"Die Wirklichkeit spielt unser Drehbuch nach"
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In Christian Alvarts Serie "Sløborn" breitet sich eine tödliche Krankheit auf einer Insel aus. Viel vom echten Leben im Corona-Modus nimmt sie vorweg: "Teilweise ist es mir bei den Nachrichten kalt den Rücken heruntergelaufen", so der Regisseur.
Patrick Wellinski: Dass die Coronapandemie als Filmstoff herhalten wird, war nur eine Frage der Zeit. Die ersten Versuche sind bereits in Produktion. Nächsten Donnerstag startet bei ZDF Neo aber eine achtteilige Mini-Serie, die ihrer Zeit voraus war. Regisseur Christian Alvart erzählt in "Sløborn" von den Bewohnern einer Nordseeinsel, die plötzlich von einer tödlichen Taubengrippe heimgesucht werden. Dabei bedient die Serie "Sløborn" weniger das Genre Katastrophenfilm, sondern nimmt sich viel Zeit, die Abgründe hinter der Fassade der Inselbevölkerung zu erkunden. Herr Alvart, wie sah die Genese zu Ihrer Mini-Serie "Sløborn" aus, die ja ihrer Zeit voraus war?
Alltag und Katastrophe
Christian Alvart: Der Anstoß kam, als ich 2008, 2009 in Hollywood war. Da hatte ich nach meinem Film "Antikörper" einige tolle Angebote und war in meinem persönlichen Leben und in meiner Karriere so ein bisschen auf einem Gipfel und habe sehr fokussiert daran gearbeitet. Gleichzeitig gab es in Mexiko und in Südkalifornien eine Schweinegrippe und sehr apokalyptische Nachrichtenbilder und bizarre Dinge wie Geisterspiele beim Fußball, also alles, was man jetzt wieder kennt.
Ich fand das eine absurde Beobachtung, dass die Presse und die Fernsehsender eigentlich ein bisschen von der Apokalypse sprechen und ein bisschen sagen "Ist das jetzt die globale Pandemie, die wir alle seit Jahren befürchten", gleichzeitig aber der Alltag der Menschen davon nicht geprägt ist – so wie meiner eigentlich eher von der Karriere geprägt war, ein anderer Freund war in einer Scheidung, es gibt Leute, die sich gerade verlieben. Und selbst die Geisterspiele sind ja bizarr, weil man sagt, es ist zu gefährlich, jetzt Fußball zu spielen, aber die Punkte wollen wir nicht liegen lassen.
Ich fand das eine interessante Beobachtung und habe da einen Kern gespürt für eine Sache, die man ruhig weiterverfolgen kann. Und so ist "Sløborn" zu einem Teil entstanden.
Der andere Teil war der Untergang der koreanischen Fähre "Sewol", der mich in meinem Autoritätsglauben erschüttert hat. Ich war so der Typ, wenn ich beim Arzt war und der Arzt hat gesagt "Machen Sie das und das", dann habe ich das so gemacht, wie der Arzt gesagt hat. Ich habe gesagt, das ist der Experte, es ist einfach schlau, sich auf den Rat von Experten zu verlassen.
Und bei diesem koreanischen Untergang hatte die Crew den Passagieren gesagt, sie sollen unbedingt in den Kabinen bleiben: Und die Leute, die die Anweisungen befolgt haben, sind in großer Zahl gestorben. Leute, die sich widersetzt haben und aus Angst trotzdem an Deck gegangen sind, konnten gerettet werden. Mich hat danach die Frage beschäftigt, inwieweit wir eine eigene Verantwortung haben, selbst wenn uns Experten oder Institutionen oder die da oben etwas sagen, genau das infrage zu stellen und vielleicht unser Gehirn nicht auszuschalten. Das waren so die zwei Kernelemente für die Serie.
Mini-Serie statt Film
Wellinski: War die Komplexität dieser Elemente auch der Grund, warum "Sløborn" jetzt eine Mini-Serie geworden ist, also ein achtstündiges Werk und kein zweistündiger Film?
Alvart: Genau. Es gibt ja ein Genre im Kino, das ich sehr mag und schon als kleines Kind gerne geschaut habe, mit dem Untergang der Poseidon, der übrigens auch diese Fragen stellt. Am Anfang gibt es eine ganz beeindruckende Sequenz, wo Gene Hackmann dazu aufruft, sich doch bitte nach unten beziehungsweise inzwischen nach oben durchzuschlagen – das Schiff ist ja durch eine Riesenwelle umgedreht. Und die Leute bleiben einfach unten im Ballsaal nach Schema F, diese Entscheidung, diese Überlegung hat mich immer sehr geprägt.
Was ich aber schade finde in diesem Genre, ist, dass man eigentlich zwanzig Minuten hat, um die Figuren einzuführen, und dann der Rest eigentlich schon der Action unterworfen ist, dem Diktat der Aktion. Dass das Leben uns ablenkt, dass die Nachrichtenlage, die potenziell lebensbedrohlich ist, Hintergrundrauschen ist, diese komplexe Idee kann man nur erzählerisch zum Ausdruck bringen, wenn der Zuschauer genauso in die Leben investiert hat, das heißt, wenn ihm der Ausgang von Handlungsbögen nicht egal ist.
Deswegen werden oft im Katastrophenfilm so kleine Dilemmas eingeführt: Das Paar kommt an Bord des Flugzeugs und hat eine Ehekrise – aber das wird so angerissen, und eigentlich ist einem das egal, man möchte jetzt das Flugzeug endlich abstürzen sehen. Das wollte ich auf gar keinen Fall, weil das der Idee zuwidergelaufen wäre.
Deswegen habe ich gesagt, es muss eine Serie sein. Wir müssen uns Zeit nehmen und wir müssen es schaffen, dass der Zuschauer die Figuren liebgewinnt, deren Probleme ernst nimmt und sich dafür interessiert, wie diese Handlungsstränge enden, sodass, wenn dann der Virus kommt, es wie eine Attacke eines anderen Genres ist. Deswegen ist es eine Drama-Serie, weil es zunächst mal um die Leben unserer Figuren auf dieser kleinen Insel geht.
Fiktive Nordseeinsel "Sløborn"
Wellinski: Diese Insel fand ich sehr spannend. Das ist ja eine fiktive Nordseeinsel, "Sløborn", im Grunde eine ganz gewöhnliche Ferieninsel. Was war Ihnen bei der Konzeption dieses Ortes wichtig?
Alvart: Zunächst mal, dass es eine prototypische deutsche Gemeinschaft ist, also dass es keine Aussagen gibt über die Leute auf Norderney oder die Leute auf Borkum, sondern dass es wirklich frei davon ist, sodass wir auch frei erzählen können. Und weil ich immer auch die Bilder wichtig finde und ein Regisseur bin, der sehr großen Wert auf das Design, die Location, auf die Wirkung des Bildes legt, war mir natürlich wichtig, dass wir da frei sind in der Gestaltung, uns die Orte zusammenzusuchen.
Ich habe immer gesagt, es muss ein Ort sein, zu dem wir gerne hinwollen, also eigentlich ein Sehnsuchtsort. Diese Nordseeinseln, die wir haben, sind ja beliebte Ausflugsziele. Ich wollte da eine eigene Magie reinbringen.
Außerdem fand ich spannend: Es ist ja im dänischen Grenzgebiet, es ist Deutschland, aber wir haben auch eine Historie entwickelt für diese Insel. Da war ich ein bisschen inspiriert von meinem Film "Abgeschnitten", der ja auf Helgoland spielt. Und Helgoland hat ja eine bewegte Geschichte und hat schon öfter zu verschiedenen Nationen gehört. Und so war das bei "Sløborn" auch, was früher mal dänisch war und jetzt auch eine dänische Minderheit enthält.
Jeder Mensch hat Geheimnisse
Wellinski: Wie groß ist Ihre Faszination am Entblättern einer scheinbar heilen Fassade? Denn so kam mir die Serie auch vor: Die Insel, ein klassischer Touristenort, wo Leute Ferien machen, wo man Windsurfen kann, wo es nachts Lagerfeuer am Strand gibt und so weiter, und dann zeigen Sie auch Drogen, Gewalt, Exzesse – die sind ja schon da in der Bevölkerung.
Alvart: Genau, die sind schon da. Aber das glaube ich auch. Ich bin ja als Kind sehr viel umgezogen und habe da eigentlich festgestellt, dass – egal, ob man von der Großstadt aufs Land zieht oder von Hessen ins Sauerland – man immer wieder dieselben Menschen und Strukturen trifft, wenn man Gemeinsamkeiten sucht. Natürlich gibt es auch Unterschiede, wenn man sich darauf konzentrieren will. Aber wenn man so als Kind dauernd umzieht, hält man sich, glaube ich, so an den Dingen fest, die man wiedererkennt.
Ich bin ein Riesenfan von David Lynchs Arbeit aus den 80er-Jahren, wo er mit "Twin Peaks" so etwas Ähnliches getan hat. Ich finde das total spannend, weil ich glaube, dass diese heile Fassade eben, wie das Wort sagt, immer nur die Fassade ist. Ich glaube, dass jeder Mensch Sorgen, Schmerzen und Nöte hat und dass man auch überall dunkle Geheimnisse finden kann. Nicht, dass jeder Mensch böse ist, aber Geheimnisse, die man nicht ans Licht gezerrt haben will, gibt es auf jeden Fall.
Kein Land der Welt war vorbereitet
Wellinski: Wir sehen ja eine ungewollte Teenagerschwangerschaft, eine Gruppe krimineller Jugendlicher, es gibt Mutproben und Autorenlesungen auf dieser Insel. Da hatte ich schon das Gefühl, dass diese Taubengrippe, die dann mit einem Segelboot und einem toten, älteren Ehepaar auf diese Insel kommt, eher eine Art Brandbeschleuniger ist, also etwas, das diesen "Sündenpfuhl" offenlegt.
Alvart: Ja, das stimmt. Aber es war für mich auch wichtig zu zeigen, dass die Leute eben abgelenkt sind. Es ist natürlich ein Brandbeschleuniger. Ich wollte da sehr, sehr genau sein – es war ja nicht abzusehen, dass jetzt durch Corona Deutschland unfreiwillig zu Zuschauerexperten ausgebildet wurde. Als ich vor zwei Jahren ganz konkret angefangen habe, diese Serie mit den Partnern zu entwickeln, und als sie verkauft war, da ging es darum, sich zu informieren, sodass sich nicht später, wenn die Serie ausgestrahlt wird, lauter Virusexperten und Epidemieforscher zu Wort melden und sagen, das ist ja alles Quatsch.
Wir haben uns in unseren Recherchen mit vielen Experten getroffen und diese befragt. Es war erschreckend, dass der Tenor dieser Szene war, dass sich kein Land der Erde ausreichend darauf vorbereitet, was das denn eigentlich bedeutet, dass die Kapazitäten sehr, sehr schnell an ihre Grenzen stoßen und dass das auch alle wissen. Und dass eine Überforderung sehr früh eintreten kann, wenn so eine ernsthafte Epidemie kommt. Und das war, gerade als Horrorfilmfan, sehr erschreckend.
Da lag auch ein Horror drin, dass wir diese Bedrohung nicht so ernst nehmen. Das ist auch gar kein Geheimnis, sondern all das, was mir diese Experten gesagt haben, wenn man das googelt, findet man das auch. Wenn man Zeiträume weit vor Corona googelt, gibt es ganz viele Warner und Mahner, die sagen, wir müssen uns auf diese Gefahr mehr vorbereiten, weil durch Globalisierung, durch anderes Reiseverhalten, durch das Auftauen von Permafrostböden und Gletschern überall Viren entstehen und sich auch viel schneller verbreiten als früher und dass das einfach eine reale Gefahr ist.
Deswegen ist es auch zwar ein Brandbeschleuniger, aber ich sehe das nicht nur als Metapher – sondern auch als eine reale Bedrohung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.
"Die Serie kommt zur rechten Zeit"
Wellinski: Wie ist das für Sie jetzt als Geschichtenerzähler, der stark recherchiert hat, um diese Handlungsabläufe und Verhaltensweisen von Menschen in Extremsituationen wiederzugeben, wenn Sie jetzt ein Publikum haben, das sehr gut geschult ist mit dem Horror einer realen Pandemie? Was passiert da jetzt? Würden Sie sagen, Sie hätten Dinge anders gemacht oder sind Sie gespannt, wie Leute darauf reagieren. Haben Sie Angst, dass der gewisse Horror oder Thrill sich vielleicht weniger einstellt?
Alvart: Nein, ich habe keine Angst zum jetzigen Zeitpunkt, denn die Ausstrahlung ist ja in einer Woche. Ich finde, die Serie kommt noch zur rechten Zeit und im rechten Maß daher, aber das ist ein bisschen Zufall. Wenn Corona sehr viel schrecklicher wäre, als es ohnehin schon ist, hätte es natürlich auch sein können, dass die Serie zur Unzeit kommt. Und da bin ich jetzt doch sehr erleichtert als Geschichtenerzähler, dass es das nicht ist.
Als Mensch bin ich natürlich allgemein froh, dass Corona nicht diese schlimmen Auswirkungen hat, die es haben kann, wenn ein anderer, vielleicht tödlicherer Virus unterwegs ist. Es ist immer noch schlimm genug, aber es ist vielleicht auch ein Weckruf an die Gesellschaften, sich mit diesem Thema Pandemie anders auseinanderzusetzen – und an die Bevölkerung vielleicht ein Weckruf, ihre Verwundbarkeit anders festzustellen.
Für mich ist es auf jeden Fall, um auf den Kern der Frage zu kommen, sehr, sehr seltsam gewesen, dass teilweise Dinge, die im Autorenroom – also wenn man zusammen ist und diskutiert, was sind wahrscheinliche Szenarien – dass also Dinge, die im Room oft als extreme Entwicklungen wahrgenommen wurden, alle auch so eingetreten sind: Es war beispielsweise schon umstritten, ob dann Menschen anfangen, einfach den Experten nicht mehr zu glauben, und sich weigern, sich so zu verhalten, wie es dem Allgemeinwohl dient. Und ob dann Verschwörungstheorien starten und behaupten, dass der Virus doch vielleicht selbst gezüchtet sei von der Regierung und all diese Dinge. Das kommt ja in der Serie vor.
In den letzten Monaten haben sich auch schon Prominente so geäußert, dass ich sage, die könnten direkt aus unserer Serie entsprungen sein. Da ist es mir dann schon teilweise beim Lesen der Nachrichten echt kalt den Rücken heruntergelaufen. Ich habe gedacht, das gibt's doch gar nicht, die Wirklichkeit spielt unser Drehbuch nach. Das habe ich noch nie erlebt.
Und alle Beteiligten, die das wussten – da sind ja dann doch 300 Leute an so einer Serie beteiligt – haben sich auch ständig geschrieben, Nachrichten gesendet, Links geschickt, weil es für uns eine sehr bizarre Erfahrung war. Eine der Darstellerinnen hat gesagt, sie wartet im wirklichen Leben immer darauf, dass endlich einer Cut ruft.
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