Mit Bügeleisen und Computer

Von Tereza Burianova |
Als die Reißwölfe heiß liefen, zerfetzte die DDR-Staatssicherheit 1989 Millionen ihrer Unterlagen mit bloßen Händen. Die Dokumente haben überlebt, aber in abertausenden Einzelteilen. Das größte Puzzle der Welt wird Stück für Stück wieder zusammengebaut.
Petra Porschel beugt sich mit einer Lupe über Dutzende kleine Schnipsel, auf der Suche nach Namen, Decknamen, Abkürzungen. Sie stöbert in den Überresten von handgeschriebenen Notizzetteln oder offiziellen Dokumenten, die mit Schreibmaschine geschrieben sind. Porschel vermutet, dass es Aufzeichnungen eines Stasi-Spitzels sind:

"Der Offizier heißt hmhmhm und da gucke ich, ob er auch dazu gehört. Da hat man Listen, wo man gucken kann. Ja, der gehört wirklich da rein."

Den Namen des Mannes vernuschelt Petra Porschel mit Absicht, er muss geheim bleiben. Sie hat mal wieder einen Treffer gelandet. In mühseliger Detektivarbeit versucht sie den Papierschnipseln ihre Geheimnisse zu entlocken. Porschel arbeitet in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen im Osten von Berlin. In genau dem Haus, in dem das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit zu DDR-Zeiten seinen Hauptsitz hatte. Hier liegt ein Teil der Stasi-Vergangenheit in zerrissenen Einzelteilen. Insgesamt sind es 16.000 beigefarbene Postsäcke, jeder gut 30 Kilo schwer. Voller versteckter Geschichten über offizielle und inoffizielle Mitarbeiter.

"Und dann ist natürlich von Interesse: Warum haben sie das gemacht? Und für die Person, die dann Akteneinsicht später haben will oder Rehabilitierung, sind dann solche Unterlagen natürlich wichtig. Um nachzuvollziehen: Warum habe ich den Posten im Berufsleben nicht gekriegt?"

Petra Porschel arbeitet in der Abteilung "Feinsichtung". Sorgfältig fischt sie eine Schicht Papierschnipsel nach der anderen aus dem Sack und breitet sie auf ihrem Schreibtisch aus. Es ist das wahrscheinlich größte Puzzle der Welt. Sie durchsucht die gut 60.000 Schnipsel pro Sack nach brisanten Dokumenten. Was ihr wichtig erscheint, kommt eine Etage tiefer, zur Abteilung "Vorsortierung".

Manche Schnipsel sind nicht größer als eine Daumenkuppe
Karina Jüngert und ihre Kollegen sitzen an Tischen in der Mitte eines Saales, der so groß wie ein Tennisplatz ist. Die Neonröhren an der Decke sehen aus, als wären sie noch dieselben wie zu Stasi-Zeiten. An allen vier Wänden stehen meterhohe Regale, vollgepackt mit grauen Schachteln, etwa halb so hoch wie Schuhkartons. Darin landen die vorsortierten Schnipsel. Jüngert holt sich einige davon an ihren Tisch. Worum es inhaltlich geht, ist für sie nicht wichtig. Es geht um die Größe, die entscheidet, ob die Schnipsel per Hand oder per Computer wieder zusammengesetzt werden. In einer Schachtel sind lauter Mini-Schnipsel, manche nicht größer als eine Daumenkuppe. An einigen hängen noch Büroklammern, manche mehrseitigen Unterlagen hat die Stasi auch zusammengetackert. Das stört.

Karina Jüngert: "Ja hier, weil die Klammer natürlich auch den Scanner kaputt machen würde. Man muss das entfernen und trotzdem versuchen, solche Schichten beizubehalten, dass die Inhalte in der Reihenfolge durch den ganzen Prozess mitgezogen werden. Und am Ende - sollte die Seite sich dann vervollständigen - so auch wieder erschlossen werden kann."

Diese kleinen Schnipsel werden vom Computer zusammengesetzt. Eine andere Schachtel ist voller größerer Puzzleteile. Die schickt Jüngert zur nächsten Station im Haus weiter.

Niels Sebastian ist dafür zuständig, dass aus den brisanten Schnipseln wieder brisante Dokumente werden. Der Teamleiter steht im Büro seiner Mitarbeiterin Ute Köhler. Ihr Schreibtisch ist voller rosa Karteikarten ‒ alle kreuz und quer zerrissen, aber nur in zwei oder drei Einzelteilen. Diese Schnipsel sind groß genug, um sie vorsichtig per Hand wieder zusammen zu basteln, mit ganz normalem Tesafilm. Dafür muss Ute Köhler die teilweise zerknüllten Einzelteile erst mal wieder glätten. Und das funktioniert nicht anders als bei Hemden ‒ mit einem Bügeleisen:

"Wenn man das nachher sieht, kommt es immer ganz einfach vor, man nimmt zwei Seiten und klebt sie zusammen. Aber wenn man das selber gemacht hat, das ist wirklich schwierig. Und man hat nur einen Versuch."

Denn wenn die Jahrezehnte alten Schnipsel einmal geklebt sind, kriegt man sie nicht mehr so leicht auseinander, ohne etwas kaputt zu machen.

"Erst den Himmel, dann die Wiese"
Mehrere Versuche gibt es bei der virtuellen Rekonstruktion der Mini-Schnipsel am Computer. Hier wird alles per Mausklick zusammengeklebt oder wieder getrennt. Dafür ist das Fraunhofer Institut am anderen Ende der Stadt zuständig. Robert Zimmermann ist einer der verantwortlichen Techniker. Er legt vier der winzigen Papierfetzen auf einen großen schwarzen Scanner:

"Das kann man sich vorstellen, wie wenn man selber puzzelt. Man hat eine große Menge Schnipsel und man möchte sie erst in kleine Menge unterteilen, die zusammenpassen. Also man hat eine Landschaft, dann sucht man sich Himmelteile raus, Wiesenteile raus und puzzelt erst den Himmel und dann die Wiese."

Bei den Stasi-Unterlagen zählen andere Merkmale: Welche Farbe hat das Papier? Ist es liniert oder kariert? Mit der Hand oder der Schreibmaschine geschrieben? In solche Kategorien ordnet der Scanner die Schnipsel ein. So sind sie bereit für den E-Puzzler. Die Software vergleicht, was nach Farbe oder Schriftform zusammenpasst, sie sucht zum Beispiel alle Teile zusammen, die grün, kariert und per Hand beschrieben sind.

"Sie sehen, die Menge ist kleiner geworden. Und somit kann man direkt puzzeln. Erst werden die Schnipsel paarweise bewertet, dann werden sie paarweise zusammengesetzt und das passiert dann so lange, bis eine Seite fertig ist oder bis keine Schnipsel mehr vorhanden sind, die mehr reinpassen."

Nach sechs Jahren und sechs Millionen Euro Entwicklungskosten ist die Pilotphase jetzt vorbei. Aus 400 Schnipselsäcken haben die Stasi-Unterlagenbehörde und das Fraunhofer-Institut mehr als eine Million Seiten an Dokumenten wieder zusammengesetzt ‒ per Hand oder per Computer. Das heißt aber auch: Die zerrissenen Stasi-Dokumente in über 15.000 Säcken warten noch, darauf durchsucht zu werden.
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