"Schade, dass erst jetzt so aufgeklärt wird"
In den letzten Jahren sind zahlreiche Missbrauchsfälle im berühmten Chor der Regensburger Domspatzen bekannt geworden. Doch viele der Verantwortlichen tun sich bis heute schwer, einen angemessenen Umgang zu finden, andere aber bemühen sich um Aufklärung.
Chorprobe bei den Domspatzen. Knapp 80 Jungen stehen oder sitzen im großen Chorsaal, die kleinen vorne, die großen hinten. Domkapellmeister Roland Büchner ist am Klavier, gibt eine Stelle vor - die Schüler singen nach.
Jeden Tag proben die Gymnasiasten mit dem Chor, etwa eine Stunde müssen sie dafür einplanen. Der Tag der Internatsschüler ist gut durchgetaktet: Aufstehen, Frühstück im Speisesaal, Schule, Mittagessen, Studierzeit und Chor - dazu gibt es noch viele Freizeitangebote. Es ist stressig, aber es lohnt sich, ist sich der 16-jährige Dominik sicher:
Dominik: "Erstens mal alle Freunde da, dann kann man Fußballspielen wann man will, dann… es ist einfach wirklich eine Gemeinschaft, die hat man außen jetzt nicht so."
Jeweils einer der verschiedenen Domspatzen-Chöre muss auch am Wochenende im Internat bleiben - Sonntagsdienst bei der Messe im Regensburger Dom.
"Habe mehr Kirchen gesehen, als irgendwas anders."
Dafür gibt's aber auch die Möglichkeit, bei Konzertreisen mit dabei zu sein, sagt der 17-jährige Michael:
"Ich hab mehr Kirchen in meinem Leben gesehen, als irgendwas anders. Also im April fliegen wir nach Oman, mein Bruder war in Taiwan, also man hat mindestens einmal pro Jahr wirklich eine große Reise dabei. Und es ist eigentlich ein besonderes Erlebnis, man macht selten zusammen mit all seinen Freunden eine solche Reise, das ist schon cool."
Die Lebenswelt der Domspatzen von heute scheint nicht mehr viel zu tun zu haben, mit der der Domspatzen von früher. Mit einer Internatsschule unter kirchlicher Leitung, in der Kinder jahrzehntelang systematisch geprügelt und auch sexuell missbraucht wurden. Schon in der Domspatzen-Vorschule, einem Grundschulinternat, anfangs in Etterzhausen, fing es an; im Internat in Regensburg wurde weiter geschlagen und missbraucht.
Der Regisseur Franz Wittenbrink, ein ehemaliger Domspatz, hat seine Erfahrungen in einem Theaterstück mit dem Berliner Ensemble verarbeitet: "Schlafe, mein Prinzchen" handelt von Kindesmissbrauch und Gewalt, unter anderem bei den Domspatzen. Eine Aufzeichnung des Stücks ist unter anderem in München gezeigt worden.
Umfrage Domspatzen-Zuschauer: "Ich fand dass er die Vorgänge sehr gut auf den Punkt gebracht hat, vor allem aus bayerischer Sicht. Ich bin selber katholisch – und wir haben es immer gewusst, dass genau das läuft. / Insgesamt ein bedrückender, aber sehr erhellender Abend."
Hilflose Eltern stehen der Kirche ehrfürchtig gegenüber
Szenen, bei denen ein Priester unter die Bettdecke der Jungen greift, stöhnt. Hilflose Eltern, die der Kirche ehrfürchtig gegenüberstehen – selbst auf der Leinwand ist "Schlafe, mein Prinzchen" verstörend. Besonders, weil das Stück durchaus echte Erlebnisse zum Vorbild hat. Wittenbrink hat beispielsweise eine Prügelszene aus dem Stück als Elfjähriger selbst ganz ähnlich erlebt:
"Wir hatten schräge, ergonomische Pulte. Da rollt ein Bleistift runter. Und das ist aus Versehen passiert, dann wurde ich nervös, dann fiel er das dritte Mal runter. Und dann wurde ich nach der Studierzeit an die Wand gestellt und dann hat mir der Präfekt 18 Mal ins Gesicht geschlagen weil ich der Neffe vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten war, deswegen ist der der direkte sexuelle Missbrauch an mir vorbeigegangen, aber geprügelt worden bin ich ordentlich (lacht)."
Der Tenor, Schauspieler und Musikerzieher Udo Kaiser war schutzlos, er hatte solche verwandtschaftlichen Beziehungen nicht. Auch Kaiser war bei der Vorführung im Kino dabei. Und auch er hat seine eigenen Erlebnisse wiedergefunden im Stück:
"Das ist die Szene gewesen mit Hose runter, Kopf in Schoß und er befriedigt sich an mir und schlägt mich. Wenn Sie nachts ausm Bett geholt werden und der Präfekt führt Sie in sein Zimmer. Und da eben Schlafanzughose runter und dann den Kopf zwischen den Oberschenkeln und wie sich der dann schön mit seinem erigierten Glied an meinem Hinterkopf reibt. Und wenn Sie das erlebt haben als Kind. Dann fällt Ihnen nichts mehr dazu ein."
Viele Male ist Udo Kaiser missbraucht worden, geprügelt worden - und musste am Tag darauf wieder mit glockenheller Stimme im Konzert singen. So wie Udo Kaiser ging es vielen anderen Domspatzen-Schülern, davon ist Michael Sieber überzeugt. Auch der 59-Jährige ist ein ehemaliger Domspatz; er will eine umfassende Aufklärung und Aufarbeitung der Missbrauchs- und Gewaltfälle erreichen; das ist Siebers Lebensinhalt.
Viele Eltern glaubten den eigenen Kindern nicht
Die meisten der Kinder hatten zu Schulzeiten nicht den Mut, sich an ihre Eltern zu wenden, wenn sie geprügelt oder missbraucht wurden. Und selbst die, die zuhause davon erzählt haben, hatten im katholischen Bayern der 60er, 70er Jahre oft schlechte Chancen: Die Eltern glaubten ihnen nicht, stellten die Handlungen der kirchlichen Würdenträger nicht in Frage. Viele Jungen dachten sowieso, für all das, was ihnen angetan wurde, seien sie selbst verantwortlich, sagt Sieber.
"Das war auch ein Manko dieser so genannten schwarzen Pädagogik, dass man gelernt hat: Wenn irgendetwas schief läuft, hat man immer die Schuld bei sich gesucht."
Immer wieder versuchten einzelne frühere Domspatzen, auf die Zustände aufmerksam zu machen – ohne Erfolg. Erst als 2010 der Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten bekannt wurde, fing die Mauer des Schweigens an kirchlichen Einrichtungen zu bröckeln an, im Kloster Ettal und in Ansätzen auch bei den Regensburger Domspatzen.
Die Aufarbeitung begann, musste beginnen. Opfer sollten entschädigt werden – pauschal mit 2500 Euro. Betroffene wie Udo Kaiser sind damit nicht zufrieden, vor allem, weil sie erfahren mussten: Ihre Erlebnisse werden angezweifelt. Kaiser erzählt, er bekam Post vom Bistum – mit dem Inhalt, man glaube ihm nicht, das, was ihm passiert sei, sei kein sexueller Missbrauch gewesen. Kaiser verzweifelte, drei Jahre lang hatte er mit einer schweren Depression zu kämpfen.
"Als Lügner dargestellt zu werden, das ist etwas, was bei mir auch die schwere Depression…und drei Jahre meines Lebens verloren und dann hab ich schon meine Kindheit verloren…also, das ist sehr schmerzhaft."
"Medienkampagne" – meinte der damalige Regensburger Bischof
Der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller sprach von Einzelfällen und sah den ganzen Skandal damals vor allem als eine riesige Medienkampagne gegen die katholische Kirche. Heute will er sich offenbar nicht mehr zum Thema Domspatzen äußern, eine Interviewanfrage des Deutschlandradios lehnt Müller, heute Chef der Glaubenskongregation in Rom ab – aus Zeitgründen.
Erst unter Müllers Nachfolger, Bischof Rudolf Voderholzer, bewegte sich endlich etwas. Vor allem, nachdem ehemalige Domspatzen in einer ARD-Dokumentation das Ausmaß des Missbrauchs schilderten. Das Bistum setzte einen Rechtsanwalt ein, Ulrich Weber, der die Vorwürfe aufklären sollte. Nach Webers Zwischenbericht gestand Voderholzer im Januar Fehler des Bistums bei der Aufklärung der Fälle von Missbrauch und Misshandlung ein.
"Verschuldet von Priestern und anderen Mitarbeitern vor in der Regel schon mehreren Jahrzehnten. Aber die Wunden sind tief eingegraben und brechen noch immer auf. Es hatte sich gezeigt, dass die besagten Übergriffe doch zahlreicher und vor allem auch schwerer waren als bisher angenommen."
72 Fälle körperlicher Gewalt hatte das Bistum bis zu diesem Zeitpunkt eingeräumt – in seinem Zwischenbericht spricht Weber von 231 Fällen, vor allem am Grundschulinternat. Dazu kommen rund 50 Opfer von sexuellem Missbrauch, in der Grundschule und im Domspatzen-Gymnasium.
"Die Bandbreite der sexuellen Übergriffe reicht nach Aussage der Opfer vom Streicheln bis hin zur Vergewaltigung. Die Misshandlungsfälle, also was jetzt körperliche Gewalt betrifft, bezieht sich unter anderem auf Prügelattacken bis zum Blutigschlagen, Schlagen mit dem Stock und diversen Gegenständen wie Siegelring oder Schlüsselbund. Flüssigkeitsentzug bei Bettnässern, Zwang zur Essensaufnahme einerseits und Verweigerung von Nahrung andererseits."
"Georg Ratzinger müsste vom Missbrauch eigentlich gewusst haben"
Rund jeder dritte Schüler sei in der Domspatzen-Vorschule bis 1992 geschlagen worden, vermutet Anwalt Weber. In weniger als einem Jahr hat er rund vier Mal so viele Opfer ausfindig gemacht wie das Bistum in fünf Jahren. Inzwischen haben sich auch noch weitere Opfer bei ihm gemeldet. Und Weber sagt auch: Georg Ratzinger, Bruder von Papst Benedikt, müsste eigentlich von den Vorfällen gewusst haben - Ratzinger war jahrelang Domkapellmeister der Domspatzen und damit oberster Leiter des Knabenchors.
Mittlerweile ist ein Kuratorium eingerichtet worden, das einen Ausgleich schaffen soll zwischen Bistum und Opfern, paritätisch besetzt mit Vertretern beider Seiten. Auch der Bischof selbst sitzt mit am Tisch. Ein wichtiger Schritt, findet der ehemalige Domspatz Michael Sieber:
"Es sieht jetzt so aus, als hätte im Bistum der Kurswechsel entsprechend stattgefunden. Wir reden miteinander und versuchen, eine Lösung zu finden."
Wie diese Lösung aussehen könnte, dazu will Sieber sich nicht äußern - er möchte die Verhandlungen nicht gefährden, die endlich nach all den Jahren zustande gekommen sind.
"Schade, dass es erst jetzt so aufgeklärt wird", sagt Michael
Zurück zu den Domspatzen von heute. Auch an der Schule ist der Missbrauch immer wieder Thema, sagen Michael und Dominik:
"Es wird auch sehr offen mit uns geredet, mit den Schülern, viele Fragen beantwortet, es ist nur ein bisschen schade, dass es erst jetzt so aufgeklärt wird."
"Ich finde es jetzt ganz wichtig, dass man differenziert, was ist früher, was ist heute. Weil wir haben jetzt zum Beispiel, seit wir in der fünften sind, nichts mitgekriegt."
Seit über 15 Jahren mache man bei den Domspatzen schon Missbrauchsprävention, schon vor dem Aufkommen des Skandals, sagt Domkapellmeister Roland Büchner, der Chef des Hauses, der selbst übrigens nie Domspatz war. Es gibt klare Regeln für den Umgang, Gespräche und Fortbildungen - und, das Wichtigste: Man versuche alles, um den Kindern klar zu machen, dass sie bei jedem Vorfall zur Leitung kommen können, sagt Büchner.
"Ein Vogel, der traurig ist, singt nicht so gut. Und das ist so unser Credo. Also wir wollen schon schauen, dass die Kinder in unserer Umgebung fröhlich sind, dass sie gut aufwachsen, dass sie sich entwickeln können."
Doch die Anmeldungen in der Internatsschule sind in den letzten Jahren, wohl wegen des Missbrauchsskandals zurückgegangen. Der traurigen Vergangenheit können sich auch die Domspatzen von heute nicht entziehen.