Miriam Toews: "Die Aussprache"
Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark
Hoffmann und Campe 2019
256 Seiten. 22 Euro
Einblicke in eine verschlossene Welt
05:34 Minuten
In ihrem Roman „Die Aussprache“ erzählt die Kanadierin Miriam Toews vom sexuellen Missbrauch innerhalb einer mennonitischen Gemeinde und von der Debatte unter den dort lebenden Frauen: Sollen sie vergeben, kämpfen oder fliehen?
Lange Zeit dachten die Frauen der mennonitischen Gemeinde in Bolivien, Dämonen würden sie nachts heimsuchen: Blutend und voller Schmerzen wachten sie morgens auf, ohne Erinnerung an die Nacht. Tatsächlich wurden zwischen 2005 und 2009 über hundert Mädchen und Frauen zwischen fünf und 65 Jahren wiederholt betäubt und vergewaltigt. Nicht von Außenstehenden, nicht von Dämonen, sondern von acht Männern aus ihrer Gemeinde.
Die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews ist selbst in einer mennonitischen Gemeinde in Kanada aufgewachsen, die sie mit 18 Jahren verlassen hat. Ihr Roman "Die Aussprache" ist – wie sie schreibt – "eine fiktionale Reaktion (…) als auch ein Akt der weiblichen Phantasie" zu diesen Vorfällen. Er erzählt, wie acht Frauen in Molotschna zwei Tage zusammensitzen, um eine Entscheidung zu treffen: nichts tun, bleiben und kämpfen oder weggehen?
Da sie selbst weder schreiben noch lesen können, werden ihre Gespräche von einem Mann protokolliert, der zugleich als Erzähler fungiert. August Epp wurde einst verstoßen, hat in Europa gelebt und ist vor kurzem nach Bolivien zurückgekehrt.
Ein Angriff auf Körper und Glauben
Es ist eine konstruierte Ausgangssituation, in der der Erzähler intellektuelle Verweise liefert und die Frauen charakterlich allzu sorgfältig angeordnet sind: Ona ist eine Träumerin, die als verrückt gilt. Ihre jüngere Schwester Salome ist aufbrausend, die kämpferische Mariche dagegen nimmt die Schläge ihres Mannes hin.
Dennoch erlaubt diese literarische Anordnung, gleichermaßen die Mechanismen dieser patriarchalen, archaischen Gesellschaft und der Lebensweise der Frauen als auch ihre Persönlichkeiten zu erforschen. Sie leben in der Überzeugung, dass die Frau dem Manne zu dienen hat. Mit den Vergewaltigungen wurden nicht nur ihr Körper angegriffen, sondern auch ihr Glaube: Sie sollen als Jungfrauen in die Ehe gehen, was nun nicht mehr möglich ist.
Der Bischof von Molotschna verlangt Vergebung von ihnen, damit die Männer in den Himmel kommen. Wie aber sollen sie vergeben, wenn die Männer noch nicht einmal um Verzeihung gebeten haben? Und wie sollen sie wissen, dass sie fortan sicher leben?
Was Männer am meisten fürchten
In ihren Gesprächen werden tiefgründige Fragen über Unschuld, Glauben und Überzeugungen sichtbar. Zugleich zeigen sich immer mehr Grausamkeiten der Vorfälle und die Begrenzungen der Welt, in der sie leben. Doch allein, dass Frauen an diesem Ort zusammenkommen und miteinander sprechen, ist schon eine Rebellion. Denn eines fürchten von Männern beherrschte Gesellschaften stets, egal in welcher Zeit: Frauen, die miteinander reden und sich verbünden.