"Leaving Neverland" ist keine journalistische Arbeit
16:50 Minuten
In der Dokumentation "Leaving Neverland" äußern sich zwei mutmaßliche Missbrauchsopfer über Michael Jackson. Die Männer bekommen viel Raum zum Erzählen. "Man kann sich auf eine chronologische, einseitige Variante einlassen", meint Filmkritiker Patrick Wellinski.
In der umstrittenen Dokumentation "Leaving Neverland" geht es um Missbrauchsvorwürfe gegen den 2009 verstorbenen Popstar Michael Jackson. Nachdem sie vor einem Monat in Amerika zu sehen war, gab es heftige Reaktionen: In Kanada haben Radiosender Michael-Jackson-Songs aus dem Programm verbannt.
Jacksons Familie nennt den Film ein "öffentliches Lynchen". An diesem Samstag und Sonntag ist die vierstündige Dokumentation nun auch in Deutschland zu sehen: Der Sender Pro7 strahlt "Leaving Neverland" in zwei Teilen aus.
Keine journalistische Arbeit
Regisseur Dan Reed konzentriert sich vor allem auf zwei Protagonisten: Jim Safechuck und Wade Robson. Die beiden mutmaßlichen Missbrauchsopfer sprechen von Zungenküssen, Oralsex und gegenseitigem Masturbieren mit Michael Jackson. Sie waren sieben und zehn Jahre alt, als der mutmaßliche Missbrauch begann.
Die Dokumentation gibt den Protagonisten viel Zeit zum Erzählen. "Ein Film, der einen über eine Ruhe packt", sagt Filmkritiker Patrick Wellinski. Doch genau dieser Ansatz wird dem Film auch vorgeworfen: Er sei zu einseitig, heißt es.
Patrick Wellinski verteidigt die Dokumentation: Es sei keine journalistische Arbeit. Journalisten hätten die Pflicht, auch die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. "Das muss ein Dokumentarfilmer wie er nicht", sagt Wellinski.
"Man kann sich auf eine chronologische, einseitige Variante einlassen." Aber, so Wellinski, Dan Reed hätte die beiden Männer dazu befragen müssen, warum sie die Nachlassverwalter von Michael Jackson verklagen, nachdem sie jahrelang geleugnet hatten, von dem Popstar missbraucht worden zu sein. "Wir hätten darauf vielleicht eine interessante Antwort bekommen, die sie vielleicht nicht diskreditiert als mutmaßliche Opfer, sondern man würde vielleicht erfahren, was das für eine Wertigkeit für sie hat."
Tiefe gesellschaftliche Verunsicherung
"Leaving Neverland" reiht sich ein in eine Welle von Dokumentationen, die die Sicht der Opfer in den Fokus nimmt. Dazu gehören die Dokumentation "Surviving R. Kelly", in der mehrere Frauen dem Sänger Missbrauch vorwerfen, oder "Untouchable" und "The Reckoning", die sich den mutmaßlichen Opfern von Hollywood-Produzent Harvey Weinstein widmen.
Das sind Filme, mit denen Filmemacher versuchen, "die Flamme dieser #MeToo- und #Timesup-Bewegung aufrecht zu erhalten", so Patrick Wellinski.
"Die Gefahr ist natürlich - auf welchen Boden fallen diese Bilder? Und es ist leider ein Boden, der kaum steuerbar ist. Das sagt auch eine 'New York Times'-Reporterin in der Weinstein-Doku 'The Reckoning', dass die Öffentlichkeit durch das Internet in gewisser Weise jetzt alle Gewalten in sich vereint, die der Staat so schön trennt. Also sie sind Opfer, Ankläger und Richter in einer Person. Und das ist schon ein bisschen außer Kontrolle geraten."
Die Dokumentarfilme wollten aufklären, sagt Patrick Wellinski. Aber sie träfen eben auch auf eine diffuse gesellschaftliche Verunsicherung, die sie zum Teil auch weiter vertieften.
(sbu)