Vergangenheit und Zukunft neben der Straßenbahn
In unserem "Originalton" geht es weiter mit der Linie 4 durch Rotterdam: Heute vorbei an einem "Food Lab" und dem "Lokal" in den Bögen des Viaduktes, zum Archiv, wo man etwas über die Geschichte der Linie 4 erfahren kann, hin zum ehemaligen Gefängnis, wo bald junge Familien wohnen sollen.
Die Welt aus einer fahrenden Straßenbahn zu betrachten, ist eine oberflächliche Angelegenheit. Warum, denke ich zum Beispiel, hängt an der Ecke zur Weena ein alter roter BMW über dem Zaun?
Oder warum fährt die Bahn nachts drei dunkelhäutigen Männern, die zur Haltestelle rennen, einfach davon, ohne zu halten? Wegen Betriebsschluss, aus Unfreundlichkeit, aus Angst oder Rassismus?
Zum Glück habe ich am anderen Morgen meinen Stadtführer Marcel Teunissen dabei, der mir erklären kann, was es mit dem Viadukt hinter dem Hofplein auf sich hat, das auf seiner Plattform gerade begrünt wird.
"Das ist ein Viadukt für die älteste, elektrische Eisenbahn der Niederlande aus 1908. Interessant, denn es ging nach Scheveningen. Das Endpunkt der Linie war gerade auf dem Strand. Und damals war es möglich, von Russland, St. Petersburg, nach Scheveningen zu fahren."
Heute ist Scheveningen ein Vorort von Den Haag, dahin fährt eine S-Bahn. In den Viaduktbögen haben trotz Bauarbeiten die ersten Geschäfte eröffnet. Eine Espressobar, die sich schlicht Lokal nennt, aber als neuesten Hype frisch aufgebrühten Filterkaffee serviert, ein Fitnesstudio, das für Individualität zu sorgen verspricht. Ein Restaurant, das sich lieber Food Lab nennt.
Früher war die 4 gelb - für die Analphabeten
Wir sind auf dem Weg mit der 4 in den Norden, stoppen aber nochmal am Heer Bokelweg. Dort, gleich neben dem Viadukt, ist das Archiv der Stadt. Hier lese ich, dass die 4 in Richtung Norden früher die 14 war und die 4 bei ihrer Einrichtung im Oktober 1906 noch die zusätzliche Farbe gelb hatte, damit auch Analphabeten in die richtige Straßenbahn stiegen.
Das gelbverklinkerte Gebäude aus dem 19. Jahrhundert am Kanal ist keine Schule, wie ich beim Vorüberfahren annahm, und die Häuser aus rotem Ziegelstein dahinter haben doch arg viele Gitter. Auf dem Stadtplan von Rotterdam ist das von der Straße unsichtbare mehrflügelige Panoptikum gut zu sehen. Gericht und Gefängnis, mitten in einem Wohngebiet. Aber was war das hier für eine Bevölkerung, als das gebaut wurde?
"Händler, Arbeiter, Kleinbürgertum, aber niemals multikulturell. Die meisten internationalen Arbeiter lebten auf dem Südufer. Architektur ohne Architekten. Man hat es komponiert mit Musterbüchern."
Und hier ist ja das Gefängnis mittendrin.
"Nein, das Gefängnis ist etwas älter, das stand frei am Anfang."
Seit kurzem stehen Gericht und Gefängnis leer und eine Entwicklungsgesellschaft hat sich mit blumiger Marketingprosa der Vermarktung der Gebäude angenommen. Tuin van Noord, Garten des Nordens, heißt das Projekt. Es ist nicht nur in Deutschland gerade schick, Eigentumswohnungen zu kaufen, die sich in ehemaligen Gefängnissen, Besserungsanstalten und Weglaufhäusern für gefallene Mädchen befinden. Wer dort einzieht, muss sich ganz sicher sein, dass Häuser keine Seele haben und eine Renovierung die Spuren der Repression und Gewalt gründlich verwischt hat.