Suizid mit religiösem Sinn?
Nach dem Axt-Angriff eines Flüchtlings in einem Regionalzug bei Würzburg ist nach wie vor nicht genau geklärt, was den jungen Mann genau motiviert hat. Wie kann man minderjährige Flüchtlinge vor dem Einfluss von Extremisten bewahren? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, sagt Thomas Mücke vom Violence Prevention Network.
Im Fall des Axt-Angriffs eines jungen Flüchtlings in einem Regionalzug ermittelt nun die Bundesanwaltschaft. Es bestehe der Verdacht, "dass der Attentäter die Tat als Mitglied des sogenannten Islamischen Staats zielgerichtet begangen hat", so die Behörde. Ein aufgetauchtes Video, in dem der junge Mann Rache an Ungläubigen schwört, wird als echt betrachtet.
Einfach zu analysieren ist die Motivlage des jungen Mannes dennoch nicht. Es könne auch ein Amoklauf gewesen sein, der dann politisch etikettiert worden sei, sagte Thomas Mücke vom Violence Prevention Network im Deutschlandradio Kultur. War der Jugendliche hochgradig "ideologisiert" oder wollte er sein Leben beenden und dem Suizid wenigstens noch ein wenig "Sinn" geben? Eine Frage, die laut Mücke nun geklärt werden muss.
Junge Flüchtlinge vor Extremisten zu bewahren – dafür gibt es laut Mücke kein Patentrezept, keine "Checkliste". Man bemerke den Einfluss vor allem in Gesprächen, so Mücke – wenn "Ungläubige" für den Verlauf des eigenen Lebens verantwortlich gemacht würden, "sollte man aufmerksam zuhören", sagte der Experte. Auch Zurückgezogenheit und Depressionen seien Erkennungszeichen, auf die machen achten sollte.
Das Gespräch im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Würzburg und weitere Wendungen – wer war der Täter, was hat ihn bewogen, zur Axt zu greifen, unschuldige Menschen zu verletzen? Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen übernommen, weil man glaubt, der junge Mann war mehr als nur traumatisiert.
Er war, das ist der Verdacht, möglicherweise sogar Mitglied des IS. Was auch immer es war, die Radikalisierung des jungen Mannes geschah offenbar, ohne dass das jemandem in seinem Umfeld aufgefallen wäre. Wie können wir so was verhindern?
Thomas Mücke ist mit Fragen wie diesen täglich konfrontiert. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Violence Prevention Network, dessen Projekt "Al Manara" er auch leitet, ein Projekt zur Beratung und Begleitung minderjähriger Flüchtlinge. Guten Morgen, Herr Mücke!
Thomas Mücke: Guten Morgen!
Frenzel: Wie können Helfer Tendenzen der Radikalisierung wahrnehmen?
Mücke: Wichtig ist, dass man doch in einem direkten Gespräch mit den Jugendlichen drin ist, denn es gibt keine Checkliste, an der man das erkennen kann. Man merkt das eigentlich in den Gesprächen, und in den Gesprächen, wenn dann darüber gesprochen wird, dass man das Gefühl hat, dass es Ungläubige gibt, die an meinem Leben schuld sind, so, wie es verlaufen ist, dann sollte man aufmerksam zuhören. Und auch natürlich, wenn man merkt, diese Menschen sind zurückgezogen, sind hochgradig depressiv, machen vielleicht auch die eine oder andere Aussage dahingehend, dass das Leben keinen Sinn macht. Das sind so Erkennungszeichen, die man dann wahrnehmen sollte.
Die Flüchtlingshelfer sind oft überfordert
Aber letztendlich sind Helfer und auch diejenigen, die mit den Flüchtlingen zu tun haben, nicht selten auch überfordert in der Einschätzung dieser Situation. Das heißt, wenn sie denn eine erste Einschätzung haben, es könnte etwas nicht stimmen, dann ist es wichtig, mit den entsprechenden Beratungsstellen in Kontakt zu treten, denn die können dann tatsächlich konkret sagen, ob hier wirklich eine Gefährdung vorliegt oder nicht.
Frenzel: Was kann man dann tun, wenn man das merkt, wenn man das Gefühl hat, da ist ein junger Mann auf Abwegen?
Mücke: Erst mal geht es darum, dass man erst mal versucht zu erkennen, hat dieser Mensch überhaupt mit dem Extremismus schon mal Kontakt. Es gibt ja einige – es ist ja wirklich eine überschaubare Menge, nebenbei gesagt –, die einfach auch hier an die falschen Leute geraten sind, das heißt, die hier auch in extremistisch orientierte Moscheen hineingehen.
Und da hilft es manchmal auch, andere religiöse Orte zur Verfügung zu stellen, wo sie hingehen können, wo sie dann einen Islam auch zu hören kriegen, der nichts mit Extremismus zu tun hat.
Das andere ist, man muss natürlich auch genau schauen, dass diese Jugendlichen, die ja sich vereinzelt fühlen und von ihren Eltern entwurzelt sind, diese brauchen wirklich Gesprächspartner. Da hilft es auch – wir haben auch Mitarbeiter, die zum Beispiel auch Arabisch sprechen –, da hilft es auch, eine gemeinsame Sprache zu haben.
Frenzel: Wenn Sie sagen, an falsche Leute geraten – wie passiert denn so was? Was sind Ihre Erfahrungen? Gibt es da auch direkte, ich würde sagen, Anwerbeversuche?
Extremisten versuchen, Jugendliche anzuwerben
Mücke: Es gibt diese Anwerbeversuche. Und natürlich, die Jugendlichen, die hier in dieses Land hineinkommen, sind ja schutzlos ausgeliefert. Sie werden ja aus den Bereichen durchaus auch der organisierten Kriminalität angesprochen und versucht, sie zu instrumentalisieren. Und sie können ja auch nicht erkennen, ob jemand ein Extremist ist oder ob er kein Extremist ist.
Und natürlich kann es dann passieren, dass sie in dieser Gruppe erst mal emotional warm aufgenommen werden, und das befriedigt erst mal ihre emotionalen Bedürfnisse. Das heißt, sie wissen manchmal gar nicht, an wen sie geraten. Die extremistische Szene macht diese Charmeoffensive, sie macht auch den Versuch, mit diesen Menschen auch in Kontakt zu treten. Aber man muss auch sagen, sehr oft auch nur mit wenig Erfolg.
Frenzel: Die Tat von Würzburg geschah ja kurz nach Nizza, nach diesem schrecklichen Attentat dort. Glauben Sie, es gibt so etwas wie einen Nachahmereffekt, dass junge Leute, die in einer Situation sind, wie Sie sie beschrieben haben, also unsicher, vielleicht traumatisiert, vielleicht schwer enttäuscht von den Dingen, die sie erleben, dann auf einmal über die Medien wahrnehmen, da kann man wenigstens für einige Tage zum Helden werden?
Mücke: Ja, das kann möglich sein. Das sind zwei Punkte, die man betrachten muss. Es ist anders als das Attentat in Nizza, und es ist andererseits auch das, dass er anscheinend eine schicksalhafte Nachricht bekommen hat. Das können Impulsgeber sein. Es besteht immer die Gefahr von Trittbrettfahrern.
Der IS schleust Attentäter ein
Wir wissen ja im Fall von Würzburg nicht, ist es ein Amoklauf gewesen, der politisch-extremistisch noch mal etikettiert wird, oder ist er tatsächlich extremistisch motiviert gewesen, das heißt, ist dieser Jugendliche wirklich hochgradig ideologisiert gewesen oder hat er einfach versucht, mit seinem Leben abzuschließen und dem Versuch noch im Nachhinein einen Sinn zu geben? Das sind offene Fragen, die noch geklärt werden müssen.
Frenzel: Diese Spekulation darüber, ob Jugendliche wirklich gezielt nach Deutschland, nach Europa geschickt werden als Flüchtlinge, um hier quasi als Schläfer dann irgendwann als Terroristen aufzutreten – halten Sie das für glaubhaft?
Mücke: Das ist Strategie des IS gewesen. Damit muss man davon ausgehen, dass einige davon hier eingeschleust worden sind, auch über die Flüchtlingswege, bewusst aus Strategie des IS, um zu versuchen, hier nachher auch die Zuschreibung an Flüchtlinge zu machen und die Gesellschaft weiter zu polarisieren. Terroristische Organisationen haben immer die Intention, Gesellschaften zu spalten und zu polarisieren. Das ist durchaus eine mögliche Strategie, das ist nicht nur Spekulation.
Frenzel: Thomas Mücke vom Violence Prevention Network. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.