Aufkleber mit Sensor bringt Dinge zum Sprechen
Sprechende Bushaltestellen, Ampeln, Türschilder, Medikamente und sogar Gefriergut, das sagt, wann es abläuft – das klingt nach Spielerei, ist es aber nicht. Ein Informationssystem, das mit dem Smartphone bedient wird, leistet genau das.
"Welcome to MindTags. MindTags makes it possible to create and retrieve multimedia information and place that information on NFC Transponders."
Weil Erich Thurner mehrere Sprachen fließend spricht, kann er den Werbespot auf seiner Homepage auch gleich selbst vertonen. Mit hellbraunen Augen blickt er mich an, als könnte er sehen. Und in der Tat ist Erich Thurner – 46 Jahre alt, Glatze, große Hände - nicht blind:
"Mein Visus ist am ehesten beschreibbar mit impressionistischer Malerei, das heißt ich erkenne alles sehr schemenhaft, wobei Sie jetzt vor mir mit dem Sessel eine Einheit geworden sind."
Um zu arbeiten, zieht er einen überdimensionalen Monitor mit Schwenkarm dicht zu sich heran. Bis an die Nasenspitze, dann kann er die vielfach vergrößerte Schrift lesen. Erich Thurner installiert die kostenlose und barrierefreie MindTags-App auf seinem Handy, das natürlich eine Sprachausgabe hat.
"Er ist von der Sprachqualität ein bisschen schneller gestellt. Es funktioniert, wunderbar."
Das Prinzip: Die Nutzer halten ihr Smartphone an einen sogenannten Tag – einen Aufkleber mit einem Sensor. Der ist so groß wie eine Euromünze und kann an einem Kühlschrank kleben, an einem Türschild oder einer Ampel. In dem Tag sind Informationen gespeichert: Selbst aufgenommene oder zuvor von anderen gespeicherte. Diese werden nun per Funk auf das Smartphone übertragen. Die Technik dahinter nennt sich NFC - Near Field Communication. In Deutschland kommt sie meist für das bargeldlose Zahlen kleiner Beträge zum Einsatz, zum Beispiel in der Mensa oder bei der Bahn.
"Kommt rein. Na, wir lassen doch unseren Erich nicht allein!"
Unsere Testpersonen treffen ein: Silja Korn, perfekt geschminkt, eine schicke Sonnenbrille, begleitet wird sie von ihrem Ehemann Guido. Sie arbeitet als Erzieherin in einer Kita. Und Dirk Sorge, ein schlanker junger Mann, schwarz gekleidet. Er hat den sogenannten Röhrenblick, sein Sehfeld ist auf etwa 30 Grad eingeschränkt. Beide haben keine Smartphones, sondern alte Modelle, verstehen aber, was ihr Freund vorhat. Ampelanlagen oder kulturelle Attraktionen zum Sprechen zu bringen.
Zum Beispiel den Berliner Zoo, den Botanischen Garten oder die Eastside-Gallery.
Dirk Sorge: "Für mich wäre der Einsatz am interessantesten in Ausstellungen und Museen, weil ich selber auch Künstler bin und selbst mit dem Problem konfrontiert bin, wie kann ich denn die Ausstellung barrierefrei machen, ohne riesenlangen Großdrucktext an der Wand zu haben oder lange Texte Braille-Schrift zu haben. Aber woher weiß ich denn, wo dieser Tag ist, also wie finde ich den als Blinder?"
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverein informiert auf seiner Homepage über technische Neuerungen - also auch über mögliche Tags an Ampelanlagen oder in Museen.
Türschilder sind eine Hürde für Blinde
Wir schreiten zum ersten Versuch: das Türschild vom Büro erfassen. Türschilder sind eine Hürde für Blinde, um eine gewünschte Person oder beispielsweise eine Toilette zu finden. Erich Thurner bringt den Tag an, der zudem mit Brailleschrift versehen ist. Dirk Sorge fährt mit der Rückseite des Handys darüber - in einem Abstand von ungefähr vier Zentimeter – deshalb der Slogan – MindTags, just a touch.
"Die Büroräume sind wochentags täglich zwischen 8.30 Uhr und 19 Uhr geöffnet. Wir haben tägliche Sprechzeiten zwischen 12 und 14 Uhr …, ahm, super."
Zweiter Versuch: Wir gehen zu einer Bushaltestelle. Erich Thurner pappt den Aufkleber mit Sensor auf den Fahrplan und hält das Handy daran.
"Benachrichtigung: Bushaltestelle der Linie 347 zum Ostbahnhof. Der nächste Bus kommt planmäßig in sieben Minuten. MindTags just a Touch."
Genau darum geht es Erich Thurner: um Autonomie. Dass blinde Menschen teilhaben am gesellschaftlichen Leben, dass sie rausgehen, arbeiten, Kultur nutzen. Aber genau das wird ihnen oft verwehrt – selbst beim Museumsbesuch müssen sie sich anhören:
"Was wollen Blinde denn überhaupt in einem Museum? Die sollen doch besser zu Hause sich das in Ruhe anhören, dann ist das Unfallrisiko niedriger, Wikipedia sei viel aussagekräftiger, bei uns gibt es nichts anzufassen."
Das war ihm Ansporn: Im April wird das Museum für islamische Kunst im Pergamonmuseum MindTags einsetzen.
Wieder zurück im Büro. Bisher haben wir die Informationen nur abgerufen. Jetzt will Erich Thurner zeigen, wie man den Transponder auch aktiv nutzen kann, als Sprachbox. Silja Korn nimmt das Handy und klickt sich durchs Menü, bis ein Rekorder erscheint.
Schaltfläche Audio aufnehmen: "Ja, du kannst jetzt sprechen."
"Guido, ich gehe gleich zur Arbeit und habe schon fast alles erledigt, aber bist du bitte so nett, noch einzukaufen, wir brauchen noch Milch, Butter und Marmelade."
Silja hält das Handy an den NFC-Tag und auf dem Tag wird ein Internet-Link hinterlegt. Damit kann man die Sprachnachricht auch von unterwegs aktualisieren. Das ist das "One Touch“ Prinzip, sagt Erich Thurner nicht ohne Stolz. Zweieinhalb Jahre lang tüftelte der Familienvater an seiner Erfindung, zusammen mit seinem Team aus Programmierern und einem Designer, unterstützt von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Drei Preise hat Erich Thurner für MindTags bekommen. Auch unsere drei Testpersonen sind begeistert, Guido Korn als Sehender denkt dabei eher an die touristische Nutzung.
"Ich finde es genial. Wenn ich der Sprache nicht mächtig bin, halte ich das Ding da ran und es wird mir vorgelesen. Ich finde es einfach genial."
"Ich finde es gerade an Haltestellen extrem praktisch und allgemein zur Orientierung in der Stadt würde es mir auf jeden Fall helfen. Es kann den Alltag und das Leben auf jeden Fall erleichtern."