"Sie haben gelebt wie Gefangene"
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Acht misshandelte Frauen ergreifen das Wort: Der Roman "Die Aussprache" von Miriam Toews basiert auf Verbrechen in einer Mennoniten-Gemeinde in Bolivien. Dort seien sie ihren Peinigern völlig ausgeliefert gewesen, erzählt die Schriftstellerin.
Joachim Scholl: Die Kanadierin Miriam Toews ist Jahrgang 1964, eine vielfach preisgekrönte Schriftstellerin. Auch ins Deutsche wurden ihre bislang sechs Roman übersetzt, jetzt gibt es einen neuen: "Die Aussprache" heißt er. Acht vergewaltigte, furchtbar misshandelte Frauen diskutieren hier über ihr Schicksal, ihr weiteres Leben und wie mit den Tätern umzugehen ist. Alle leben zusammen in einer mennonitischen Gemeinde in einer ganz eigenen abgeschotteten religiösen Welt.
Im Studio ist die Autorin Miriam Toews. Ihr Roman basiert auf einem realen Fall, der sich vor zehn Jahren in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien ereignet hat. Können Sie uns kurz schildern, was damals geschehen ist?
Miriam Toews: Es geht um Ereignisse, die sich zwischen 2005 und 2009 in dieser mennonitischen Kolonie ereignet haben. Dort sind viele Frauen plötzlich aufgewacht und haben sich selber wund und blutig wiedergefunden, sie hatten Abdrücke von Fesseln an den Handgelenken, an den Fußgelenken und konnten sich das überhaupt nicht erklären. Dann haben sie aber, weil das verschiedenen Frauen passiert ist, miteinander gesprochen und sich darüber ausgetauscht, was da passiert ist.
Das Problem war nur, dass ihnen von den mennonitischen Führern nicht geglaubt wurde. Man hat sie nicht ernstgenommen, man hat ihnen sogar selber die Schuld dafür zugeschoben. Man hat gesagt, dass sie vom Teufel besessen waren, dass es eine Strafe war, eine teuflische Strafe für Dinge, die sie begangen hätten. Das lief über lange Zeit so, bis dann schließlich zwei dieser Vergewaltiger geschnappt worden sind, sozusagen auf frischer Tat ertappt worden sind und somit dann diese Geschichte ans Licht kam.
"Sie haben einen sehr starken Glauben"
Scholl: Das jüngste Opfer war drei Jahre alt, alle Vergewaltiger waren Ehemänner, Väter, Brüder, Nachbarn. Im Roman jetzt hat die Gemeinde diese Männer, diese Täter, den Behörden übergeben. Auf Kaution sollen sie allerdings entlassen werden, in die Gemeinde zurückkehren, und man verlangt nun von den Frauen, dass sie den Männern vergeben, denn sonst kämen die nicht in den Himmel, könnten nicht in den Himmel kommen. Wenn sie das nicht tun, die Frauen, den Männern vergeben, werden sie selbst aus der Gemeinde vertrieben.
Das ist natürlich, Miriam Toews, für Außenstehende ein skandalöses, himmelschreiendes Unrecht. Die Frauen akzeptieren aber diese Tatsache. Wie kann das sein?
Toews: Absolut. Sie schlagen sich auch lange mit diesen Fragen herum, wie sie jetzt damit umgehen, diese acht Frauen, um die es geht. Wie beantworten sie das, wie gehen sie mit diesen Verbrechen um, wie können sie diese Verbrechen vergeben. Es geht ja nicht nur darum, dass den Männern das Schicksal droht, nicht in den Himmel zu kommen, es heißt ja von der bischöflichen Seite aus bei den Mennoniten, dass auch die Frauen, die nicht vergeben, selber nicht in den Himmel kämen.
Das stellt für sie ein ernsthaftes Problem dar, denn ihnen ist das alles sehr wichtig. Sie haben einen sehr starken Glauben. Sie haben nur sehr kurze Zeit zu entscheiden, was sie machen können, was eine Lösung ist, bei der sie selber in Sicherheit sind, bei der auch ihre Kinder in Sicherheit sind, und bei der gewährleistet ist, dass sie tatsächlich das ewige Leben im Himmel erlangen werden.
"Kein Wunder, dass solche Verbrechen passieren"
Scholl: Erzählen Sie uns ein bisschen von diesem Glauben, Miriam Toews. Die Mennoniten sind eine evangelische Freikirche, in der ganzen Welt gibt es Gemeinden. Sie selbst sind in einer mennonitischen Gemeinde aufgewachsen. Wie müssen wir uns das Leben einer Frau dort vorstellen?
Toews: Ja, das stimmt, ich bin selber in einer mennonitischen Gemeinde aufgewachsen, in einer der ersten mennonitischen Siedlungen in Kanada, die es überhaupt gegeben hat. Das war auch konservativ, autoritär, patriarchalisch und religiös geprägt, aber anders als die Kolonien in Südamerika, denn dort sind die wirklich Ultrakonservativen, Ultraorthodoxen sozusagen hingegangen, und es waren geschlossene Gemeinschaften. Die Frauen dort waren ungebildet, sie waren meistens Analphabeten, sie konnten die Landessprache nicht dieser lateinamerikanischen Länder, hatten also auch keinerlei Mittel zur Verfügung, wenn es darum ging, sich Hilfe von außen zu holen für Probleme, die es zum Beispiel gab, wie jetzt diese Vergewaltigungen in dem Fall.
Sie hatten keine Autorität von außen, die ihnen hätte helfen können, nur die Führer der Kolonie, und wenn die ihnen nun eben nicht geglaubt haben, dann hatten sie keine Chance. Sie waren tatsächlich in diesen Kolonien Bürger zweiter Klasse. Sie haben gelebt wie Gefangene dieser ultrakonservativen Gemeinschaft. Sie waren ihren Brüdern und Ehemännern und Vätern einfach komplett ausgeliefert. Das hat man gesehen, dass tatsächlich bei diesem authentischen Fall sogar bei den Gerichtsverfahren den Frauen von der Gemeinschaft nicht erlaubt wurde, selber in ihrem Fall auszusagen.
Das heißt, die Männer mussten für sie aussagen. Dann ist es natürlich kein Wunder, dass solche Verbrechen passieren in einer so systematischen Entmenschlichung der Frauen, dass eine derartig fundamentalistische Interpretation der Schriften zu so einer Frauenfeindlichkeit führt, ist dann kein Wunder.
"Frauen hatten keine Stimme"
Scholl: Im Roman können die Frauen weder lesen noch schreiben. Da denkt man als Leser natürlich sofort, das kann nicht wahr sein. Wie haben Sie sich denn dort gefühlt, Miriam Toews? Sie sind ja schließlich gegangen. Wie konnten Sie sich denn loslösen, befreien?
Toews: Die Gemeinschaft, in der ich aufgewachsen bin, war zwar sehr konservativ, aber sie war nicht so konservativ wie die Gemeinschaften in Südamerika. Es war schon so, dass Regeln sehr wichtig waren und dass die Kirche ein Riesenmaß an Kontrolle hatte über alles. Aber es kam auch auf die einzelnen Führer, auf die einzelnen Ältesten und so weiter an, wie diese Kontrolle ausgeübt wurde, was dann erlaubt war und was nicht und welche Regeln wie stark umgesetzt worden sind.
Die Regeln waren schon sehr wichtig, und es gab auch auf jeden Fall eine frauenfeindliche Grundlage. Frauen hatten keine Stimme, aber es gab Bildung für Frauen. Wir sind zur Schule gegangen. Worauf man ein bisschen herabgesehen hat oder was man nicht wollte für Frauen, war höhere Bildung, also zur Universität zu gehen, das war nicht besonders gern gesehen, das wirkte verdächtig, wenn man sowas gemacht hat. Aber ich hatte das Glück, dass meine Eltern verhältnismäßig liberal waren und vor allem meine Mutter mich vor diesen Oberen geschützt hat.
Als ich dann den Wunsch hatte wegzugehen, hat sie das auch unterstützt. Mein Vater hatte ein bisschen Angst, als dann beide Schwestern, also meine Schwester und ich, die Gemeinschaft verlassen haben, weil er nicht genau wusste, wie es uns draußen ergehen würde, aber was wir klar wussten, war, dass wir in der Gemeinschaft nicht wir selber sein konnten und definitiv nicht Schriftstellerinnen. Zu gehen war auch wirklich nicht einfach, und es hat auch wirklich eine Weile gedauert, bis wir uns daran gewöhnt haben.
"Es bricht mir das Herz, sowas zu sehen"
Scholl: Was die Frauen diskutieren im Roman wird von einem Mann festgehalten, protokolliert. August heißt er, der Lehrer der Gemeinde, ein Außenseiter, aber auch weil er die Gemeinde schon einmal verlassen hat. Er gilt nur als halber Mann, auch die acht Frauen nehmen ihn nicht so für ganz voll. Im Grunde bestätigen sie dadurch auch das Geschlechtersystem. Worauf, Miriam Toews, gründet eigentlich dieses beinharte patriarchalische Prinzip, diese reine Unterdrückung, die ja schließlich auch christlichen Prinzipien von Liebe, Mitleid, Demut voll zuwiderläuft?
Toews: Das ist etwas, worüber ich immer nachgedacht habe, worüber ich geschrieben habe, worüber ich gesprochen habe, seit ich ein Teenager war. Ich hatte ja eine wirklich tolle Kindheit, ich war frei, ich konnte tun, was ich wollte. Das war ein schönes Leben, aber als ich dann Jugendliche war, habe ich gesehen, was das alles ist, was da passiert, diese ganze Patriarchie, diese zwei Welten, dass Frauen keine Stimme haben, wie mit ihnen umgegangen wird.
Dieses Aufoktroyieren von Schuld, diese Strafe, die man bekommt, diese Verletzung, die Menschen erleiden, den Schaden, den Leute erleiden mussten, die ich lieb gehabt habe, aus meiner Familie, aus meiner Umgebung und so weiter. Das alles mit anzusehen, diese Heuchelei, das ist etwas, worüber ich bis zum Schluss, bis zu meinem letzten Atemzug reden werde, denke ich. Es bricht mir das Herz, sowas zu sehen und zu hören, wie dauernd in der Kirche gepredigt wird, wie erzählt wird vom Glauben, den man hochhalten muss, dass man Gutes tun soll, dass man den anderen lieben soll, dass man auch noch die andere Wange hinhalten soll, gutherzig sein soll und so weiter.
Dann aber zu sehen, was hinter geschlossenen Türen passiert, wie Vorkommnisse unter den Teppich gekehrt werden, gerade von den Führern, denen ja immer die Öffentlichkeit, die öffentliche Wahrnehmung sehr wichtig ist, das Bild, das die Gemeinde nach außen hin abgibt. Man möchte als diese perfekte gottgläubige Gemeinschaft dastehen.
Natürlich ist das auch möglich, gibt es auch einzelne Menschen, die diesem Ideal entsprechen, die echt den Glauben leben und wirklich gutherzig sind und voller Mitgefühl für die anderen ihr religiöses Leben leben. Aber das ist nicht die Regel. Dieser strafende Aspekt der Gemeinschaft, der so vielen Menschen geschadet hat, ist leider sehr stark im Vordergrund.
"Es gibt diese Angst vor dem Machtverlust"
Scholl: Wir sind im Gespräch mit der kanadischen Schriftstellerin Miriam Toews über ihren Roman "Die Aussprache", der von einem grausamen Verbrechen an Frauen in einer mennonitischen Gemeinde erzählt. Über Jahre wurden acht Frauen nachts betäubt und dann von ihren Vätern, Ehemännern, Nachbarn vergewaltigt. Sie haben von Ihrer eigenen Befreiung, Miriam Toews, Loslösung von dieser engen religiösen Welt in einem autobiografischen Roman erzählt, "Ein komplizierter Akt der Liebe", "A complicated kindness". Damit sind Sie auch bei uns bekannt geworden, und damals haben Mennoniten durchaus positiv reagiert auf das Buch.
Wie ist das jetzt denn mit dieser "Aussprache"? In Kanada stand das Buch auf Platz eins auf der Beststellerliste, die Kritiker haben den Roman gefeiert. Das Buch wurde in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Gab es Reaktionen von mennonitischer Seite?
Toews: Ja, es gab solche Reaktionen, es gab zwei Arten von Reaktionen. Bevor ich mein Buch schrieb – da muss ich noch einen Schritt zurückgehen –, machte ich ja auch Lesungen mit meinem anderen Buch, zu dem auch Mennoniten gekommen sind, und dort haben wir dann über diese Ereignisse in Bolivien gesprochen, habt ihr davon gehört, und was denkt ihr, was man tun kann, was kann man machen. Viele der Frauen sagten dann, wir können beten.
Ich weiß jetzt nicht genau, wie viel das bringt, aber ich respektiere das, aber dann haben auch welche gesagt, man kann in die Bildung investieren, man kann versuchen, ihnen zu helfen, ihnen zu assistieren, weiterzukommen – und du kannst schreiben, haben sie zu mir gesagt. So habe ich meinen kleinen Teil der Konversation zu diesem Thema beigetragen, möchte ich sagen, mit diesem Buch. Ich habe auch viel Unterstützung bekommen von mennonitischen Frauen, vor allem Frauen, aber auch von Männern, auch von religiös konservativen Männern und Frauen, die gesagt haben, das ist wenigstens ein Anfang. Wir fangen an, zu reden, und es gibt eine Hoffnung, dass wir uns da weiterentwickeln können.
Aber es gab auch Mennoniten, die das sehr kritisch gesehen haben. Das waren dann vor allem Männer, die es lieber gehabt hätten, dass ich gar nicht erst schreibe oder dass ich auch gar nicht laut spreche. Dieses Thema begleitet mich eigentlich meine ganze Karriere über. Es tut weh zu sehen, dass es nicht zugelassen wird, Selbstkritik zu üben. Wenn wir uns als Familie sehen, als Gemeinschaft, muss man doch ein Interesse daran haben, Fehler aufzudecken und sich zu verbessern und die Gemeinde nach vorne zu bringen.
Aber da gibt es diese Angst, diese Angst vor dem Machtverlust, dass diese Geschichten das Image der Mächtigen bedrohen können. Deswegen gibt es Mittel wie das Ruhigstellen und diese Schande zu vermitteln, damit Frauen eben leise sind und unterdrückt bleiben und sich an diese Regeln weiterhin halten. Auf der anderen Seite hat die Unterstützung, die ich bekommen habe, sehr geholfen, und in diesem Sinne denke ich, hoffentlich wird es irgendwann auch Veränderungen geben.
"So einfach ist das eben nicht immer"
Scholl: Ihren Roman liest man dennoch, Miriam Toews, als eine einzige große Anklage. Sie sprechen am Ende aber in einem kleinen Nachwort allen Frauen und Mädchen, die in solchen patriarchalen, autoritären Gemeinden leben, Ihre Hochachtung und Ihren Respekt aus. Ich habe mich gefragt, müssen Sie nicht eigentlich allen mennonitischen Frauen besser sagen, lasst euch das nicht länger gefallen, wie ihr behandelt werdet, geht weg, schon im Namen der Menschenrechte?
Toews: Ja, das wäre durchaus eine logische Schlussfolgerung, das zu sagen, aber so einfach ist das eben nicht immer. Was in diesen mennonitischen Gemeinden passiert oder in anderen fundamentalistischen Gemeinschaften, wo Frauen auf diese Art und Weise unterdrückt werden, das ist ein Thema, mit dem man nicht ganz einfach umgehen kann. Also mir geht es darum, meine Solidarität mit diesen Frauen zu zeigen. Das ist auch Ziel des Buches.
Es ist natürlich die Versuchung da, zu sagen, geht weg, lasst euch das nicht länger gefallen, kehrt dem Ganzen den Rücken zu, aber das ist ein Schritt, der ungemein groß ist. Es erscheint vieles auch sehr gefährlich, was passiert. Es gibt ja tatsächlich auch Frauen, die von den mennonitischen Gemeinden im Ausland gekommen sind und in Kanada um Asyl gebeten haben, denen dieses Asyl auch gewährt worden ist, denn man weiß, was mit ihnen passiert wäre, wenn sie wieder zurückgeschickt worden wären. Aber manche können einfach auch nicht so ohne Weiteres gehen.
Man muss wirklich wissen, dass diese Gemeinden sehr isoliert sind. Es gibt dort keine Autos, es gibt Pferde und vielleicht Planwagen oder sowas, aber sie können ohne die Hilfe der Männer oftmals gar nicht weg. Aber das ist die vertraute Umgebung. Jeder hat ja schließlich auch das Recht, seine Religion zu praktizieren, und natürlich nicht das Recht, Frauen anzugreifen. Aber das ist ein sehr schwieriger Weg, und einfach nur ihnen zu sagen, ihr solltet so nicht leben, geht weg, das ist auch paternalistisch, das so darzustellen.
Es ist schon schwer, wie man da seine Solidarität zeigen kann. Ich kann ihnen eine Stimme geben, ich kann sie unterstützen, wenn sie gehen wollen, aber es muss immer noch ihre eigene Entscheidung bleiben.
Scholl: Bleiben, kämpfen oder gehen – darüber diskutieren die acht Frauen zwei Tage lang im Roman, dann treffen sie eine Entscheidung, sie nehmen ihr Schicksal in die eigenen Hände. So viel dürfen wir verraten. Die realen Täter in Bolivien übrigens, die konnten nicht einfach so zurückkehren in die Gemeinde, sie wurden zu 25 Jahren Haft verurteilt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.