Missbrauch

"Es wird immer wieder Fälle geben, in denen Kindern zu spät geholfen wird"

Eine Handpuppe auf einer Liege in einem Untersuchungsraum in der Kinderschutzambulanz
Eine Handpuppe auf einer Liege in einem Untersuchungsraum in der Kinderschutzambulanz an © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Joachim Merchel im Gespräch mit Gabi Wuttke · 01.02.2014
Nach Auffassung des Sozial- und Jugendhilfeexperten Joachim Merchel haben die Kommunen und ihre Jugendämter in den zurückliegenden Jahren aktiv und deutlich auf Fälle von Kindesmisshandlungen und -tötungen reagiert.
Gabi Wuttke: Das Wohl, die Unversehrtheit von Kindern wird in Deutschland noch immer vernachlässigt. "Deutschland misshandelt seine Kinder" – die in einem Buch dargelegte Anklage sorgt weiter für heftige Diskussionen, bei der überbelastete Jugendämter einmal mehr im Mittelpunkt stehen. Gestern früh sagte dazu in der "Ortszeit" der Soziologe Kay Biesel:
Kay Biesel: Die Frage ist, wie viele Fälle Jugendämter tatsächlich auch verantworten können, also Fachkräfte in den allgemeinen sozialen Diensten. Darüber muss man sicherlich eine Diskussion führen, weil die Frage ja immer ist: Wie oft können eigentlich Fachkräfte aus Jugendämtern die Familien sehen? Wie können sie in Beziehung zu ihnen gehen? Und wenn sie dann über 100 Fälle haben, die sie verwalten müssen, ist das mit der Beziehungsarbeit eigentlich unmöglich.
Wuttke: Einschätzungen und Zahlen – ergänzen oder widersprechen sie sich. Joachim Merchel ist Professor für Organisation und Management in der Sozialen Arbeit an der FH Münster. Einen schönen guten Morgen, Herr Merchel!
Joachim Merchel: Guten Morgen!
Wuttke: Was sagen die Zahlen Ihrer Untersuchung? Haben Jugendämter so viel Arbeit, dass die Mitarbeiter sich einzelnen Fällen nicht ordentlich widmen können?
Zuwachs in den Jugendämtern
Merchel: Die Jugendämter haben sicherlich viel Arbeit, und die Mitarbeiter müssen hohe Belastungen stemmen. Aber man muss auch gleichzeitig sagen, dass die Jugendämter zurzeit allenthalben Personalbemessungsaktivitäten machen, um genauer hinzugucken, wie viel Personal eigentlich benötigt wird. Und man kann sozusagen jetzt auch als Zwischenergebnis aus unserer Studie über Personalmanagement in Jugendämtern schlussfolgern, dass zum Beispiel im Jahreszeitraum zwischen 2006 und 2009 es bundesdurchschnittlich einen Zuwachs in den Jugendämtern, also in den allgemeinen sozialen Diensten der Jugendämter um 19 Prozent gegeben hat, also Zuwachs an Personal. Insofern kann man auch sehen, dass die Jugendämter sich auch bemühen, den gestiegenen Anforderungen Rechnung zu tragen. Das ist häufig noch nicht genug, da muss noch mehr passieren, aber man kann schon sagen, dass die Jugendämter hier nicht inaktiv sind.
Wuttke: Was genau meint denn Bemessungsaktivität? Wird geguckt, was man an Personal braucht, oder wird geschaut, wie viel Geld man zur Verfügung hat?
Merchel: Nein, hier wird sehr genau geguckt nach sehr genauen Verfahren, wie viel Personal eigentlich nötig ist. Und man muss einfach sagen, obwohl die Kommunen in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten stecken, haben die Kommunen Personalzuwächse zu verzeichnen, auch gerade in Jugendämtern. Und wir haben festgestellt, dass auch gerade in Regionen, in denen Kommunen sind, die sehr stark finanziell belastet sind, es auch Zuwächse in der Personalsituation in Jugendämtern gegeben hat. Also, hier muss man schon sagen, dass die Kommunen, so die meisten Kommunen zumindest, sehr verantwortlich mit dieser Frage umgehen und trotz ihrer Haushaltssituation versuchen, die Personalsituation angemessen zu gestalten. Dass da immer noch Schwierigkeiten da sind, ist unbestritten, aber auch diese Tatsachen muss man, glaube ich, sehen.
Wuttke: Ich schließe aus dem, was Sie gesagt haben, dass die Kommunen durchaus auf die ersten großen Schlagzeilen in Deutschland über verhungerte und zu Tode geprügelte Kinder reagiert haben.
Merchel: Ja. Da haben sie deutlich drauf reagiert und in jedem Jugendamt sind daraufhin Aktivitäten entfaltet worden zur Frage, sind wir richtig strukturiert, haben wir das angemessene Personal, sowohl quantitativ als auch qualitativ, und an welchen Stellen müssen wir uns weiterentwickeln.
Wuttke: 19 Prozent, das ist der Schlüssel, um den Mitarbeiter in Jugendämtern in Deutschland mehr tun können für Kinder, die von ihren Eltern misshandelt werden. Gerade jetzt ein neuer Fall aus Hamburg – Herr Merchel, ist das dann ein subjektiver Eindruck, dass es immer noch Fälle gibt, die nicht sein dürfen und die öffentliche Hand zu wenig tut oder ist das mit Zahlen gar nicht belegbar?
"Jedes Kind, das zu Tode kommt, ist ein Kind zu viel"
Merchel: Nein. Das ist keine zahlenmäßige Frage. Jedes Kind, das zu Tode kommt oder gesundheitliche Einschränkungen erleidet, ist ein Kind zu viel. Das ist überhaupt keine Frage. Aber wir werden auch weiterhin damit leben müssen, dass trotz guter Arbeit der Jugendämter und trotz weiterer Verbesserungen in der Arbeit der Jugendämter es immer wieder Fälle gibt, in denen Kindern zu spät geholfen wird, in denen vorher Einschätzungen getroffen worden sind, die sich nachher nicht als tragfähig erweisen. Es sind immer schwierige Situationen, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter ihre Einschätzungen treffen müssen, und es wird viel versucht, diese Einschätzungen sicherer zu machen, aber es gibt eben keine Garantie. Und wenn Sie mal, nur als Parallele, die Diskussion über Kunstfehler in Krankenhäusern und im Gesundheitsbereich nehmen, da ist auch klar, da haben wir also auch ganz andere Zahlen, mit denen man umgeht. Es ist immer schlecht, wenn ein Kind zu Schaden kommt, aber wir werden das mit noch so guten Jugendämtern auch künftig nie völlig verhindern können.
Wuttke: Bleiben wir noch mal bei den Zahlen. Es gibt eine Polizeistatistik, und es gibt immer und zu allem Dunkelziffern. Die beiden Gerichtsmediziner sprechen in ihrem Buch jetzt von 320 toten und mehr als 200.000 verletzten Kindern in Deutschland pro Jahr. Ist das dann wiederum eine seriöse Rechnung?
Im Jahr 2012 etwa 3200 sogenannte Inobhutnahmen
Merchel: Dunkelzifferforschungen sind immer höchst kompliziert. Und die vielen Annahmen, die da eingehen, von denen ist jede noch mal bezweifelbar. Also das ist immer ganz schwierig. Und wenn wir uns mal auf Zahlen ausrichten, dann haben wir Daten in der Kinder- und Jugendhilfestatistik. Und in der Kinder- und Jugendhilfestatistik können wir feststellen, wir hatten im Jahr 2012 etwa 3200 sogenannte Inobhutnahmen, also wo ein Jugendamt das Kind herausnehmen musste aus der Familie in einer akuten Gefährdungssituation, in einer akuten Krisensituation. Das sind etwa Zahlen, die sind verlässlich. Dass es darüber hinaus noch Fälle gibt, in denen Kinder zu Schaden kommen, ist unbestritten, aber diese Zahlen mit 200.000 oder 300.000 scheinen mir deutlich überzogen zu sein.
Wuttke: Herr Merchel, noch eine Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Sie haben über die gute Arbeit der Jugendämter gesprochen. Wer kontrolliert die Arbeit der Jugendämter und der freien Träger auf ihre Qualität hin eigentlich?
Merchel: Es gibt viele Mechanismen der Kontrolle und der gegenseitigen Beratung von Jugendämtern. Zunächst mal ist, wie in einer Demokratie das üblich ist, sind es politische Gremien. Und wir haben hier die Jugendhilfeausschüsse vor Ort, die die Arbeit der Jugendamtsverwaltungen kontrollieren. Und wir haben ein großes Geflecht zwischen öffentlichen und freien Trägern, sodass hier auch gegenseitige Kontrollen laufen. Ich glaube, es ist kein Kontrollproblem.
Wuttke: Sagt im Deutschlandradio Kultur Joachim Merchel, Professor für Organisation und Management in der Sozialen Arbeit in Münster. Herr Merchel, vielen Dank für die Erläuterungen und ein schönes Wochenende!
Merchel: Gerne! Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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