jugendlichen Intensivtäter in den vergangenen beiden Jahren waren aber auch für ihn eine Ausnahmesituation. Seine Beamten leisteten in dieser Zeit viel Präventionsarbeit.
"Was wir allerdings dann verstärkt gemacht haben, ist dass wir den Jugendschutz dann mit den Erstversorgungseinrichtungen in Kontakt gebracht haben, um den jungen Menschen zu zeigen, wie geht Polizei damit um. Ihnen aber auch zu sagen: Wo sind Grenzen?"
Eine kleine Gruppe, die viel Ärger machte
Auch Hans-Peter Steinhöfel, beim Hamburger Landesbetrieb Erziehung und Beratung für alle jungen Flüchtlinge bis zum 21. Lebensjahr zuständig, war von den vielen Straftaten der Jugendlichen überrascht.
"Also, es gab eine bestimmte Zeit, wo es losging, wo ganz viele Jugendliche aus Marokko kamen, aus Algerien, die wir erstmal kennenlernen mussten. Wir haben ihnen natürlich nicht angesehen, dass sie Straßenkinder sind und dass es ihnen fast unmöglich war Beziehungen aufzubauen, Empathie aufzubauen und wir sie pädagogisch nicht erreichen konnten."
Mehr als 2500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Syrien, Marokko, Algerien, Afghanistan, Eritrea oder dem Irak lebten damals zeitweise gleichzeitig in den Erstversorgungseinrichtungen Hamburgs. Die Stadt musste immer neue Einrichtungen eröffnen, um den Ansturm zu bewältigen. Zwischen 40 und 50 der Jugendlichen waren Intensivtäter. Eine kleine Gruppe – die viel Ärger machte.
"Sie haben sich nicht an die Regeln gehalten, sind gekommen, wann sie wollten, sie waren sehr fordernd, sie haben gesagt, sie wollen jetzt Geld, und wenn man sie geweckt hat, dann sind sie hoch aggressiv geworden, ham die Betreuer bedroht, sie haben sehr viel Sachbeschädigung gemacht. Wenn sie wütend wurden, wenn ihnen irgendwas nicht gepasst hat, haben sie Türen eingetreten."
Anfangs verteilten die Kollegen von Hans-Peter Steinhöfel die schwierigen Jugendlichen auf verschiedene Einrichtungen. Sie hofften, die Situation dadurch zu entschärfen. Doch das Gegenteil war der Fall und es kam in vielen Einrichtungen zu heftigen Auseinandersetzungen. Deshalb verlegte man diese Jugendlichen schließlich in eine gemeinsame Unterkunft, an den sogenannten Bullderdeich, mitten im Industriegebiet.
"Wir mussten natürlich auch überlegen: Wie können wir unsere Betreuer schützen? Und in dem neuen Konzept ist es so, dass die Jugendlichen und Betreuer, dass man sie voneinander trennen kann."
Heute nach Nationalitäten getrennt
Die Einrichtung besteht aus grauen Wohncontainern, umzäunt von Stacheldraht, bewacht von Sicherheitspersonal. Die Jugendlichen wohnen hier nach Nationalitäten getrennt. Der Bullderdeich gilt als härteste Unterkunft für jugendliche Flüchtlinge in Hamburg. Viele sagen, sie sei der letzte Stopp vorm Jugendknast. Journalisten lässt man nicht gerne rein, weil man durch diese kleine Gruppe nicht das Ansehen aller Flüchtlinge gefährden will. An Informationen über die Situation vor Ort kommt man nur über Dritte wie Hans-Peter Steinhöfel.
"Die Jugendlichen haben das angenommen, das heißt sie wissen genau, dass jeder Regelverstoß zur Anzeige gebracht wird oder auch Konsequenzen hat und das läuft jetzt ganz gut. Es ist natürlich klar bei diesen Jugendlichen, dass immer wieder was vorfällt. Das ist nicht auszuschließen und das ist auch nicht zu verhindern, aber es ist auf jeden Fall wesentlich besser und auch die Bedingungen für die Leute, die dort arbeiten, sind wesentlich besser."
Morgens stehen Deutschunterricht und soziales Kompetenztraining auf dem Stundenplan: Die Jungen sollen lernen, wie man Konflikte mit Worten statt mit Fäusten löst. Es gibt strenge Essenszeiten. Wer nicht kommt, bleibt hungrig. Wer sich an alle Regeln hält, darf nachmittags Sport machen und auch mal Fernsehen. Alle zwei Wochen kommt ein Jugendpsychiater, denn viele Jugendliche sind von ihrer Flucht und ihrem Leben in der Heimat traumatisiert.
"Wir wissen inzwischen, wie die Jugendlichen ticken und wir arbeiten gerade in dieser Einrichtung sehr viel mit Sprach- und Kulturmittlern, also mit Menschen, die aus dem Kreis oder aus dem Umkreis Marokko, Algerien, aus dieser Gegend kommen, das heißt die kennen die Kultur, die kennen auch diese Menschen können diese Sprache auch sprechen und wir arbeiten dort auch mit Pädagogen natürlich und auch mit erhöhtem Aufkommen von Securitas-Mitarbeitern."
Seitdem die kriminellen und besonders gewalttätigen Flüchtlinge am Bullerdeich zusammengelegt wurden, ist es in den anderen Unterkünften ruhiger geworden.
Sport für die jungen Intensivtäter
Zur Verbesserung der Situation beigetragen hat zusätzlich Christian Görisch, Gründer und Geschäftsführer des gemeinnützigen Boxvereins BoxOut. Im Auftrag der Stadt hat er vor knapp zwei Jahren ein Schul- und Sportprogramm für eine Gruppe nordafrikanischer Jugendlicher initiiert – allesamt Intensivtäter. Unter ihnen war auch Abi aus Marokko.
"Wir haben dort eine externe Lerngruppe, wo eben eine ordentliche Beschulung stattfand, eine Ganztagesbetreuung über acht Stunden, fünf Mal die Woche. Aber von Anfang an war klar, dass es sehr schwierig ist mit den Jugendlichen zu arbeiten, denn Montag ist der Tag, wo eigentlich fast keiner kommen wollte, weil das Wochenende da war. Und das Wochenende hieß feiern und am Ende Drogen nehmen und delinquente Sachen machen und nicht aus den Betten kommen."
Trotz schwieriger Voraussetzungen haben Christian Görisch und seine Kollegen etwas geschafft, woran die Betreuer in den Unterkünften gescheitert sind: Sie haben einen Zugang zu den Jugendlichen gefunden.
"Und an diese Jugendlichen ranzukommen, das schaffen wir über den Sport. Und ernst genommen werden sie eben auch besonders dadurch, weil wir nicht mit normalen Sozialpädagogen arbeiten, sondern wir arbeiten eher mit Sozialpädagogen von der Straße, die die Situation selber erlebt haben und entsprechend sich dort fortgebildet haben."
Obwohl das offizielle Programm vorbei ist, boxt Abi immer noch fast jeden Tag. Anfang des Jahres ist er Hamburger Jugend-Vize-Meister geworden. Christian Görisch ist stolz auf ihn.
"Die deutsche Sprache ist sehr gut geworden bei ihm, er ist nicht mehr delinquent und vor allen Dingen: er geht in die Schule."
Die Flüchtlingssituation in Hamburg hat sich insgesamt entspannt. Parallel zu den gesunkenen Flüchtlingszahlen im ganzen Land, kommen auch immer weniger unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hier an. Vor einem Jahr waren es in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Stadt noch mehr als 2500 Jugendliche. Mitte dieses Jahres nur noch gut 850.
"Wir haben mehrere Gründe dazu, ..."
… erklärt Reinhold Thiede von der Polizei.
"Einmal ist es so, dass ab dem 1. November 2015 wir in Hamburg auf Grund der neuen Regelung zum Thema unbegleitete Minderjährige kaum noch Minderjährige hier haben, weil seit diesem Zeitpunkt ist es möglich, die unbegleiteten Minderjährigen nach dem Königsteiner Schlüssel auf die anderen Bundesländer zu verteilen. Da Hamburg in den Vorjahren so viel hatte, werden die fast ausschließlich verteilt…"
Mehr Privatsphäre, weniger Konflikte
Mit der verringerten Gesamtzahl an Flüchtlingen ist auch der Anteil der kriminellen Jugendlichen kleiner geworden.
"Ja, sehr deutlich weniger. Wir haben 20 Prozent weniger Intensivtäter, die unbegleitete Minderjährige sind als im letzten Jahr."
Wenn der Bullerdeich im Hamburger Industriegebiet das Problembeispiel in Sachen Flüchtlingsunterkunft ist, ist die Einrichtung an der Stargarder Straße im Norden der Stadt das Paradebeispiel.
"Ja, die Zimmer sind… So sieht das jetzt hier aus. So war ausgerichtet für zwei Leute, da wird jetzt eine Veränderung kommen, da wird ein Ein-Bett sein. Schrank, Kühlschrank, noch ein Schreibtisch dazu besorgen. So dass die Jugendlichen sich hier einfach wohl fühlen, wie quasi Zuhause."
… erklärt Krzysztof Lewinksy, der die Einrichtung leitet. Nach und nach will die Stadt alle Unterkünfte für junge Flüchtlinge aufrüsten. Mit Ein- und Zweibettzimmern statt Massenunterkünfte mit Schlafsälen. Das Kalkül: Je mehr Privatsphäre, desto weniger Ärger und Auseinandersetzungen unter den Jugendlichen. An der Stargarder Straße scheint das meistens zu funktionieren.
"Am Anfang, als die Jugendliche herkamen, verschiedene Nationen und dann unter sich, konnten gewisse Sachen nicht klären. Sie konnten sich nicht artikulieren, das heißt in ihre eigene Sprache und da war einmal oder zwei Mal, aber durch unsere pädagogische Arbeit wir versuchen denen zu zeigen, ja, Gewalt ist nicht die richtige Lösung. Kann man sprechen miteinander."
14 Betreuer kümmern sich hier um insgesamt 34 Jugendliche aus Pakistan, Afghanistan, Eritrea, Ägypten und dem Irak.
Abi aus Marokko hat den Absprung aus der Kriminalität geschafft.
Das Boxen und die Regeln, die er durch seinen Trainer Christian Görisch gelernt hat, haben ihm geholfen, eine Struktur in sein Leben zu bringen. Im Frühjahr will er seinen Hauptschulabschluss machen. Wie soll es danach weitergehen?
"Zuerst, ich möchte gerne hier in Boxout arbeiten. Als Trainer vielleicht. Und ich versuche mal, dass ich beim Boxen weitermache. Weiterboxe."
Mit 18 können sie abgeschoben werden
Ob er wirklich hier arbeiten kann, ist ungewiss. Denn Abi ist vor wenigen Wochen 18 Jahre alt geworden. Weil der deutsche Bundestag sein Heimatland Marokko im Mai dieses Jahres als sogenanntes "sicheres Herkunftsland" eingestuft hat, kann er jetzt jederzeit abgeschoben werden.
"Wir sollen nochmal mit Ausländerbehörde reden, wie das geht. Weil kann sein morgen, kann sein übermorgen. Weiß nicht genau."
Einen Funken Hoffnung hat Abi noch. Er setzt großes Vertrauen in seinen Box-Trainer Christian Görisch.
"Christian hilft mir. Gott und Christian."