Album: "Szolnok"
Daniel-Weltlinger-Quartet: Daniel Weltlinger (Violine), Uri Gincel (Klavier), Paul Kleber (Kontrabass), Mathias Ruppnig (Schlagzeug)
Inhalt: 12 Tracks, 50:28 Minuten
Label: DMG Germany / Rectify Records
Vertrieb: Broken Silence
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Die Geschichte der Violine aus Szolnok
08:55 Minuten
Die Geige des Komponisten Daniel Weltlinger wurde vor 100 Jahren im ungarischen Szolnok gebaut. Er erbte sie von seinem Großvater. Im Album "Szolnok" zeichnet Weltlinger die Geschichte des Instruments und dessen Vorbesitzers nach.
Ein kleiner Aufkleber mit großer Wirkung: "Szolnok" steht auf dem Zettel im Inneren der Violine, die Daniel Weltlinger Ende der 1990er-Jahre von seinem Großvater erbte, und auf der Zarge noch dessen Initialen: ZF für Zoltan Fischmann.
Daniel Weltlinger, geboren 1977 in Sydney, hatte zuhause immer wieder Geschichten über Vertreibung und Flucht, über Judenverfolgung und über den Mord an Familienmitgliedern in KZs gehört. Wie so oft in solchen Fällen kam auch er viel zu spät auf die Idee, seinen Opa persönlich zu befragen. Zoltan Fischmann, der wie seine Violine im ungarischen Szolnok unweit von Budapest das Licht der Welt erblickte, starb 1998. Doch er hinterließ sein Instrument.
Die Geschichte der Geige ist die des Großvaters
"Das Besondere an dieser Violine ist ihre konstante Geschichte. Mein Großvater bekam sie von seinem Bruder, einem virtuosen Geiger, der 1918 an der Spanischen Grippe starb. Damals muss das Instrument noch recht neu gewesen sein. Mein Großvater war 18, als er 1920 Ungarn verlassen musste. Er ging zu Fuß erst bis Österreich dann nach Frankreich – alles ohne gültige Papiere. Aus Frankreich musste er ebenfalls fliehen, nach Marokko, wo er meine Großmutter kennenlernte. Danach kam die Revolution in Marokko und sie flohen erst nach Israel dann nach Australien, wo meine Großmutter eine Schwester hatte. Mein Opa hat immer für mich gespielt, noch bevor ich sprechen konnte. Als er starb, erbte ich die Violine. Seit sechs Jahren lebe ich jetzt in Berlin und seit Ende 2017 ist auch die Violine hier. Sie ist also wieder in Europa, von wo sie stammt."
Die Geschichte nimmt sich aus wie eine akustische Version des Romans "Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand". Tatsächlich wurde Zoltan Fischmann 96 Jahre alt. Er hat das totale Chaos nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn erlebt, hat Verhaftungen und Verhöre durch Francos Schergen ertragen und ist vor dem Vichy-Regime geflüchtet.
Fischmann hat im Widerstand gekämpft und zahlreiche, später berühmte Zeitgenossen kennengelernt wie Yehudi Menuhin, Stephane Grappelli oder Edith Piaf. Dabei war er von Beruf Ingenieur und Musik nur sein Hobby. Dass sowohl er als auch seine Violine, die er ständig im Rucksack mit sich trug, die unglaubliche Odyssee überlebt haben, grenzt an ein Wunder. Nur: Wie soll man dieses Wunder erzählen?
"Szolnok" zeichnet Lebensweg nach
"Meine ursprüngliche Idee war, einen ganz klassischen Ansatz zu verfolgen und ein Album mit Liedern zu machen, die mein Opa gerne gespielt hat. Er spielte Chansons, überhaupt mochte er Lieder. Aber er spielte auch klassische Stücke, Tangos oder Gypsy-Songs. Und natürlich viele jüdische Lieder, schließlich waren wir eine jüdische Familie. Klezmer allerdings kaum, eher jiddische Lieder. Meine Großmutter sang zu jeder Tageszeit irgendwelche jiddischen Lieder, die dann später meine Mutter übernahm. Aber über die Jahre kamen immer mehr Geschichten über die Violine zutage, die schon 20 Jahre ungespielt herumlag, und die Historie des Instruments selber rückte mehr und mehr in meinen Fokus."
Überwiegend ist "Szolnok" chronologisch aufgebaut. Der früh verstorbene Großonkel und Geigenstudent Ernő taucht auf, eine Caféstimmung in Budapest wird heraufbeschworen, der Aufbruch und der lange Marsch über Wien nach Marseille finden ihren Niederschlag.
Die meisten Kompositionen stammen von Daniel Weltlinger selber. Trotz einer leicht melancholischen Grundhaltung findet keine nostalgische Verklärung statt, weder im Positiven noch im Negativen. Eher sind es Stimmungsbilder, mal mit feinem Strich, mal mit kräftiger Hand gemalt. So wird das Ganze erstaunlich abwechslungsreich und wirkt mit ein paar Hintergrundinformationen auch ohne Texte, zum Beispiel in dem Stück "La Famille".
"Was dann folgt ist logisch: eine Pizzicato-Melodie, die der Großvater für die Enkel auf der Violine spielt. Es ist eine reine Fantasiekomposition, die ein wenig an eine Musiktruhe erinnert. Da geht es um die Weitergabe der Tradition an die Kinder, an die Enkel, in dem Fall also auch an mich."
Jetzt ist der Enkel dran
Daniel Weltlinger lässt die Geschichte von Großvaters Violine in "Szolnok" beginnen. Und dort beendet er sie auch, höchstpersönlich. Nach dem Besuch eines Geigenbauers vor Ort, der ihm erzählt, dass Szolnok Anfang des 20. Jahrhunderts eine angesehene Künstlerkolonie war, geht ihm das Lied nicht mehr aus dem Kopf, das der Opa ihm am häufigsten vorgespielt hatte: Estrellita. Wenn nicht hier und jetzt … wo und wann dann?
"Ich lief am Flussufer entlang und versank fast im Matsch, meine Jeans war total eingesaut. Doch letztendlich saß ich am Ufer und nahm Estrellita auf, mit Wasserrauschen und Vogelgezwitscher im Hintergrund und klammen Fingern, in genau der Stadt, aus der die Violine stammte. Ich habe die Melodie dann in einer Art Traumsequenz weitergeführt. Es ist das letzte Stück auf dem Album und ich finde, es ist eine liebenswerte Hommage an das Instrument."
Für Daniel Weltlinger ist es mehr als Geschichte
"Szolnok" von Daniel Weltlinger ist ein wunderbar vertontes Stück Geschichte. Und eine, die noch längst nicht zu Ende ist, findet der Komponist. Das Hier und Jetzt ist nur eine Momentaufnahme. Wer weiß, was die Szolnok-Violine in weiteren 100 Jahren zu erzählen hat. Warten wir es alle ab.
"Dieses Instrument schaut nach vorne. Ich spiele es wie jede andere Violine und niemand würde etwas ahnen, wenn ich nicht die Geschichte dazu parat hätte. Ich lebe in Berlin im Jahr 2019, die Violine lebt hier mit mir weiter, und das ist das wundervollste daran. Es ist die kraftvollste und positivste Aussage, die man überhaupt treffen kann, es fasst im Grunde alles zusammen."