Mit aller Gewalt

Rezensiert von Stefan Berkholz |
Seit zwölf Jahren wird die türkische Feministin und Soziologin Pinar Selek von der Justiz in ihrer Heimat verfolgt. Derzeit lebt sie im deutschen Exil. Nun bringt sie ihr erstes Buch auf Deutsch heraus: Es ist eine Studie zur Militarisierung und Gewalt in der Türkei.
Der obligatorische Dienst an der Waffe sei darauf angelegt, die Persönlichkeit der jungen Männer zu brechen, sagt Pinar Selek. "Abgebrüht", so nennt es die Autorin, würden die jungen Soldaten dann ins weitere Leben entlassen. So etwas wie Verweigerung gebe es nur am Rande und in Ausnahmefällen.

"In erster Linie ist der Militärdienst in der Türkei obligatorisch. Wenn du dich verweigerst, kannst du nichts werden. Du wirst verhaftet, du kriegst keine Arbeit, du kannst dich polizeilich nicht anmelden. Und zugleich fordern im Allgemeinen alle Familienmitglieder und die Nachbarn und Freunde, dass der Junge unbedingt zum Militärdienst geht, damit er zum richtigen Mann wird."

Pinar Selek hat eine umfangreiche Materialsammlung vorgelegt, ausführlich lässt sie die befragten Männer zu Wort kommen, bündelt Zitate zu Kapiteln wie "Stationen der Mannwerdung", "Reise ins Ungewisse", "Schmoren im gleichen Topf", "Kriechend zum Mann werden", "Rückkehr nach Hause". Selek verdeutlicht die Strukturen beim türkischen Militär: Zwischen Vorgesetzten und Untergebenen finden sinnvolle Dialoge nicht statt, heißt es.

"Der Vorgesetzte tadelt den Untergebenen und macht ihn fertig. Der wiederum geht und macht das gleiche mit einem, der unter ihm steht. Wenn aber sein Vorgesetzter auftaucht, ist er wieder ganz kleinlaut. Alle Beziehungen untereinander sind so zermürbend! (…) Immer nur Erniedrigung, Anspannung."

So werden Opportunismus und Duckmäusertum trainiert. Zugleich zeigt die Feministin, wie die jungen Männer militärisch geschult werden für das zivile Leben danach. Es gibt ein Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde beim Militär, in dem die jungen Rekruten lernen sollen, wie sie sich später als Ehemann, Ernährer und Beschützer zu bewähren haben. Der "Mann ist die Streitmacht der Familie", schreibt Pinar Selek. Zugleich aber betont die Soziologin, dass dies keineswegs biologische Gründe habe. Der Mann werde erst zu dem gemacht, der er dann ist.

"Das ist eine gesellschaftliche Situation und alle Männer erlernen das als Jungs, als Kind bereits. Der Staat und die Familie handeln dabei Hand in Hand. Sie ernähren sich gegenseitig, unterstützen sich gegenseitig. Dadurch entsteht das Patriarchat. Es entsteht ein System, in dem der Mann seine Vorteile hat. Doch zugleich erwartet man von ihm, dass er seine Familie, seinen Staat, seinen Bezirk, seine Straße verteidigt. Das erwartet man nicht von einer Frau."

Aber die Mütter, sagt Selek auch, spielen in diesen überlieferten Ritualen ebenfalls eine ganz besondere Rolle und stützen die Strukturen von früh an. In ihren "allgemeingültigen Schlussfolgerungen" gelangt Selek am Ende zu dem Resultat:

"Zuallererst wird der Wehrdienst als ein Feld der Erfahrung und der Prüfung gesehen. (…) Zweitens wird der junge Mann bei der Armee mit Schwierigkeiten konfrontiert, er erlebt Strapazen, Aussichtslosigkeit und Erniedrigung. (…) Viertens wird eingeprägt, dass ’gute Eigenschaften männlich und wertlose Eigenschaften weiblich sind’. (…) Fünftens wird bei der Armee gelehrt, zu kämpfen und mit einer Waffe umzugehen, bereits vorhandene Kenntnisse werden erweitert. Der Junge, der als Kind von der Mutter liebevoll ’mein Sultan’ genannt wird, lernt nicht nur die ’Feinde’ des Staates zu bekämpfen, sondern jeden, der Hand an ’seine Ehre’ zu legen versucht, die ja in erster Linie von seiner Ehefrau, seiner Tochter, seiner Schwester und seiner Mutter repräsentiert wird. Ebenso wie auf den Dienst am Staat, wird der Mann auf die Führung der Familie vorbereitet, die wiederum selbst eine mit dem Staat eng verwobene Institution darstellt. In der Zeit nach Beendigung des Wehrdienstes wird die Beziehung zwischen Mann und Frau sowie zwischen dem Ehepaar als Bürger des Staats klar umrissen. Der Mann kehrt selbst als eine Art ’Staat’ zu seiner Familie zurück und in der Position des Vaters wird er auch innerhalb der Familie zum Soldaten. Sein Leben lang trägt er die Verantwortung für ihre Verteidigung, ihren Schutz, ihre Bewachung und ihre Fähigkeit zur Rache. (…) Sechstens wird das Funktionieren einer Hierarchie vermittelt."

Die Stellung des Mannes wird danach als gottgegeben angesehen. Pinar Seleks Buch ist eine einzige Anklage gegen die Militarisierung und das Patriarchat einer Gesellschaft, die offenbar weit entfernt von demokratischen Strukturen ist. In Seleks Montage und Analyse wird eine Gesellschaft voller Gewalt und Unterdrückung kenntlich. Dieses Buch und auch ihre anderen Themen haben Pinar Selek zu einer sehr unbequemen Person in ihrer Heimat Türkei gemacht. Die 38-jährige Soziologin benennt Tabus, befasst sich mit den Randgruppen der türkischen Gesellschaft, befragt diese selbst und lässt sie dann unzensiert zu Wort kommen.

"Obwohl ich heterosexuell bin, habe ich mich sehr intensiv mit der Situation der Homosexuellen befasst. Obwohl ich eine Türkin bin, habe ich auch über die Probleme der Kurden und der Armenier Bücher und Aufsätze geschrieben. Vor allem aber das jetzige Thema ist sehr riskant: Kriegsdienstverweigerung und Militär."

Nimmt man Seleks Studie zum Maßstab, scheint die Türkei vor einem langen, sehr steinigen Weg zu zivilisierten, demokratischen Strukturen zu stehen. Pinar Seleks Name und Schicksal aber werden in den kommenden Monaten demonstrieren, wie offen und demokratisch sich die Türkei in Wirklichkeit gibt. Die europäische Öffentlichkeit wird die juristische Verfolgung Pinar Seleks sehr aufmerksam beobachten.

Pinar Selek: Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten.
Aus dem Türkischen von Constanze Letsch
Orlanda Verlag, Berlin 2010
240 Seiten, 18 Euro