Schmerzhaftes Erinnern in Donauwörth
Schläge, Erniedrigungen, sexueller Missbrauch − Grausamkeiten, die im ehemaligen Donauwörther Kinderheim "Heilig Kreuz" an der Tagesordnung gewesen sein sollen. Die traumatischen Erinnerungen arbeiten die Betroffenen mit dem Bistum Augsburg auf.
"Ja, da kommen einige Erinnerungen – doch da oben, wo die zwei Löwen sind, sind wir immer raus und rein."
Wir – damit meint die heute 58-jährige Dagmar die Kinder vom ehemaligen Kinderheim Heilig Kreuz in Donauwörth. Aus sicherer Entfernung, von einem Spazierweg unten am Fluss Wörnitz, blickt Dagmar auf das monumentale Gebäude auf einer kleinen Anhöhe:
"So bin ich jetzt noch nie stehen geblieben, hab da mal so hochgeschaut: Man sieht dann, das Zimmer, der Garten – das weckt schon Erinnerungen."
Auch schöne Erinnerungen, betont sie. Wie sie als Kinder hier gespielt haben, draußen, außerhalb der Mauern von Heilig Kreuz:
Auch schöne Erinnerungen, betont sie. Wie sie als Kinder hier gespielt haben, draußen, außerhalb der Mauern von Heilig Kreuz:
"Die Freiheit, die man da im Garten hatte, die war schon grenzenlos. Woran ich mich noch erinnere: Da stand ein großer Baum, kann ich mich genau erinnern, das war mein Zufluchtsort, da bin ich oft hochgekraxelt, da war ich einfach für mich."
Prügel vom Heimleiter
Für sich sein bedeutete: in Sicherheit sein. Drinnen aber, hinter den vielen Fenstern, herrschte ein hartes Regiment: Schläge und psychische Misshandlungen gehörten zum Alltag der Heimkinder. Sie mussten stundenlang auf Kleiderbügeln knien, Erbrochenes aufessen, wurden regelmäßig verprügelt – von Erzieherinnen, und ihm: dem Monsignore, dem ehemaligen Heimleiter, dem Priester Max Auer.
"Im Beichtstuhl hat er noch gesagt, Du kommst dann nachher zu mir rüber, wo er gewohnt hat, in dem Haus, und dann hat man Prügel gekriegt", erinnert sich Dagmar. Viele Jahrzehnte wollte in Donauwörth niemand etwas von diesen Misshandlungen wissen. Dabei hatten sich Dagmar und ihrer Schwester Marsha etliche Jahre darum bemüht, hatten der Missbrauchsbeauftragten des Bistums und der Stiftung von ihren Erlebnissen erzählt – und um Veröffentlichung gebeten. Vergebens.
"Im Beichtstuhl hat er noch gesagt, Du kommst dann nachher zu mir rüber, wo er gewohnt hat, in dem Haus, und dann hat man Prügel gekriegt", erinnert sich Dagmar. Viele Jahrzehnte wollte in Donauwörth niemand etwas von diesen Misshandlungen wissen. Dabei hatten sich Dagmar und ihrer Schwester Marsha etliche Jahre darum bemüht, hatten der Missbrauchsbeauftragten des Bistums und der Stiftung von ihren Erlebnissen erzählt – und um Veröffentlichung gebeten. Vergebens.
Noch mehr Missbrauchsfälle kommen ans Licht
Als dann endlich vor einem halben Jahr die Medien, darunter Deutschlandfunk Kultur, über die Vorfälle berichten, bricht eine Lawine los. Weitere Betroffene melden sich, erzählen von den Grausamkeiten und davon, dass damals mindestens zwei Jungen und ein Mädchen sexuell missbraucht worden seien.
Ein runder Tisch wird im April einberufen. Es kommen Menschen, die bisher noch nie jemandem von diesen schlimmen Erlebnissen erzählt haben, wie dieser Mann – Ende 50 dürfte er sein, hager, er reibt an seinem Arm, knetet seine Hände – spricht darüber, was er damals erleben musste, tagtäglich. Endlich, sagt er, endlich könne er darüber reden:
Ein runder Tisch wird im April einberufen. Es kommen Menschen, die bisher noch nie jemandem von diesen schlimmen Erlebnissen erzählt haben, wie dieser Mann – Ende 50 dürfte er sein, hager, er reibt an seinem Arm, knetet seine Hände – spricht darüber, was er damals erleben musste, tagtäglich. Endlich, sagt er, endlich könne er darüber reden:
"Wir waren immer alleine in der Kapelle unten. Und dann kam's zu sexuellen Handlungen, indem ich ihn oral befriedigen musste oder anal hat er es auch gemacht. War aber sehr lieb zu mir, ich hatte ja keinen Vater."
Jeden Morgen habe er dem Priester Max Auer bei der Messe gedient. Stefan Schmid schluckt. Über zweieinhalb Jahre ging das. Erzählt hat er niemandem etwas davon:
Jeden Morgen habe er dem Priester Max Auer bei der Messe gedient. Stefan Schmid schluckt. Über zweieinhalb Jahre ging das. Erzählt hat er niemandem etwas davon:
"Mit wem hätte ich reden sollen? Der hat mir das so verkauft, dass das dazugehört, Kirche und gottgewollt. Und es waren sowieso Sachen passiert im Heim, wo man nicht wusste, was ist Sache. Und es war ja niemand da, dem man sich hätte anvertrauen können, was hätte man machen sollen, an wen hätte man sich wenden können? Es war ja niemand da."
Viele Betroffene schweigen
Nicht als Junge hat er sich jemandem anvertraut – und nicht als Erwachsener. Nicht einmal seiner Partnerin. Erst, als er im Bayerischen Rundfunk von den beiden Schwestern hört, die über die schweren Misshandlungen im Kinderheim berichten, traut er sich. Nimmt Kontakt auf zur Missbrauchsbeauftragten des Bistums Augsburg und spricht über all das.
Geschwiegen – das hat auch Cornelia Heiderich. Jahrelang: "Max Auer. Ich durfte bei ihm immer Klavierspielen auf dem Schoß. Wenn die Haushälterin nicht da war, musste ich ihn unsittlich berühren, zwischen den Beinen und so, ich war zwölf Jahre alt, sagen durfte man nichts. Geglaubt hätte man uns nicht – und Angst gehabt, man wird ja bedroht – wenn man was sagt, dann…"
Prügel hätte es gegeben, einfach so. Wenn man nachts mit den anderen redete, oder wenn man ins Bett machte. Cornelia Heiderich zieht an ihrer Zigarette, ihre Hand zittert:
Geschwiegen – das hat auch Cornelia Heiderich. Jahrelang: "Max Auer. Ich durfte bei ihm immer Klavierspielen auf dem Schoß. Wenn die Haushälterin nicht da war, musste ich ihn unsittlich berühren, zwischen den Beinen und so, ich war zwölf Jahre alt, sagen durfte man nichts. Geglaubt hätte man uns nicht – und Angst gehabt, man wird ja bedroht – wenn man was sagt, dann…"
Prügel hätte es gegeben, einfach so. Wenn man nachts mit den anderen redete, oder wenn man ins Bett machte. Cornelia Heiderich zieht an ihrer Zigarette, ihre Hand zittert:
"Heute Beruhigungstablette genommen, sonst hätte ich es nicht durchgestanden, aber es ist gut, dass jemand die Sache ernst nimmt und nichts mehr unter den Tisch gekehrt wird."
Aufarbeitung der Vorfälle
Jahrzehntelang war das anders. Erst seit kurzem spricht das Bistum Augsburg von nötiger, lückenloser Aufklärung. Der Bischof von Augsburg, Konrad Zdarsa, hat angeordnet, die Vorfälle in dem Kinderheim aufzuarbeiten. Peter Kosak, seit einigen Monaten Vorstand der Stiftung Cassianeum, koordiniert das Ganze:
"Ich hab ein paar Minuten gehabt um mich zu fassen, bestürzt ist eine klassische Untertreibung, da weiß man an vielen Stellen nicht, was man sagen soll. Also mich hat das tief getroffen."
Marsha und ihre Schwester Dagmar waren beim ersten Treffen des Runden Tisches im April dabei. Im Heim misstraute jeder jedem – auch die Kinder untereinander haben nicht über das gesprochen, was ihnen da widerfahren ist. Umso belastender seien jetzt die Schilderungen der anderen, sagt Marsha. Seit Jahren ist sie in psychotherapeutischer Behandlung, arbeiten kann sie deshalb schon lange nicht mehr.
Marsha und ihre Schwester Dagmar waren beim ersten Treffen des Runden Tisches im April dabei. Im Heim misstraute jeder jedem – auch die Kinder untereinander haben nicht über das gesprochen, was ihnen da widerfahren ist. Umso belastender seien jetzt die Schilderungen der anderen, sagt Marsha. Seit Jahren ist sie in psychotherapeutischer Behandlung, arbeiten kann sie deshalb schon lange nicht mehr.
Nach diesen Gesprächen fielen sie und ihre Schwester erstmal in ein tiefes Loch:
"Inzwischen geht’s mir wieder gut. Nach dem Tisch und damit verbundenen neu aufgedeckten Taten ging's mir viele Wochen schlecht. Was anfänglich schon auch erschütternd war, ist die Tatsache, was dann jedem einzelnen doch passiert ist. Und es hat das Ausmaß bestätigt im Prinzip. Im Endeffekt war's aber auch für uns alle sehr schön, es haben sich auch Freundschaften gebildet. Ich merke – und auch die, die sich treffen, sagen das alle – wie wichtig und wunderbar das ist, dass sie jetzt die Möglichkeit haben, endlich drüber zu reden. Es wussten teilweise die Partner nicht mal, was ihnen da passiert ist – und wie prägend das doch das ganze Leben durchzogen hat."
"Ich habe mich gut öffnen können"
Auch sie hat inzwischen mit dem Juristen Manfred Prexl gesprochen. Der ehemalige Präsident des Bayerischen Oberlandesgerichts gehört zu der vom Bischof einberufenen Arbeitsgruppe zur Aufklärung der Vorfälle im Kinderheim. Ihm sollte sie alles ganz genau erzählen. Ihre Erlebnisse noch einmal Schritt für Schritt durchgehen. Keine einfache Situation:
"Er hat viel hinterfragt – immer mit dem Tenor, es kann, aber muss nicht. Das fand ich klasse, ich hab mich gut öffnen können. Es war nochmal ein wichtiger Schritt, glaube ich. Er wird ja die Zusammenfassung machen, will das ja auch veröffentlichen, wir sind gespannt, was rauskommt dabei."
Prexel hat Erfahrung in der Thematik – schon mehrmals hat er ehrenamtlich an der Aufarbeitung solcher Fälle mitgearbeitet. In Donauwörth hat er bislang mit 13 Betroffenen Gespräche geführt. Die einzelnen Gewalthandlungen will er in dem Bericht aufführen – anonym, versteht sich. Befragt hat er auch ehemalige Erzieherinnen. Wie die Heimkinder übereinstimmend berichten, gab es ja auch nette Pädagoginnen. Nicht alle drangsalierten damals die Kinder. Aber hätten sie nicht etwas merken müssen? Prexel vermutet:
Prexel hat Erfahrung in der Thematik – schon mehrmals hat er ehrenamtlich an der Aufarbeitung solcher Fälle mitgearbeitet. In Donauwörth hat er bislang mit 13 Betroffenen Gespräche geführt. Die einzelnen Gewalthandlungen will er in dem Bericht aufführen – anonym, versteht sich. Befragt hat er auch ehemalige Erzieherinnen. Wie die Heimkinder übereinstimmend berichten, gab es ja auch nette Pädagoginnen. Nicht alle drangsalierten damals die Kinder. Aber hätten sie nicht etwas merken müssen? Prexel vermutet:
"Vielleicht ahnten sie von den Vorfällen, aber der Direktor so dominante Persönlichkeit – nicht getraut etwas zu sagen und wohl auch keine Änderung herbeiführen können."
Von denen, die Gewalt ausübten, lebt offenbar niemand mehr, der zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Nichtsdestotrotz sollen die Geschehnisse so genau wie möglich aufgearbeitet werden. Neben diesen Befragungen fänden auch noch Recherchen in den Archiven statt, sagt Stiftungsvorstand Peter Kosak.
Antworten auf offene Fragen finden
Die Historiker sammeln alles, was sie zum Thema Kinderheim finden können, von Zeugnissen über Meldelisten bis hin zu Fotoalben. Um möglichst viel herauszufinden und Antworten auf offene Fragen zu bekommen:
"Wo wir auch noch im Dunklen tappen: Warum ist das Heim geschlossen worden? Wäre auch vorstellbar, dass es Gründe gab. Die könnten vielleicht beantwortet werden – nicht festlegen, nur Zwischenstand, noch nicht an Öffentlichkeit."
Das soll aber geschehen, sobald die Recherchen abgeschlossen sind. Vielleicht ist damals ja doch ein Fall bekannt geworden? Vielleicht hat doch einmal ein Kind gesprochen, über das, wie der Alltag hinter den Mauern von Heilig Kreuz aussah? Vielleicht war das der Grund für die plötzliche Schließung 1977? Alles soll in einem Bericht zusammengefasst werden und, nach Rücksprache mit den Betroffenen, auch veröffentlicht werden. Auch über die Höhe der Entschädigungszahlungen soll noch einmal gesprochen werden – nicht nur über die erst seit kurzem bekannten Fälle, sondern auch über die der wenigen, die bereits etwas bekommen haben. Und eine Tafel soll am Kloster Heilig Kreuz an dieses dunkle Kapitel der Donauwörther Geschichte erinnern.
Das soll aber geschehen, sobald die Recherchen abgeschlossen sind. Vielleicht ist damals ja doch ein Fall bekannt geworden? Vielleicht hat doch einmal ein Kind gesprochen, über das, wie der Alltag hinter den Mauern von Heilig Kreuz aussah? Vielleicht war das der Grund für die plötzliche Schließung 1977? Alles soll in einem Bericht zusammengefasst werden und, nach Rücksprache mit den Betroffenen, auch veröffentlicht werden. Auch über die Höhe der Entschädigungszahlungen soll noch einmal gesprochen werden – nicht nur über die erst seit kurzem bekannten Fälle, sondern auch über die der wenigen, die bereits etwas bekommen haben. Und eine Tafel soll am Kloster Heilig Kreuz an dieses dunkle Kapitel der Donauwörther Geschichte erinnern.
"Wir werden jetzt gehört"
Ohne die beiden Schwestern Marsha und Dagmar wäre all das vermutlich nie passiert. Jahrzehnte hat es gedauert und nur durch ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit ist es so weit gekommen. Wir werden jetzt gehört, sagt Marsha fast ein bisschen glücklich:
"Meine Erwartungen, was die Aufklärung anbetrifft, haben sich bisher mehr als erfüllt, ich bin zufrieden. Für mich persönlich stellt das eine Art der Aufarbeitung und kleines Stück des Abschiednehmens von schmerzhaften Erinnerungen an die Zeit im Kinderheim Heilig Kreuz dar. Vielleicht sogar bisschen Versöhnung so gut es geht dar. Bin auch gespannt, was die Recherchen in der Summe ergeben habe. Es ist noch nicht zu Ende."