Misshandlung von Verschickungskindern

Diakonie arbeitet Gewalt in Erholungsheimen auf

06:46 Minuten
Eine Hand hält eine Postkarte mit der Ansicht der Kinderheilanstalt Waldhaus in Bad Salzdetfurth.
Trauma statt Erholung: Ehemalige Verschickungskinder berichten von Vernachlässigung und Gewalt im Waldhaus Bad Salzdetfurth. © Picture Alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
Von Michael Hollenbach |
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Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Kinder in Kurheime. Doch wo sie gesunden sollten, wurde ihnen oft Gewalt angetan. Die Diakonie Niedersachsen stellt sich nun als erste Einrichtung diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte.
In einem Kurhaus der Inneren Mission in Bad Salzdetfurth bei Hildesheim erstickte im März 1969 der siebenjährige Stefan an Erbrochenem. Kurz darauf starb Kirsten an einer Infektion. Und im Mai 1969 wurde der dreijährige Andre von drei Sechsjährigen zu Tode geprügelt.

Der Tod hätte verhindert werden können

Obwohl die Staatsanwaltschaft damals notierte, dass der Tod bei "ausreichender personeller Besetzung" hätte verhindert werden können, sah sie dennoch keinen Hinweis auf eine Verletzung der Aufsichtspflicht. Dies ist zu lesen in einer Dokumentation, die das Diakonische Werk Niedersachsen Ende November vorgelegt hat. Hans-Joachim Lenke ist dessen Vorstandssprecher:
"Bad Salzdetfurth ist insofern besonders gravierend, weil es hier diese drei Todesfälle gab, von denen wir wissen, und das ist ja in der eigenen Vorstellung so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann, dass man sein Kind zu einer Kurmaßnahme schickt und es kommt im Kindersarg wieder."
Sabine Schwemm war als Vierjährige wenige Monate vor diesen Todesfällen in dem Waldhaus in Bad Salzdetfurth. Sie wurde ebenfalls von anderen Kindern malträtiert, ohne dass jemand eingeschritten wäre. "Ich habe auch gedacht, das ist ja kein Wunder, dass das Kind gestorben ist", sagt Schwemm. "Man war da ja ausgeliefert, da hat sich ja niemand gekümmert. Ich habe ja selbst erlebt, wie das war, wenn man von den anderen Kindern da drangsaliert wurde, da kam ja keiner und hat einem geholfen."

"Ich habe gedacht, ich sehe meine Eltern niemals wieder"

Sabine Schwemm leidet bis heute unter Ängsten, die sie mit den Erlebnissen in dem Heim in Verbindung bringt. So hatte sie damals eine falsche Toilette benutzt und wurde von den Diakonieschwestern dafür bestraft. Ihr wurde die Hose runtergezogen, sie wurde übers Knie gelegt und geschlagen.
"Und ich habe ganz furchtbar geweint und geschrien. Ich habe das alles gar nicht verstanden, irgendwann hörten sie dann auf, und dann musste ich in diesem Raum sitzen bleiben, stundenlang. Und sie haben zu mir gesagt: Du darfst jetzt nicht mehr nach Hause. Zu Weihnachten darfst du nicht nach Hause. Ich hatte Todesangst in dem Moment. Ich habe gedacht: Jetzt ist mein Leben vorbei. Ich sehe meine Eltern niemals wieder."
Porträt von Sabine Schwemm mit einem Teddybär aus ihrer Kindheit.
Sabine Schwemm erlitt als Kind selbst Misshandlungen in einem Erholungsheim und setzt sich für die Aufarbeitung der Vorfälle ein.© Picture Alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
Immer wieder hört man von Verschickungskindern, dass sie gezwungen wurden, ihren Teller leer zu essen. Die Delmenhorsterin Karin Flohr war Mitte der 50er-Jahre als Siebenjährige ebenfalls in dem Waldhaus in Bad Salzdetfurth. Sie erinnert sich mit Grauen an das Essen:
"Diese Maden, das war wohl Fallobst, nehme ich mal an, und das war in dieser warmen Suppe da drin und dann schwammen diese toten Würmer da oben auf der Suppe, und das hatten wir runterzuschlucken."

Anerkennung der Wahrheit als Erlösung

Die Kinder würgten das Essen hinunter, manche mussten sich danach übergeben. "Das Mädchen neben mir hat oft gebrochen", sagt Flohr. "Sie musste das Erbrochene wieder essen, was ihr natürlich immer wieder hochkam." Zu Hause erzählte Karin Flohr dann über die für sie so furchtbaren sechs Wochen:
"Meine Eltern haben mir nicht unbedingt geglaubt, weil die so was gar nicht für möglich gehalten haben. Ich weiß immer, dass meine Mutter gesagt hat: Aber wenn ihr 'Tante' sagen durftet, dann waren das doch nette Frauen. Daran kann ich mich noch erinnern."
Eine Reaktion, die viele Kinder nach den zum Teil traumatischen Erfahrungen erleben mussten, sagt Anja Röhl. Sie hat vor einem Jahr die "Initiative Verschickungskinder" gegründet. Röhl, die selbst als Kind in einem Kurheim auf Föhr war, setzt sich dafür ein, dass die Betroffenen heute bei der Aufarbeitung staatliche Unterstützung bekommen:
"Das ist den Verschickungskindern ein elementares Bedürfnis, noch einmal genau ihre Erinnerung als Wahrheit bestätigt zu bekommen, also zum Beispiel in die Heime zu gehen, da noch mal hinzufahren und dann zu erkennen: Der Albtraum, der mich jahrelang beschäftigt hat, das ist dieses Haus. Das erleichtert, das ist eine unheimliche Erlösung für die meisten."

Nachwirkungen der NS-Pädagogik?

Warum die Pädagogik in den Heimen so katastrophal war, die Betreuerinnen und Betreuer sogar sadistisch agierten, sei nur schwer erklärbar, meint Anja Röhl. Einer der möglichen Gründe: "Es sind die Nachwehen einer Einstellung, die in den zwölf Jahren des NS-Faschismus in Deutschland in die Gehirne sozusagen reingeprügelt worden ist", sagt Röhl. Gerade die Jugendlichen, die besonders stark dem faschistischen Einfluss ausgesetzt worden seien, hätten ja in den 1960er-Jahren noch gelebt und seien nach 1945 unter anderem in den Heimen tätig gewesen.
Ein anderer Aspekt: Die Heime wurden kaum kontrolliert, die Personaldecke war extrem dünn, nur wenige der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügten über eine pädagogische Ausbildung. Vielen Einrichtungen– auch den kirchlichen – sei es um das schnelle Geld gegangen, meint Röhl:
"Es ließ sich sehr leicht Geld verdienen damit. Das wird deutlich daraus, dass, wenn eine Kinderheilstätte an einem Kurort war, wurden relativ schnell Villen gekauft und es wurden da eigene Kindererholungsheime gegründet, und dann hat man da schnell 50 Betten untergestellt, oft sehr eng."

Aufklärung und Verantwortung: Ein Anfang ist gemacht

Die Diakonie Niedersachsen ist nun bundesweit die erste Einrichtung, die sich diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte stellt. Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke: "Also, wir nehmen das ernst. Wir sagen auch: Wir stellen nicht in Abrede. Und wir entschuldigen uns, und das ist auch sehr ernst gemeint."
"Ich freue mich sehr darüber, dass er das gemacht hat, dass er den Mut hat einzugestehen, dass damals Fehler gemacht wurden", sagt Sabine Schwemm, die den niedersächsischen Verband der Initiative Verschickungskinder leitet. "Das kann natürlich das ganze Leid nicht gut machen, aber mir hilft es."
Das sieht das ehemalige Verschickungskind Karin Flohr allerdings anders. Sie erwartet gerade von den kirchlichen Einrichtungen wenig: "Ich bin ganz ehrlich, wenn ich diese Missbrauchssachen von der Kirche her sehe, und es wird nur geredet und geredet und geredet, da wird nichts geändert. Und so sehe ich das hier mit der Diakonie genauso. Ich bin der Meinung, die wollen nur Ruhe haben: Schön ja, entschuldigen Sie und so, aber ich erwarte gar nichts."

Frage der Entschädigung noch ungeklärt

Einige der Verschickungskinder würden sich für das erlittene Leid und für Therapien, die sie gemacht haben, von den Trägern der Heime eine finanzielle Entschädigung wünschen. Da wiegelt Niedersachsens Diakonie-Chef Hans-Joachim Lenke ab. Das könne man nur politisch auf Bundesebene regeln.
Allerdings kündigt Lenke an, die Diakonie wolle demnächst noch die Vorkommnisse in zwei, drei weiteren Kurheimen untersuchen lassen.
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