Misstrauen gegen die Politik

Rezensiert von Stephan Speicher |
György Konrád schreibt sein Buch "Europa und die Nationalstaaten" aus Angst, zumindest jedoch aus Sorge. Er kritisiert die zunehmende Entdemokratisierung, gerade in Staaten wie seinem Heimatland Ungarn.
Über Europa rühmend zu sprechen ist nicht leicht. Bei jeder Gelegenheit hört man das bekannt-ermüdete Lob des Erreichten, es mischt sich dazu die Anfeuerung zu weiteren Fortschritten, gelegentlich schriller, meist ähnlich routiniert.

Wie viel angenehmer ist da der Ton, den der ungarische Schriftsteller und Essayist György Konrád in seinem neuen Buch "Europa und die Nationalstaaten" anschlägt! 1933 in Debrezin geboren, hatte er reichlich Gelegenheit, mit Nationalsozialismus und Kommunismus seine Erfahrungen zu machen. Das prägte ihn:

""Die sich in Europa ausbreitenden Ideenströmungen können das eine oder andere Land vielleicht verrückt machen, siebenundzwanzig Länder aber gewiss nicht. (…) Deshalb gefällt mir die europäische, konstitutionelle Beschränkung nationalstaatlicher Souveränität.""

Das Europa des György Konráds ist nicht das des Kampfes um den Euro. Ob die Einigung schon zu weit gegangen ist oder nicht weit genug, das beschäftigt ihn nicht.

Fragen nach der künftigen Verfassung des Kontinents oder den Konflikten von Marktfreiheit und Sozialstaatlichkeit lässt er beiseite. Er schaut sich und uns an als ein Osteuropäer, ein Ungar. Der Untergang des Sozialismus hat sein Land verunsichert.

""Selbstentwertung kann auch schmollende Selbstgefälligkeit auslösen. Aus der Versenkung tauchen die stillosen und mit den Fäusten drohenden mittelmäßig Begabten auf. Wenn das so weitergeht, wird derjenige, der gegen die Nachbarnation keinen Groll hegt, zum Vaterlandsverräter abgestempelt.""

Vor solchen Anfällen, zu denen auch ein neu-alter Antisemitismus gehört, soll Europa die Länder des Postsozialismus schützen. "Europa und die Nationalstaaten" ist ein Buch, entstanden aus Angst, zumindest aus Sorge.

"Misstrauen gegen die Massendemokratie"
Unter den Bedingungen des Sozialismus hatte er den Begriff der Antipolitik geprägt. Antipolitisch war, wer sich als Bürger, vor allem natürlich als Intellektueller politisch zu Wort meldete, ohne damit ein Karriere im Staat vorbereiten zu wollen. In der Antipolitik kamen neue Stimmen zu Wort.

Die politischen Bedingungen haben sich geändert, aber Konrád ist misstrauisch geblieben, misstrauisch auch gegenüber der Demokratie. Oder richtiger: misstrauisch nicht gegen die pluralistische Demokratie, die auch die Minderheiten respektiert, wohl aber gegenüber der "Massendemokratie", der "Kabinenrevolution".

""Eine neuartige Metapher, zumal wir mit der Vorstellung von einer Revolution bisher immer das Bild von großen Plätzen und vielen Menschen verbanden. Nun aber genügen eine kleine Wahlkabine und darin der einsame Staatsbürger.

In seiner Seele tobt ein Sturm, der sich nur durch eine einzige Vision beruhigen lässt, die Vision vom kampfesmutigen Parteiführer. Ein warnendes Beispiel für die anderen Europäer: eine nationale Revolution in der Kabine."
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Und so wünscht sich Konrád eine zweite Kontrolle der Macht, nicht durch Wähler und Parlamentarier, sondern durch Antipolitiker:

""Die autonome Intelligenz muss die nationalstaatlichen Regierungen unter geistiger Kontrolle halten. Besitzen die demokratisch gewählten Regierungen gegenüber den Intellektuellen (…) souveräne Höherwertigkeit?
Die intellektuellen Körperschaften dürfen weder einer diktatorischen Minderheit noch einer demokratischen Mehrheit untergeordnet werden. Ihre Beziehungen können aufgrund von Verhandlungen durch Verträge geregelt werden, nicht aber durch von oben kommende Maßnahmen."
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Cover: "György Konrád: Europa und die Nationalstaaten"
Cover: "György Konrád: Europa und die Nationalstaaten"© Suhrkamp Verlag
Problem Ungarns aus bürgerlicher Position
Konrád schlägt hier einen gefährlichen Weg vor. Er fordert – nicht klar umschriebene - Sonderrechte für eine geistige Elite. So etwas ist demokratisch wie rechtsstaatlich schwer zu begründen. Sein Misstrauen gegen die Politik ist gut zu verstehen, sein Vertrauen in die "Intelligenz" schon weniger. Keine der großen Katastrophen Europas ist gestartet worden ohne den Jubel ausreichend vieler Künstler, Wissenschaftler, Intellektueller.

György Konráds jüngstes Buch ist nicht in allen Punkten von der letzten Begriffsschärfe. Der Autor, obwohl er seinen ruhigen, angenehmen Ton immer wahrt, scheint sich gelegentlich übermannt zu fühlen von den Entwicklungen in seiner ungarischen Heimat. Denn darauf läuft der schmale Band zu, dem Leser zu erklären, wie sich dies Land unter dem Ministerpräsidenten Orban von europäischen Standards verabschiedet.

Interessant, wie Konrád aus einer bürgerlichen Position das Problem Ungarns sieht. Hier habe es seit 1989 Privatisierung gegeben, aber keine Reprivatisierung. Deshalb gebe es auch kaum Bürgerliche, die auf sich und ihre Familie stolz sein könnten. Der Reiche verdanke seinen Reichtum dem Staat und sei entsprechend dienstbereit.

So verstanden bedeutet Eigentum, sofern selbst erarbeitet oder ererbt, Unabhängigkeit von der Politik. Staatliche Eigentumssteuerung dagegen bringt Knechtsgesinnung. Und die anlaufenden Rückverstaatlichungen schaffen Belohnungsmöglichkeiten für Parteigänger. Das Bild ist düster:

""Unter unseren europäischen Partnern sind wir sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik auf das niedrigste Niveau herabgesunken.""

Hoffnung schöpft er allein aus der EU. Sie muss sich auf ihre Ansprüche besinnen.

""Die Europäische Union ist nicht nur eine Interessengemeinschaft, sondern auch eine Werte-, ja Sympathiegemeinschaft. Dazugehören ist keine Pflicht.""

Wer sich den europäischen Werten nicht verpflichtet fühlt, wer, wie es Konrád nennt, "eigensinnige Prinzipien" verfolgt, der soll draußen bleiben und warten. Und wenn er schon drinnen ist, dann muss er eben mit Sanktionen belegt werden. Doch wer die EU kennt, der ahnt, wie schwer es ihren 27 Mitgliedsstaaten fallen wird, solche Sanktionen zu beschließen.

Denn die große Zahl, die eine Sicherung ist gegen die Torheiten, die den einzelnen überfallen können, sie ist auch eine Hemmung im Guten.


György Konrád: Europa und die Nationalisten
Suhrkamp Verlag, 184 Seiten, 14,95 Euro
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