Missbrauch in der katholischen Kirche
Das Aloisiuskolleg in Bonn: In den 80er-Jahren war Patrick Bauer dort Internatsschüler. © Vivien Leue
Mit dem Pater unter die Dusche
08:19 Minuten
Vor zwölf Jahren kam der erste große Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in Deutschland ans Licht. Die Missbrauchsdebatte hält bis heute an, aber selten werden die Betroffenen gehört. Einer von ihnen ist der Seelsorger Patrick Bauer.
Patrick Bauer steht vor seinem ehemaligen katholischen Gymnasium, dem Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg. In den 80er-Jahren war er dort Internatsschüler, von der fünften Klasse bis zum Abitur. "Hier kann ich sehr gut stehen, weil die Straße noch dazwischen ist", sagt Bauer.
"Wenn ich da drüben die Treppe hochgehen muss, dann kriege ich immer ein mulmiges Bauchgefühl und wenn ich auf das Gebäude zugehe, in dem ich missbraucht worden bin, dann merke ich, da ist zehn, 15 Meter vorher Schluss. Da will ich keinen Schritt weitergehen."
Das Internat war eine abgeschottete Welt
"Ich rede beim Missbrauch in der Kirche oft von Machtinseln und nirgendwo wird das so schön bildlich und deutlich wie hier. Weil: Dieses Internatsgelände ist wie eine abgeschottete Insel", erzählt Bauer weiter. Man sei ganz unter sich gewesen. "Wenn man sich das vorstellt, in der fünften Klasse oder in der sechsten Klasse durften wir einmal in der Woche, dienstags, in die Stadt. Ansonsten durften wir das Gelände nicht verlassen."
Patrick Bauer lebte mit anderen Unterstufenschülern in einer herrschaftlichen Villa auf dem Internatsgelände, umgeben von alten Bäumen und gepflegten Grünflächen. In dieser Villa wurde er auch missbraucht, vom damaligen Internatsleiter, der später jahrzehntelang Schulleiter war: Pater Stüper.
Der Jesuitenorden veröffentlichte 2012 ein Buch über den Missbrauchsskandal – und nennt darin den Priester Ludger Stüper als Haupttäter am Bonner Aloisius-Kolleg. Er starb 2010. In einem Park gegenüber des Schulgeländes erzählt Patrick Bauer, wie Pater Stüper jeden Morgen das Duschen der Jungen überwachte:
"Vor der ersten Dusche stand Pater Stüper. Und er hatte die Erscheinung, wie ich sie heute habe, der war richtig dick. Er hatte einen Vollbart, eine Glatze und einen unglaublich machtvollen Blick. Anders kann man das nicht sagen. Und der stand da mit halb offenem Bademantel, mehr oder weniger halb nackt, also man konnte vorne alles sehen. Und jeder, der vom Duschen rausging, musste vor ihm unter diese kalte Dusche und musste da so lange da drunter bleiben, bis er gesagt hat: Jetzt reicht's."
Missbrauch durch den Internatsleiter
Er fand das unangenehm damals als Zehnjähriger, sagt Patrick Bauer, aber ihm war nicht klar, dass das schon übergriffig war. "Ich wusste nichts, ich war null aufgeklärt. Ich wusste natürlich, wie Kinder entstehen oder so. Aber was Sexualität an sich angeht, wusste ich gar nichts. Gar nichts, überhaupt nichts."
Das bisher wohl umfangreichste Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche ist die sogenannte MHG-Studie. Sie zählte Tausende Opfer zwischen den 1940er-Jahren und 2014 und mehr als 1600 mutmaßliche Missbrauchstäter. Patrick Bauer hat seine eigene Geschichte, seinen Missbrauch, jahrzehntelang verdrängt, erzählt er. Erst mit den Enthüllungen rund um das Canisiuskolleg in Berlin, nach 2010, kam alles wieder hoch.
"Je mehr ich darüber nachgedacht hatte, umso mehr kehrten Erinnerungen zurück. Das war erschreckend. 2015 hat sich in mir alles zusammengezogen, als mir dann bewusst wurde: Mist, du bist auch missbraucht worden." Es fing in einer Nacht an, als der zehnjährige Patrick mit Kopfschmerzen aufwachte. Er stand auf, um Wasser zu trinken, und lief Pater Stüper in die Arme. Der nahm ihn mit in sein Büro – zum Fiebermessen.
"Dann zog er mir die Hose runter bis auf die Knöchel, zog mir das T-Shirt hoch bis unter die Achseln und steckte mir ein Thermometer in den Hintern und setzte sich daneben und blickte wirklich die ganze Zeit des Fiebermessens auf mich herunter."
Danach passte Pater Stüper ihn regelmäßig nach dem Sport ab – und schickte ihn zum Duschen. "Das war das Schrecklichste, was passieren konnte, weil das hieß nämlich, dass er mit duschen ging. Und er mir dann quasi gezeigt hat, wie man duscht und wo überall man sich ordentlich duschen muss und dabei natürlich hinter mir stand und mich überall berührt hat, wo er wollte – und ich alles von ihm gespürt habe."
Über einen Zeitraum von drei Jahren, von der fünften bis zur siebten Klasse, sei das passiert. Zweimal habe Stüper ihn abends in sein Zimmer geholt. Patrick Bauer hat von den Jesuiten eine sogenannte Anerkennungszahlung von 5000 Euro erhalten. Strafrechtlich sind die Vorfälle längst verjährt.
Forderung nach systematischer Aufarbeitung
Dennoch fordern Betroffene, wie Patrick Bauer, dass endlich alles aufgearbeitet wird, die Fälle offen auf den Tisch kommen, inklusive möglicher systematischer Vertuschung. Nur so könne man vorangehen. Mehrere Bistümer haben eigene Gutachten zum Thema erstellen lassen, auch das Kölner Erzbistum. Der beauftragte Strafrechtler Björn Gercke stellte im März 2020 etliche Pflichtverletzungen fest, schränkte aber auch ein:
"Weiterhin ist darauf hinzuweisen – und das ist fundamental für das Verständnis dieses Gutachtens – dass wir mit dem Aktenbestand arbeiten mussten, der vom Erzbistum zur Verfügung gestellt worden war." Und ob der vollständig war, wisse man nicht. Außerdem habe er aus strafrechtlicher Sicht auf die Vorgänge im Erzbistum geschaut.
Moralisch-ethische Fragen müssten andere beantworten: "Das ist Aufgabe anderer Disziplinen, etwa von Kriminologen oder Soziologen. Fragen wie das Zölibat, Männerbünde, die Rolle der Frau in der Kirche sind alles wichtige Fragen", die in weiteren Studien aufgearbeitet werden sollten. Diese Studien gibt es noch nicht.
Patrick Bauer wünscht sich, dass die Politik die Bistümer hier viel mehr unter Druck setzt: "Das ist eine Riesenforderung des Aktionsbündnisses der Betroffeneninitiativen, dass wir dort sagen: Der Staat muss sich einmischen, die Kirche unter Druck setzen, dass Aufarbeitung unabhängiger geschieht." Die Kirche könne sich nicht selbst aufklären und aufarbeiten, auch wenn sie der Meinung sei, dass sie es alleine schaffe.
Die Kirche von innen verändern
Patrick Bauer versucht heute, seine Geschichte und die Taten von damals von seinem Glauben und seiner Kirche vor Ort zu trennen: "Ich bin nach wie vor in dieser katholischen Kirche, da fühle ich mich wahnsinnig wohl und beheimatet, weil es ganz viel in der katholischen Kirche gibt, was mir Kraft gibt, was mir Stärke gibt, wo ich mich getragen fühle. Und das hat nichts mit diesen Menschen zu tun, die die katholische Kirche für ihre Zwecke missbrauchen."
Er arbeitet sogar für das Erzbistum Köln, als Seelsorger in einer Justizvollzugsanstalt. Als Mitglied im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz versucht Patrick Bauer außerdem, Veränderung von innen heraus anzustoßen:
"Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit dem Klerikalismus, mit dem Frauenbild in unserer Kirche und ganz vielen Dingen. Und da arbeite ich mit, damit sich das verändert, und werde immer den Druck und die Hoffnung hochhalten, dass sich das verändert."