Mirko Bonné: "Seeland Schneeland"
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2021
443 Seiten, 24 Euro
Liebesgeschichte mit blindem Passagier
05:21 Minuten
Eine Auswanderergeschichte nach dem Ersten Weltkrieg und ein unerfülltes Begehren: Mirko Bonné verbindet in "Seeland Schneeland" den Abenteuerroman à la Jack London mit einer impressionistischen, teils mythischen Auslotung von Gefühlswelten.
Mirko Bonné hat neben Gedichten und Erzählungen bereits sechs Romane veröffentlicht, und es fallen dabei vor allem zwei Schwerpunkte auf: Da ist zum einen die französische Sphäre, mit impressionistischen Tupfern und einer geheimnisvollen Vagheit, die bestimmte Gefühlslagen genau konturiert – und zum anderen das Britische, das auf Handlung und Thrill großen Wert legt. In erstaunlicher Weise sind diese beiden Sphären aber nie strikt getrennt, die eine verbindet sich leicht mit der anderen.
Bonnés neuester Roman "Seeland Schneeland" knüpft ganz direkt an "Der eiskalte Himmel" von 2006 an. Dort ging es um die mythische Trans-Antarktik-Expedition des britischen Haudegen Sir Ernest Shackleton von 1914 bis 1916, und schon damals spielte die Figur des Merce Blackboro eine herausragende Rolle – als 17-jähriger, der sich als blinder Passagier an Bord geschlichen hatte.
Prägnante psychologische Skizzen
In "Seeland Schneeland" treffen wir diesen Merce Blackboro, der sich durch seine Initialen als nicht nur ironische Spielfigur des Autors Mirko Bonné ausweist, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in seiner Heimatstadt Newport an der walisischen Küste an, und immer noch ist er in die erratische Figur der Ennid Muldoon verliebt.
Sie hatte während jener Zweijahresexpedition einen britischen Jagdflieger geheiratet, der in den letzten Kriegstagen getötet wurde, aber sie gibt Blackboro unmissverständlich zu erkennen, dass er keine Chance bei ihr hat – obwohl sie kurz vor seinem Gang ins Eis einmal hektisch mit ihm schläft. Ihre Auswanderung in die USA, ihr Aufbruch mit dem Überseedampfer "Orion" aus Portsmouth im März 1921, ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.
Bonné gelingen sehr dichte Schilderungen des Kleinstadt- und Familienlebens in Wales, prägnante psychologische Skizzen der Figuren, und er verschränkt das Milieu um Blackboro kunstvoll mit der Figur des US-amerikanischen Tycoons Diver Robey (und dessen Diener Bryn Meeks), der zunächst in Wales auftaucht und dann ausgerechnet mit demselben Schiff wie Ennid zurückreisen möchte.
Manchmal knirschen die Scharniere
Der Schneesturm, der die "Orion" dann erfasst, die Natur- und Wetterschilderungen, die detailgetreue Wiedergabe der technischen Möglichkeiten von Schiffen und Flugzeugen vor genau hundert Jahren, sind nur der Jack London- oder auch Herman Melville-hafte Hintergrund für abenteuerliche Gefühlswirren und -schwankungen, in deren Verlauf die verrückte Bindung von Merce, diesem blinden Passagier des Liebeslebens, zu Ennid immer magischer wird.
Zu dieser Liebe passen einige mythische Einsprengsel im Romangeschehen, merkwürdige Mädchenstimmen etwa, oder ein paar blinde Motive – und manchmal hört man auch die Scharniere zwischen den Erzählebenen knirschen. Doch spannend und entrückend ist dieser Text allemal, und am Schluss ist es verlockend, die verheißungsvoll losen Enden der einzelnen Stränge miteinander zu verknüpfen und neue Fragen zu stellen.