"In der häuslichen Pflege finden die großen Dramen statt"
Berichte über Missstände und Mängel in Pflegeheimen häufen sich. Doch auch in der familiären Pflege gibt es oft große Probleme: Viele Angehörige fühlten sich emotional und körperlich überfordert, berichtet Gabriele Tammen-Parr aus ihrer Beratungsstelle.
Der 15. Juni ist der Welttag gegen die Diskriminierung und Misshandlung alter Menschen. Er wurde 2006 das erste Mal von der UN ausgerufen.
Gewalt gegenüber älteren Menschen sei heute glücklicherweise kein Tabu-Thema mehr, sagte Gabriele Tammen-Parr im Deutschlandradio Kultur. Sie leitet die Beratungs- und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen der Diakonie in Berlin-Kreuzberg:
"Trotzdem ist es so – und das wird sich wahrscheinlich noch zuspitzen –, dass Gewalt und Konflikte im stationären Bereich der Altenpflege Themen geblieben sind. Der häusliche Bereich sollte noch stärker in die Öffentlichkeit gerückt werden. Bei uns in der Beratung geht es niemals um Schuldzuweisung, selbst wenn es hoch aggressive Situationen geben hat. Es geht immer um Unterstützung."
Häusliche Pflege hinter verschlossenene Türen
Tammen-Parr berichtete auch aus dem Alltag ihrer Beratungsstelle. Im Falle der häuslichen Pflege gebe es ein zentrales Thema unter pflegenden Angehörigen: das sei das Gefühl der Überforderung.
"Die häusliche Pflege findet ja hinter verschlossenen Türen statt. Und wir sagen immer: Dort finden die großen Dramen statt. Man muss auch wissen: in Deutschland wird ja durchschnittlich zehn Jahr zu Hause gepflegt. In dieser Zeit stößt man natürlich an seine Grenzen, sowohl körperlich als auch emotional."
Der Altenpflegeberuf wurde jahrelang unterschätzt
In Bezug auf die stationäre Pflege gebe es das Problem des fehlenden Nachwuchses, kritisierte Tammen-Parr. Der Altenpflegeberuf sei immer stiefmütterlich behandelt worden. Es handele sich aber um einen sehr anspruchsvollen Beruf:
"Er verlangt viel Wissen und auch ein großes empathisches Engagement. Er wurde jahrelang unterschätzt. Er ist schlecht finanziert. Gleichzeitig ist es der Beruf, der in Umfragen am meisten bewundert wird. Aber er ist unattraktiv, weil er finanziell ganz schlecht ausgestattet ist."
Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes zur Pflegestatistik 2013 sind 2,6 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. 83 % der Pflegebedürftigen sind 65 Jahre und älter, mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt.
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Rund 2,6 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Mehr als zwei Drittel dieser Menschen werden zu Hause versorgt. Und nach Angaben verschiedener Altersforscher und der Polizei sind bis zu zehn Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause Gewalt ausgesetzt. In Heimen sind es sogar nach Schätzungen bis zu 20 Prozent. Bei den Demenzerkrankten ist es wahrscheinlich sogar jeder Zweite.
Heute ist der Welttag gegen die Diskriminierung und Misshandlung alter Menschen. Die UN ruft ihn schon seit 2000 aus und will immer wieder an die Situation dieser älteren Menschen erinnern, die sich ja in den meisten Fällen nicht wehren können. Wie notwendig ist so ein Tag? Darüber spreche ich jetzt mit Gabriele Tammen-Parr, sie leitet die Diakonie-Beratungs- und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen, und die ist in Berlin-Kreuzberg. Schönen guten Morgen hier in "Studio 9"!
Gabriele Tammen-Parr: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Erst mal ein bisschen zu Ihrer Beratungsstelle. Was machen Sie, auf was machen Sie aufmerksam?
Tammen-Parr: Wir sind eine Beratungsstelle zum Thema Gewalt und Konflikte in der Pflege alter Menschen. Das heißt, bei uns rufen Ratsuchende an, die pflegen. Sie haben es ja eben schon anmoderiert, der große Teil der alten Menschen wird ja zu Hause gepflegt.
Das heißt, die Ratsuchenden sind pflegende Angehörige, die beschreiben Situation von Überforderung, Verzweiflung, aber auch von Aggressionen und Konflikten. Das ist die eine Gruppe, die bei uns anruft, die andere Menschen, die bereits jemand untergebracht haben in einem Pflegeheim, die dort auf Missstände stoßen, auf Mängel, die aber auch mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben.
In Deutschland wird durchschnittlich zehn Jahre zu Hause gepflegt
Brink: Können Sie gerade bei der häuslichen Pflege noch mal genau erklären, mit welchen Problemen werden Sie da konfrontiert? Wo ist diese Überforderung?
Tammen-Parr: Die häusliche Pflege findet ja im wahrsten Sinne des Wortes hinter verschlossenen Türen statt, und wir sagen immer, dort finden die großen Dramen statt. Man muss auch wissen, in Deutschland wird durchschnittlich zehn Jahre zu Hause gepflegt, das heißt, wir haben mit großen Zeitfenstern zu tun. Wir haben Ehefrauen, die rufen an und sagen, sie pflegen seit 17 Jahren, pflegende Töchter, die pflegen seit 13 Jahren. Und in dieser Zeit stößt man natürlich an seine Grenzen, sowohl körperlich als auch emotional. Und viele sagen auch, wenn ich gewusst hätte, was in dieser langen Zeit auf mich zukommt, hätte ich mir diese Pflege zu Hause vielleicht gar nicht zugetraut.
Das heißt, sie erleben einen ganzen Gefühlscocktail. Das geht von Verzweiflung bis hin zu Mitgefühl, Aggressionen, starken Hassgefühlen. Und die Palette reicht, sage ich mal, von verbalen Entgleisungen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen. Trotzdem muss man natürlich sagen, das, was da zu Hause gestemmt wird, ist so ungeheuerlich – wir können das nicht genug wertschätzen, was dort in den Familien geleistet wird. Trotzdem aber kommen diese Menschen natürlich auch an ihre Grenzen.
"Wir müssen die Angehörigen entlasten"
Brink: Ist das immer noch mit so einem großen Tabu belegt, dass man irgendwie einfach erwartet, du, Ehefrau, bist dafür zuständig, dass du pflegen musst und dass man also diesen Problemen auch gar keinen Raum lässt?
Tammen-Parr: Ja. Es ist ein großes Tabu. Es ist wichtig, dass Sie das fragen, weil die meisten gehen davon aus, dass sie mal zu Hause gepflegt werden. Natürlich, jeder Mensch hat den Wunsch, zu Hause mal zu sterben und dort alt zu werden, das kann ich verstehen. Trotzdem aber geht es, glaube ich, darum auch, dass wir die Angehörigen entlasten und immer wieder auch betonen, nur solange es wirklich für euch geht. Weil viele haben sich auch mal das Versprechen gegeben, zu Hause sterben zu können, und das ist auch was Tolles.
Aber ich glaube, wir müssen auch die pflegenden Angehörigen entlasten, weil wie gesagt, was dort zu Hause gestemmt wird, ist eine ganz große gesellschaftliche Leistung, die man nicht genug bewundern kann.
Stationäre und häusliche Pflege im Vergleich
Brink: Wo sind denn die Probleme größer nach Ihrer Erfahrung, zu Hause oder in den Heimen?
Tammen-Parr: Man kann das so schwer vergleichen, weil das Häusliche ist ja was ganz Privates. Die meisten Konflikte entstehen dort auch, weil man jemanden pflegt, den man lange kennt. Man hat eine Geschichte, da gibt es alte Verletzungen, Kränkungen, die noch mal in dieser herausragenden Überforderungssituation zum Tragen kommen.
Im stationären Bereich ist es anders. Man pflegt professionell. Da ist es inzwischen so, da ist ein Pflegenotstand angekommen in Deutschland, das heißt, es fehlen qualifizierte Pflegekräfte. Wir haben es immer wieder, dass Einrichtungen sagen, wir haben in jedem Team ein, zwei Personen, die gehören hier eigentlich nicht hin in diesen Beruf. Trotzdem aber müssen sie sie mittragen, sage ich mal, weil sie sich gar nicht erlauben können, über Monate eine Stelle unbesetzt zu lassen.
Trotzdem muss man auch dort sagen, die Altenpflege leistet Hervorragendes, viele versuchen wirklich, ihr Bestes zu geben. Aber der Alltag ist schwer, die äußeren Rahmenbedingungen haben sich sehr verdichtet, und, wie gesagt, es fehlt an Nachwuchs und auch an qualifizierten Kräften, sodass auch die Einrichtungen gar keine Auswahl haben, sich gute Leute ins Haus zu holen.
Hauptursache häuslicher Gewalt ist die Überforderung
Brink: Das heißt, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, ist dann auch dieses Moment der Überforderung, mit dem Sie ja konfrontiert sind in Ihrer Beratung, ist das die Hauptursache eigentlich für Gewalt, sage ich jetzt mal so ganz pauschal, mit der Sie auch konfrontiert sind?
Tammen-Parr: Ja, das kann man sagen. Die Überforderung ist eines der zentralen Themen, die immer wieder angesprochen werden. Überforderung, dann die lange Pflegedauer, aber im häuslichen Bereich auch die Beziehungsgeschichte, weil man hat ja vieles miteinander erlebt, was ich schon gesagt habe, was nicht aufgearbeitet werden konnte. Und es gibt manchmal auch alte Wut, alten Groll, der sich dann in dieser Situation auch noch mal sozusagen meldet.
Brink: Ist es dann auch so, dass es schwierig ist, weil Sie das angesprochen haben, auch richtige Fachkräfte zu bekommen, also Leute zu motivieren, da auch einzusteigen?
Tammen-Parr: Ja, es ist schwierig, weil, ich sage mal, der Altenpflegeberuf wurde immer so ein bisschen stiefmütterlich behandelt, man sagte früher, "so ein bisschen Popo-Abwischen und Füttern kann jeder".
Aber es ist ein Beruf, der ist sehr anspruchsvoll, er verlangt viel Wissen und auch ein großes empathisches Engagement, und er wurde jahrelang unterschätzt, er ist schlecht finanziert. Gleichzeitig, wie gesagt, wenn man Umfragen hört, ist es immer wieder der Beruf, der am meisten bewundert wird, von dem, was dort geleistet wird. Aber er ist unattraktiv, weil er ist finanziell ganz schlecht ausgestattet.
Gewalt und Konflikte sind kein Tabu-Thema mehr
Brink: Der Welttag gegen Diskriminierung und Misshandlung alter Menschen wurde ja vor zehn Jahren zum ersten Mal ausgerufen. Was hat sich seitdem getan, oder auf was wollen Sie denn heute noch besonders aufmerksam machen?
Tammen-Parr: Ich kann, glaube ich, sagen, das Thema Gewalt und Konflikt in der Pflege ist nicht mehr so ein Tabuthema, wie es mal war vor 17 Jahren, als wir die Stelle gegründet haben. Da hat sich zumindest in der Fachwelt unheimlich viel getan. Selbst in der Altenpflegeausbildung wird das Thema ja in den Seminaren aufgerufen.
Trotzdem aber ist es natürlich so - und das wird sich vielleicht sogar noch weiter zuspitzen - sind Gewalt und Konflikte Themen geblieben sowohl in dem stationären Bereich in der Altenpflege. Der häusliche Bereich, denke ich, ist ein Bereich, der ist mir so ein bisschen eine Herzensangelegenheit geworden in den letzten Jahren. Der kann noch stärker in die Öffentlichkeit gerückt werden.
Und ich denke, bei uns geht es in der Beratung niemals um Schuldzuweisungen, selbst wenn es hochaggressive Situationen gegeben hat, die Ratsuchende uns beschreiben, sondern immer um Unterstützung. Und uns geht es darum zu sagen, ja, es gibt Aggressionen, Konflikte und auch Gewalt im häuslichen Bereich.
Aber es lohnt sich, dort hinzuschauen und die Angehörigen zu ermuntern, ich sage mal, es hört sich jetzt ein bisschen komisch an, durchzuhalten und auch mit den Problemen, die sie haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und wir nutzen natürlich diesen Tag, um zu sagen, da wird unheimlich viel gestemmt in den Familien, und uns geht es darum, das öffentlich zu machen.
Brink: Oder auch zu Ihnen zu kommen.
Tammen-Parr: Ja.
Brink: Herzlichen Dank, Gabriele Tammen-Parr. Sie leitet die Diakonieberatungsstelle und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege. Schönen Dank für das Gespräch!
Tammen-Parr: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.