Miroslav Krleza: "Die Fahnen"

Die atemberaubenden Rochaden der kroatischen Intelligenz

Straßenszene im Zagreb der Dreißiger Jahre
Straßenszene im Zagreb der Dreißiger Jahre © dpa picture alliance
Von Jörg Plath |
Ein Epochenbild des Balkan - auf über 2000 Seiten gespiegelt in einem Generationenkonflikt. Das Opus Magnum "Die Fahnen" des Universalgelehrten Miroslav Krleza liegt jetzt auf Deutsch vor. Der sprachliche Furor reißt mit.
In den fünf Bänden dieses monumentalen Romans wütet der Sturm der europäischen und Balkangeschichte. Miroslav Krlezas (1893-1981) "Die Fahnen" erzählt vom Scheitern des kroatischen Unabhängigkeitsstrebens: Aus dem "Vielvölkergefängnis" Österreich-Ungarn gerät das Land nach dem Ersten Weltkrieg in das serbisch dominierte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.

Ein Universalgelehrter wie Goethe

In "Die Fahnen" tobt jedoch keine Schlacht, kein Attentäter ermordet den österreichischen Thronfolger, kein Häftling schmachtet in Pešter oder Belgrader Verliesen. Krleža erzählt die historischen Ereignisse nicht nach, er bricht sie im Spiegel eines Generationenkonflikts: Kamilo de Emerički steht als oberster Würdenträger, als Ban, in den Diensten der Ungarn, die Kroatien beherrschen, und wird nach 1918 Minister im Königreich der drei Balkanvölker. Er dient der Macht, der Ordnung, gegen die sein Sohn aufbegehrt: Kamilo der Jüngere sympathisiert mit den serbischen Widersachern des k.u.k.-Imperiums, wendet sich aber wegen ihrer Gräuel im zweiten Balkankrieg 1913 von ihnen ab und wird zum Kommunisten. Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten eilt der Vater dem öfter in Lebensgefahr geratenden Aufrührersohn immer wieder zu Hilfe.
Krleža, dessen Bedeutung als Intellektueller, Schriftsteller und Universalgelehrter an Goethe denken lässt, verpflanzt seine Protagonisten nicht in die bekannten historischen Kulissen. Aus der Perspektive eines besetzten Landes mit unsicherem Selbstbewusstsein im Schatten Westeuropas stellt sich das Geschehen ohnehin anders dar. Zudem verfügen die enzyklopädisch gebildeten Figuren über die Gabe der Rede in einem solch exzeptionellen Maße, wie sie dem Autor selbst nachgesagt wurde. "Die Fahnen" ist eine seltene Mischung aus Epochenbild und Gesellschaftsroman, Bewusstseins- und Konversationsroman – einem höchst geschliffenen, ähnlich Musils "Mann ohne Eigenschaften".

Mitreißender Sprachfuror

Die Eloquenz muss man nicht mögen – man kann sie schätzen lernen dank der Übersetzer Silvija Hinzmann und Gero Fischer. Der Roman hält sich von beinahe aller Aktion fern, die über eine Fiakerfahrt hinausgeht. Den Worten aber gibt er sich hin: im gedrechselten Kanzleiton des älteren Kamilo und in den geschmeidigen Hypertaxen des jüngeren, in den hitzigen Konvulsionen des Poeten und Bombenwerfers Joakim Dijak, in den "lyrischen Kantilenen" von Kamilo juniors älterer Geliebter Ana Borongay, den Sottisen des Generals Martinenghetti. Die Satzkaskaden der Rededuelle, Erinnerungen, Tagträume, Bewusstseinsströme, Briefe und Zeitungsartikel bringen eine Epoche zum Sprechen – scheinbar unmittelbar.
Und das in vielen Sprachen, die im Anhang übersetzt werden, während ein Glossarband Personen, Orte und Hintergründe erklärt. Die atemberaubenden Rochaden der kroatischen Intelligenz in den sich rapide ändernden politischen Konstellationen, von denen der Schwenk des ungarischen Ban Emerički zum serbischen Minister nur die auffälligste ist, können jedoch vom Nachschlagen abhalten. Der Furor dieses Riesenwerkes aus den 1960er Jahren, das als unübersetzbar galt und nun endlich dank des kleinen österreichischen Wieser Verlags vorliegt, reißt mit.

Miroslav Krleža: Die Fahnen
Roman in fünf Bänden.
Aus dem Kroatischen von Silvija Hinzmann und Gero Fischer
Wieser Verlag, Klagenfurt 2016
2170 Seiten, 75,00 EUR

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