"Unwahrscheinliche Angst, ins schlechte Licht zu kommen"
Wie viel Nähe ist vertretbar? Was ist zu tun, wenn sexuelle Gewalt gegen Kinder auffällt? Mit Präventionskursen will das Bistum Hildesheim Mitarbeiter für das Thema sensibilisieren. Deutlich wird dabei die Verunsicherung vieler Betreuer.
Die katholische Kirchengemeinde St. Michael im niedersächsischen Munster. Im Gemeindesaal sitzen 20 Ehrenamtliche, aufgeteilt in kleine Gruppen. Sie sollen im Gespräch herausfinden, in welchen Alltagssituationen sexuelle Übergriffe auf Kinder passieren könnten.
Teilnehmer:"Musikunterricht, Einzelunterricht – ohne Zeugen, ohne Zuschauer, wo auch enger körperlicher Kontakt manchmal am Instrument stattfindet."
Teilnehmerin: "Die Hilfestellung im Sportunterricht, beim Geräteturnen. Bis wohin darf ich da den Po anheben als männlicher Lehrer bei Mädchen."
Günter Brodowski: "Also man hat ja persönlich, wenn man auf Freizeiten ist, mittlerweile eine unwahrscheinliche Angst, was verkehrt zu machen, ins schlechte Licht zu kommen. Man denkt sich persönlich nichts dabei. Aber aufgrund dessen, was alles so passiert ist, ist man natürlich sehr vorsichtig geworden und wahrscheinlich auch mittlerweile übervorsichtig."
Kirchenvorstand Günter Brodowski bringt es auf den Punkt. Die Männer und Frauen, die sich an diesem Sonnabend zur Präventionsschulung treffen, sind verunsichert. Sie arbeiten ehrenamtlich mit Kommunionkindern, mit Messdienern, mit Sternsingern, sie begleiten Kinder und Jugendliche auf Freizeiten. Wo gibt es Grenzen beim Kontakt? Worauf sollen sie achten?
Martin Richter: "Ich würd Sie einfach einladen, mit mir für einen Moment nach draußen zu gehen. Ich möchte mit Ihnen draußen eine Übung machen, die Sie ein bisschen sensibilisiert für die Frage: Was ist aus Ihrer Sicht eine Grenzverletzung?"
Martin Richter leitet die Schulung. Er ist im Bistum Hildesheim Geschäftsführer des Fachbereichs Jugendpastoral.
Richter: "Ich les Ihnen gleich ein Beispiel vor und sie sollen entscheiden, ob dieses Beispiel eine Grenzverletzung ist. 'Ja' ist dort hinten bei der Bank, 'Nein' ist ungefähr hier meine Höhe und 'Weiß ich nicht' nach da. Ein Messdiener kommt nach dem Umziehen in die Sakristei, sein Gewand sitzt nicht richtig, die Küsterin zupft das Gewand grade. Ja, nein, weiß ich nicht."
Für die Gruppe ein klarer Fall: Das ist keine Grenzverletzung, sondern normales Verhalten.
Teilnehmer: "Darf ich das mal eben zurechtrücken?"
Richter: "Das ist der entscheidende Unterschied: Ich sag Bescheid, bevor ich da hinten anfange, rumzufummeln. Okay, nächstes Beispiel: in der Familie. Der Freund des Vaters klatscht der 14-jährigen Tochter zur Begrüßung auf den Hintern."
Auch hier ist die Gruppe sich einig: Das ist eine Grenzverletzung.
Richter: "Schauen wir in die Schule: Eine Lehrerin legt sich zu einer Schülerin, einer Grundschülerin, kurz abends mit ins Bett, weil das Kind Heimweh hat und sie will es trösten."
Nun sind die Ehrenamtlichen keineswegs einer Meinung. Einige berichten, dass sie selbst auf Freizeiten schon genauso gehandelt haben. Andere sagen: Das geht gar nicht.
Männer und Frauen ziehen unterschiedliche Schlussfolgerungen
Teilnehmerin: "Ja, weil es ist 'ne Schutzbefohlene, das darf sie nicht."
Richter: "Obwohl sie Heimweh hat?"
Teilnehmerin: "Kann sie sich ja auch auf 'n Stuhl da hinsetzen, muss sie sich ja nicht ins Bett legen."
Martin Richter findet, das ist ein guter Kompromiss zwischen Nähe und Distanz. Die Männer und Frauen ziehen aus diesen und vielen anderen Übungen unterschiedliche Schlussfolgerungen.
Teilnehmerin: "Gutes Bauchgefühl, richtig gehandelt, würde ich sagen."
Teilnehmer: "Lieber noch ne Zweitmeinung einholen und mich schnell beraten mit meinen Mitbetreuern, wie ich das jetzt handhaben soll."
Die Teilnehmer analysieren die Strategien der Täter
Jutta Menkhaus-Vollmer ist seit 2012 die Präventionsbeauftragte des Bistums Hildesheim. Sie hält die Übungen zu Nähe und Distanz für einen ganz entscheidenden Teil der Präventionsarbeit. Weil jeder seine Grenze anders definiert.
"Was wichtig ist zu erkennen: nicht nur meine eigene Grenze, sondern die Grenze des Anderen. Also dass ich so sensibel werde, dass ich spüre, dass er diese Umarmung jetzt nicht möchte. Und das können wir nur trainieren, darauf können wir aufmerksam machen. Und ich merke jetzt aus diesen Schulungen heraus, dass die Menschen nicht immer mit uns einer Meinung sind, aber doch bewusster in die Beziehung gehen. Also es ist nicht so üblich jetzt auf einmal, dass man sich immer umarmen muss, sondern dass man schon auch spürt, ach, vielleicht ist das gut, wenn wir uns jetzt einfach mal nur die Hand geben."
In St. Michael geht die Präventionsschulung weiter mit einem Film. Kinder schildern, wo und wie sie sexuelle Übergriffe erlebt haben: im Sportverein, in der Schule und Zuhause – dort, wo Missbrauch vor allem stattfindet. Ein Mädchen erzählt von Hans, einem Freund des Vaters, der in der Familie ein- und ausging.
"Er machte oft Sprüche über meine Klamotten und fragte, ob ich nen Freund hab und solche Dinge. Er brachte mich in Verlegenheit. Er legte seinen Arm um mich und sagte: 'Ich will Dein Freund sein.' Und gib mir doch nen Kuss. Ich hab Papa gesagt, dass ich Hans nicht mag. Aber er meinte, ich wäre albern. Und Hans will doch nur nett sein."
Kinder entwickeln oft das Gefühl, selbst schuld zu sein
Die Ehrenamtlichen analysieren, welche Strategien Täter anwenden, um sich ein Kind gefügig zu machen. Täter bieten Freundschaft an. Oder sie verunsichern Kinder. Täter nutzen aus, dass Familien auf Hilfe angewiesen sind, etwa wenn jemand gebraucht wird, um die Kinder zu betreuen. Die Kinder selbst, so finden die Ehrenamtlichen heraus, empfinden Scham und Ekel. Oft entwickeln sie das Gefühl, selbst schuld zu sein an der Situation, die sie als unentrinnbar erleben. Martin Richter bestätigt die Männer und Frauen in ihrem Eindruck: Sexualisierte Gewalt hat immer etwas mit Macht zu tun, mit Abhängigkeiten.
"Und was ich persönlich erschreckend finde: Dass ein Kind im Durchschnitt mindestens sieben Erwachsenen erzählen muss, was passiert ist, bis ihm geglaubt und geholfen wird. Sieben Mal."
Und der Mitarbeiter des Bistums fügt hinzu: Auch mit den Tätern haben Kirche und Gesellschaft noch längst nicht den richtigen Umgang gefunden.
Richter: "Der Trainer wird weitergereicht, der Jugendgruppenleiter wird weitergereicht, von der Feuerwehr zum BDKJ, vom BDKJ zur evangelischen Jugend. Weil das System noch nicht einigermaßen funktioniert. Und das müssen Sie im Blick haben, dass sowas auch noch passieren kann. Neben allen anderen Grausamkeiten kann's passieren, dass Sie plötzlich einen in ihren Reihen haben, der schon auffällig geworden ist, aber niemand sagt's."
Wer im Bistum Hildesheim ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten will, muss am Ende der Schulung zwei Erklärungen unterschreiben. Mit der einen verpflichten sich die Männer und Frauen, reflektiert und respektvoll mit Kindern und Jugendlichen umzugehen. Mit der anderen Erklärung bestätigen sie, noch nie wegen eines Sexualdelikts verurteilt worden zu sein.
Teilnehmer: "Aus meiner Sicht ist ein primäres Argument eben die Absicherung der Amtskirche, die sicherlich nachvollziehbar ist, also jeder wird den Zettel unterschreiben. Was erreich ich dann damit?"
Täter suchen sich Einrichtungen, wo sie nicht auffallen
Das fragt sich in St. Michael ein Ehrenamtlicher. Jutta Menkhaus-Vollmer, die Präventionsbeauftragte des Bistums, kennt die Kritik an diesen, wie sie sagt, institutionellen Maßnahmen.
"Sie müssen sich immer vorstellen: Täter suchen sich immer Strukturen und Einrichtungen, wo sie nicht auffallen. Und diese institutionellen Maßnahmen verhindern das tatsächlich. Das verhindert noch nicht alles, aber es verhindert schon ne ganze Menge."
Im Juni 2013 hat das Bistum Hildesheim mit dem Präventionsprogramm begonnen. 16.000 Menschen sollen es durchlaufen: 6000 hauptberufliche Mitarbeiter in zweitägigen Schulungen, 10.000 Ehrenamtliche in eintägigen Schulungen. Ein Mammutprojekt, das doch wieder klein erscheint, vergleicht man die katholikenarmen norddeutschen Bistümer mit denen im Süden. Alle sind zwar zur Prävention verpflichtet. Doch Hildesheim gilt als ein Vorreiter etwa beim methodischen und inhaltlichen Konzept der Schulungen. Auch ist der Kreis derjenigen, die teilnehmen müssen, besonders weit gefasst. Spielt dabei der höhere Außendruck in der Diaspora eine Rolle? Jutta Menkhaus-Vollmer will das nicht bestreiten. Und sie betont: Prävention soll nichts Einmaliges sein.
Erst-Hilfe-Kurs zur Prävention
"Diese Fortbildungen sollen so selbstverständlich werden wie ein Erste-Hilfe-Kurs beim Autofahren."
In diesem Erst-Hilfe-Kurs zur Prävention von sexualisierter Gewalt geht es auch um Gesetze und Vorschriften. Es geht auch um die konkrete Frage: Was mache ich denn, wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind missbraucht wird? Im Kern geht es aber darum, eine Haltung einzuüben: genauer hinhören und genauer hinsehen. So wie diese Teilnehmerin in St. Michael es sich vorgenommen hat.
"Ich hab ein bisschen mehr Mut bekommen, auch Dinge ganz offen anzusprechen und offen mit der Sache umzugehen."
Ehrenamtliche wie diese spielen bei der Prävention eine wichtige Rolle, sagt Jutta Menkhaus-Vollmer.
"Die Menschen, die bewegen sich auch außerhalb der Kirche. Die bewegen sich in Turnvereinen, in Musikvereinen, in irgendwelchen Vereinigungen, wo einfach Gemeinschaft zustande kommt und auch dort gehen sie anders mit den Menschen um."
Laut Statistik erlebt jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexualisierte Gewalt. Wie verbreitet verbale und tätliche Grenzüberschreitungen sind, spiegelt sich auch in den Präventionsschulungen. Unter den Teilnehmern sind in der Regel ein bis zwei Betroffene, die sexuelle Übergriffe beobachtet oder selbst erlebt haben.