Mindestlohn statt Armutsfalle
Der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums hat sich gegen Mindestlöhne ausgesprochen. Der Staat müsse eingreifen, meint dagegen Konstantin Sakkas. Viele Menschen könnten von ihrer Arbeit nicht leben, auch keine Familie ernähren oder gar fürs Alter vorsorgen.
Es ist schon fast eine Binsenweisheit der "Nuller Jahre": Immer mehr Menschen in Deutschland können von ihrem Einkommen nicht leben. Dabei geht es nicht um die Möglichkeiten einer gehobenen Lebensführung, sondern um die allernotwendigste existenzielle Grundversorgung: Miete, Strom, Nahverkehr, Kleidung - ein gewöhnliches Durchschnittseinkommen von 1000 bis 2000 Euro netto ist da schnell aufgebraucht. Jede kleine Extrabelastung, wie neue Brillengläser oder eine Autoreparatur, reißt viele sofort in die Schulden.
Deutschland hat seit der Einführung des Euro - allen statistischen Behauptungen zum Trotz - eine rasante Inflation erlebt. Das Prekariat hat sich weit in die Mittelschicht hineingefressen. Immer mehr junge Paare verzichten auf Kinder, weil sie sie sich schlich nicht "leisten" können.
Viele, die vor einer Generation noch fest in Lohn und Brot gewesen wären, haben heute schon einmal Erfahrung mit dem Bezug von Sozialleistungen gemacht. Zugleich schwindet aufgrund fallender Zinsen und stagnierender Einkommen der finanzielle Spielraum der Elternhäuser, um ihre Kinder bei der Existenzgründung zu unterstützen.
Der Gesetzgeber erwartet stillschweigend, dass Kinder so lange wie möglich bei den Eltern wohnen oder von diesen unterstützt werden. Eine akademische Ausbildung ohne elterliche Förderung bis kurz vor dem 30. Geburtstag ist in Deutschland faktisch kaum möglich - ein bedenkliches Faktum in der Bildungsrepublik Deutschland.
Zeitgleich steigen die Anforderungen der Wirtschaft an die Kreditwürdigkeit des Einzelnen. Viele Freiberufler und geringfügig Beschäftigte aus allen gesellschaftlichen Kreisen können trotz jahrelanger Berufserfahrung keinen selbstständigen Mietvertrag abschließen, weil sie keine ausreichende Bonität vorweisen können. Das Anforderungsniveau von Banken und Geschäftspartnern an den Menschen steigt antiproportional zu seinen Möglichkeiten, ihm gerecht zu werden.
Wenige Nischen ausgenommen, gleicht die heutige Berufswelt einem Gladiatorenkampf, in dem dauerhaft nur derjenige mit der meisten Ausdauer und der größten Schmerzresistenz eine Chance hat. Die anderen gehen unter. Für die Zukunft vorsorgen muss dabei jeder selber; die Riesterrente hat sich als gigantischer Flop erwiesen, auf viele von uns wartet im Alter die Armut.
Entsprechend sehen die psychischen Folgen dieser Prekarisierung aus. Burnout, Depressionen und stressbedingte Erkrankungen wie Angststörungen, Bipolarität oder das Borderline-Syndrom sind heute weitverbreitet. Der Konsum von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, von Antidepressiva, oft auch von leistungssteigernden Drogen gehört für viele bereits in jungem Alter dazu; sie könnten sonst das alltägliche Chaos nicht bewältigen. Verdeckter Alkoholismus ist bei Bauarbeitern wie bei Spitzenanwälten ein alltägliches, konsequent beschwiegenes Phänomen.
Wer im Beruf nicht tadellos funktioniert, fliegt raus. Großen Spielraum für Auszeiten gibt es für die meisten nicht, Kummer und Schmerz müssen zu Hause verarbeitet werden. Daran wiederum zerbrechen tagtäglich unzählige Liebesbeziehungen. Schließlich führt existenzielle Not, gerade bei Männern, häufiger als man denkt zur Drift in die Kriminalität, sei es aus Verzweiflung oder weil sie mit dem Stress nicht richtig umgehen können. Die finanzielle Abhängigkeit von den Eltern bis weit ins Erwachsenenleben hinein wirkt zudem für viele traumatisierend und blockiert wichtige Ablösungsprozesse.
Was sagt uns das alles? Es muss sich dringend etwas ändern an unserem Wirtschaftsleben. Das Ideal der Vollbeschäftigung entpuppt sich in Zeiten von Leiharbeit und Scheinselbständigkeit endgültig als Chimäre; ebenso der Traum, von seinem Verdienten auskömmlich leben zu können, jedenfalls unter den gegebenen Bedingungen.
Der Staat muss sich endlich trauen, in das Wirtschaftsleben wieder aktiv einzugreifen: sei es durch einen Mindestlohn oder durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Vor allem das Grundeinkommen ist seit etwa zehn Jahren Thema einer breiten Diskussion. Die Politik, das heißt: die etablierten Parteien - und bislang kann man die Piraten hierzu nicht zählen - sollte endlich anfangen, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen.
Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.
Deutschland hat seit der Einführung des Euro - allen statistischen Behauptungen zum Trotz - eine rasante Inflation erlebt. Das Prekariat hat sich weit in die Mittelschicht hineingefressen. Immer mehr junge Paare verzichten auf Kinder, weil sie sie sich schlich nicht "leisten" können.
Viele, die vor einer Generation noch fest in Lohn und Brot gewesen wären, haben heute schon einmal Erfahrung mit dem Bezug von Sozialleistungen gemacht. Zugleich schwindet aufgrund fallender Zinsen und stagnierender Einkommen der finanzielle Spielraum der Elternhäuser, um ihre Kinder bei der Existenzgründung zu unterstützen.
Der Gesetzgeber erwartet stillschweigend, dass Kinder so lange wie möglich bei den Eltern wohnen oder von diesen unterstützt werden. Eine akademische Ausbildung ohne elterliche Förderung bis kurz vor dem 30. Geburtstag ist in Deutschland faktisch kaum möglich - ein bedenkliches Faktum in der Bildungsrepublik Deutschland.
Zeitgleich steigen die Anforderungen der Wirtschaft an die Kreditwürdigkeit des Einzelnen. Viele Freiberufler und geringfügig Beschäftigte aus allen gesellschaftlichen Kreisen können trotz jahrelanger Berufserfahrung keinen selbstständigen Mietvertrag abschließen, weil sie keine ausreichende Bonität vorweisen können. Das Anforderungsniveau von Banken und Geschäftspartnern an den Menschen steigt antiproportional zu seinen Möglichkeiten, ihm gerecht zu werden.
Wenige Nischen ausgenommen, gleicht die heutige Berufswelt einem Gladiatorenkampf, in dem dauerhaft nur derjenige mit der meisten Ausdauer und der größten Schmerzresistenz eine Chance hat. Die anderen gehen unter. Für die Zukunft vorsorgen muss dabei jeder selber; die Riesterrente hat sich als gigantischer Flop erwiesen, auf viele von uns wartet im Alter die Armut.
Entsprechend sehen die psychischen Folgen dieser Prekarisierung aus. Burnout, Depressionen und stressbedingte Erkrankungen wie Angststörungen, Bipolarität oder das Borderline-Syndrom sind heute weitverbreitet. Der Konsum von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, von Antidepressiva, oft auch von leistungssteigernden Drogen gehört für viele bereits in jungem Alter dazu; sie könnten sonst das alltägliche Chaos nicht bewältigen. Verdeckter Alkoholismus ist bei Bauarbeitern wie bei Spitzenanwälten ein alltägliches, konsequent beschwiegenes Phänomen.
Wer im Beruf nicht tadellos funktioniert, fliegt raus. Großen Spielraum für Auszeiten gibt es für die meisten nicht, Kummer und Schmerz müssen zu Hause verarbeitet werden. Daran wiederum zerbrechen tagtäglich unzählige Liebesbeziehungen. Schließlich führt existenzielle Not, gerade bei Männern, häufiger als man denkt zur Drift in die Kriminalität, sei es aus Verzweiflung oder weil sie mit dem Stress nicht richtig umgehen können. Die finanzielle Abhängigkeit von den Eltern bis weit ins Erwachsenenleben hinein wirkt zudem für viele traumatisierend und blockiert wichtige Ablösungsprozesse.
Was sagt uns das alles? Es muss sich dringend etwas ändern an unserem Wirtschaftsleben. Das Ideal der Vollbeschäftigung entpuppt sich in Zeiten von Leiharbeit und Scheinselbständigkeit endgültig als Chimäre; ebenso der Traum, von seinem Verdienten auskömmlich leben zu können, jedenfalls unter den gegebenen Bedingungen.
Der Staat muss sich endlich trauen, in das Wirtschaftsleben wieder aktiv einzugreifen: sei es durch einen Mindestlohn oder durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Vor allem das Grundeinkommen ist seit etwa zehn Jahren Thema einer breiten Diskussion. Die Politik, das heißt: die etablierten Parteien - und bislang kann man die Piraten hierzu nicht zählen - sollte endlich anfangen, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen.
Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.