Mit fünf Jahren auf die Schulbank
Berliner Kinder beginnen früher zu lernen als die meisten Kinder in Deutschland. Seit einem Jahr ist das Einschulungsalter in der Hauptstadt um ein halbes Jahr herabgesetzt. Die Mehrheit der Erstklässler kommt nun schon mit fünf Jahren in die Schule. Gleichzeitig hat der Berliner Senat die Anfangsphase der Schulzeit flexibilisiert: Jüngere Kinder lernen mit älteren gemeinsam, lernstarke Kinder gelangen früher in die nächste Klassenstufe als lernschwache. Wie fällt die Bilanz des neuen Berliner Schulgesetzes nach einem Jahr aus?
Junge: "Als die erste Klasse anfing, das war mitten in der Woche."
Mädchen: "Ich habe mich schon ganz doll gefreut. Und dann mussten wir ins Klassenzimmer und dann haben wir uns alle aufgemalt in einem Bilderrahmen."
Marvin und Gesa erinnern sich noch gut an den Tag ihrer Einschulung. Marvin war damals fünfeinhalb, Gesa fast sieben Jahre alt. Die beiden besuchen die erste Klasse der Carl-Sonnenschein Grundschule im Berliner Bezirk Tempelhof.
Wie den beiden Erstklässlern geht es in diesem Jahr vielen Kindern in der Hauptstadt: Seitdem im vergangenen Jahr der Stichtag für die Einschulung ein halbes Jahr nach vorne verschoben wurde, liegen maximal zwei Jahre Alters- und Entwicklungsunterschied zwischen Berlins Erstklässlern. Auch für die Lehrer eine neue Situation. Gudrun Franke betreut seit Jahren schulische Neuzugänge.
Franke: "Ich hatte acht Kinder, die noch fünf waren bei der Einschulung. Ich hatte aber auch einige Kinder, die schon sieben waren bei der Einschulung und die schon immens weit waren in der Entwicklung. Wir haben hier Kinder gehabt, mehrere Kinder, die den Stift noch mit dem Pfötchengriff halten, die noch nie eine Schere in der Hand gehalten haben.
Wir merken das ganz genau, dass die Kleinen, die sind nicht so belastbar, sind sehr verspielt, brauchen immer wieder Bestätigung durch die Lehrer, einfach weil die Reife noch fehlt."
Kinder konnten bislang nur dann bereits mit fünfeinhalb Jahren die Schulbank drücken, wenn sie in ihrer Entwicklung ungewöhnlich weit waren – in diesem Fall mussten die Eltern einen besonderen Antrag stellen. Dass das frühe Einschulungsalter nun hingegen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist - für Berlins Bildungssenator Klaus Böger eine positive Neuerung.
Böger: "Da bezieht man sich (...) auf (...) die Tatsache, dass das durchschnittliche Einschulalter bei 6,7 lag und wir generell in Deutschland darunter leiden, dass wir (...) keinen sinnvollen Umgang mit Lebenszeit und Bildungszeit haben und es relativ lange dauert, bis bestimmte Abschlüsse sind. Ich glaube generell – und da können Sie jeden Wissenschaftler fragen – Schulreife ist in der Tat nicht zu erreichen durch das Warten auf die Schulreife."
Die vorgezogene Schulreife ist einer der Steine in jenem Reformwerk, an dem sieben Jahre gefeilt worden war und das im Januar 2004 vom Senat verabschiedet wurde. Klaus Böger hatte das neue Schulgesetz bereits als Berliner "Kulturrevolution" und als "fortschrittlichstes Gesetz seiner Art" bezeichnet. Kinder früher an Bildung heranzuführen, sie früher in Bildungsinstitutionen hinein zu bringen, ist eine der zentralen Ideen - schon die PISA-Studie hatte die Bedeutung der Primarstufe und die Förderung frühkindlicher Bildung betont, die bereits im Kindergarten beginne.
Böger: "Daraus haben wir die Schlussfolgerung gezogen, systematisch alle Kinder ab 3 in Bildungseinrichtung zu kommen. Übrigens ab 2007. Das letzte Jahr auch kostenfrei und zwar nicht nur 5 Stunden, sondern je nachdem was bewilligt wurde."
Der verpflichtende Kindergartenbesuch ab drei Jahren – er soll mit dafür sorgen, soziale Missverhältnisse auszugleichen und Kinder auf die Schule vorzubereiten: Sprachunterricht, sensorische Entwicklung sowie Schaffung anderer Lernvoraussetzungen mit eingeschlossen. Einst war dies Aufgabe der Vorschule, die mit dem neuen Modell abgeschafft wurde.
Ob nun der Kindergarten die Aufgaben der Vorschule wird abdecken können - Kritiker bezweifeln dies.
Ingrid Hase blickt auf viele Jahre Erfahrung mit dem Vorschulmodell zurück. Sie hat lange Zeit in der Lehrerausbildung gearbeitet, bevor sie im vergangenen Jahr wieder selbst eine erste Klasse übernahm.
Hase: "Es war eine Vorklassenleiterin und eine Lehrerin, die sich jeweils einer Gruppe zugewandt hatte, die später zusammengelegt wurde. Die Vorklassenleiterin hat sozusagen das sensorische Programm mit den Kindern erledigt und hat das den Lehrer übertragen und im nächsten Jahr hat der Lehrer das Verfahren hier des Lesens und der Mathematik mit dem Vorklassenleiter gemeinsam gemacht. Und das war eigentlich auch grundsätzlicher. Ich habe hier vorne so einen Entwicklungsbaum angebracht, wie wichtig die sensorische Entwicklung, die Entwicklung der Sinne ist, bevor die Kinder das Lernen anfangen."
Gerade bei den Jüngsten könne diese besondere Förderung, die Schaffung der Lernvoraussetzungen, wie sie einst die Vorschule vorsah, zukünftig zu kurz kommen, befürchtet sie. Ihre Kritik: Mit der Abschaffung der Vorschule sind nicht mehr zwei, sondern ist lediglich eine Lehrkraft für eine Gruppe von Schulanfängern zuständig.
Dennoch ist die Lehrerin grundsätzlich für das neue Modell. Es sieht vor, dass Erstklässler ab kommendem Jahr nicht mehr in einem Klassenverband ausschließlich mit anderen Schulanfängern lernen, sondern dass sie gemeinsam mit Zweitklässlern und – an manchen Schulen – auch mit Drittklässlern die Schulbank drücken.
Eine Neuauflage des alten Dorfschulmodells? Mitnichten, meint Norbert Palzkill, Schuldirektor der Carl-Sonnenschein-Schule. Das Reformmodell bringe neben den neuen Klassen- und Altersstrukturen auch eine modernisierte Form des Lernens mit sich.
Palzkill: "Sie hatten früher etwas, als Sie noch zur Schule gegangen sind oder die meisten Eltern - das nenne ich jetzt mal Gleichschrittpädagogik. Das ging von dem Bild aus, alle Kinder stellen sich nebeneinander in eine Reihe und dann schreitet man gemeinsam voran. Dieses Voranschreiten bezogen auf die Lernfortschritte. Dann gab's natürlich Kinder, die so ein bisschen hinterherhinken und für die hat man einen Förderunterricht eingerichtet. Und dann gibt es Kinder, die wären eigentlich lieber schneller voran gegangen, die musste man dann bremsen. Diese Gleichschrittpädagogik, ist schon lange out."
Differenzierung statt Gleichschritt lautet das Stichwort des neuen Konzepts. Die Idee: Statt Kindern einer Klasse einheitliche und für die gesamte Gruppe verbindliche Aufgaben und Lernziele abzuverlangen, sollen Schüler nun den eigenen Fähigkeiten und Voraussetzungen gemäß lernen. Lernerfolge und schulisches Fortkommen verliefen, so Palzkill, somit individuell verschieden. Alters- und Entwicklungsunterschiede der Schüler könnten mit dem neuen Lernmodell ausgeglichen werden: Wer zu Schulbeginn bereits lesen oder wer schon rechnen kann, wird schnell am Unterricht der Zweit- oder Drittklässler teilnehmen können. Schüler, die andere Voraussetzungen mitbringen und mehr Zeit brauchen, bekommen diese.
Und noch etwas hat sich mit dem neuen Schulgesetz geändert: Die Rahmenlehrpläne. Das neue Modell verlangt...
Palzkill: "...dass die Kinder vier Kompetenzen erwerben. Das heißt zunächst das, was alle kennen: Die sollen was lernen. Die sollen bestimmte Fähigkeiten erwerben Kenntnisse, Sachwissen. Das Zweite aber ist eine so genannte Methodenkompetenz. Wenn wir heute wissen, dass (....) im Berufsleben von jedem Menschen gefordert ist, dass er sich ständig auf neue berufliche Bedingungen einstellt. Dass man lebenslang lernen muss. Und das heißt natürlich von der Schule, dass es ein Kind dazu erziehen muss, sich selbst neue Inhalte anzueignen.
Das Dritte eine personale Kompetenz. Dass ich lernen muss, mich selbst einzuschätzen. Dass ich sage, ich habe eine Arbeit, wie lange werde ich dafür brauchen, schaffe ich das? Wie komme ich mit meiner Persönlichkeit zu dem, was ich da brauche. Und viertens die soziale Kompetenz. Welcher Wissenschaftler arbeitet heute noch allein? Ich muss die Fähigkeit haben, im Team zu arbeiten."
In der ersten Klasse von Ingrid Hase sitzen die Schüler zu Gruppen von jeweils sechs Kindern vor ihren Heften. Ein jedes ist mit anderen Aufgaben beschäftigt. Vor seinem aufgeschlagenen Heft sitzt der kleine Denis und schiebt die Kugeln seiner Rechenmaschine, seine Sitznachbarin übt Schreibschrift und kritzelt lange Reihen von Buchstaben in ihr Heft.
Junge: "Ich rechne im "Das Zahlenbuch", rechne ich."
Mädchen: "Ich mache im Konfettiheft die Nummer drei. Ich bin gerade erst reingekommen und habe das X gemacht und jetzt habe ich das gelesen und habe das reingeschrieben. Und dann irgendwann bin ich damit ganz fertig. Das muss ich ganz schnell fertig machen, also der Wochenplan ist für mich sehr wichtig."
Die Aufgaben, die Denis in seinem "Zahlenbuch" und seine Tischnachbarin in ihrem "Konfettiheft" lösen, gehören zu denen des so genannten Wochenarbeitsplanes: Ein selbst gestecktes Ziel muss bis Ende der Woche erreicht werden. Die individuell verschiedenen Aufgaben, die die Kinder in dieser Zeit lösen müssen, nehmen Bezug auf ein vorab mit der gesamten Klasse erarbeitetes Thema.
Ingrid Hase: "Und jetzt ist sozusagen der gemeinschaftliche Teil des Lernens erledigt und in der Wochenplanarbeit schließen sich jetzt verschiedene Aufgaben an. Das gehört jetzt zur neuen Unterrichtsmethode, dass der frontale Unterricht aufgelöst wird und die Kinder selbständig für sich arbeiten und diese Aufgaben, die ich jetzt stelle, da ist das Differenzierungsmoment enthalten, weil die Kinder eben nur die Sachen machen, die sie können."
Mutter: "Man verliert die Orientierung, wie weit ist mein Kind, wie kann ich es fördern, was kann ich tun? Und das ist noch ein bisschen unklar."
Meint hingegen Katharina Holbach, Mutter einer Tochter, die die erste Klasse der Grundschule in Tempelhof besucht.
Mutter: "Also ich würde mir wünschen, ein klares Klassenziel, was das Kind im Schuljahr erreichen kann oder muss. Bei diesem neuen System ist es so, dass man sagt, die Kinder haben zwar eine bestimmte vorgegebene Linie, aber wenn sie es nicht schaffen, weil sie noch nicht so weit sind, denn bei fünfeinhalb und sieben ist noch eine Zeitspanne in der Entwicklungsstufe. Manchmal fragt man sich – gut die Jüngeren werden von den Älteren gefördert. Aber wer fördert die Älteren? Macht das die Schule, machen das die Eltern?"
Ihre Befürchtungen teilt die Mutter mit vielen Eltern.
Klassenlehrerin Ingrid Hase: "Ich habe immer so viele Eltern in der Klasse hier morgens stehen, ich habe da eigentlich auch noch einen Erziehungsauftrag, einen pädagogischen Hilfsauftrag für die Eltern. Und das ist ganz wichtig, dass man da die Klassentür aufmacht/ dass man mit den Eltern rein bekommt."
Mehr als früher werde in dem neuen Schulmodell das Engagement der Eltern gefragt, ergänzt sie. Zum Glück funktioniere das an der Sonnenschein-Grundschule dank aktiver Elternschaft auch gut...
Hase: "... so dass ich fast jede Woche 1,2 Eltern da habe, zwei Mütter vornehmlich, aber auch Väter, die dann von morgens bis abends im Unterricht auch bleiben und sozusagen das Lernen hier kennen lernen und auch unterstützen. Aber das ist natürlich auch nicht unbedingt ihre Aufgabe."
Eigentlich wäre dies Aufgabe der Lehrer. Nur fehlt es hier wie vielerorts an genügend Lehrkräften. In Schöneberg/Tempelhof, dem mit jährlich rund 2400 schulischen Neuzugängen kinderreichstem Bezirk Berlins, sitzen durchschnittlich 29 Kinder in einer Klasse. Eindeutig zu viele, um jedes Kind, so wie es das neue Schulgesetz vorsieht, individuell seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten gemäß zu fördern. Die Antwort aus dem Senat...
Böger: "Wenn Sie über 50 Jahre die Schulgeschichte beobachten, dann werden Sie beobachten, dass seit 50 Jahren die Lehrerinnen und Lehrer sagen, die Klassen sind zu groß, wir brauchen Unterstützung und Hilfe. Nur gibt es leider dafür keine finanzielle Möglichkeiten. Das ist aber nicht ein ausschließliches Berliner Problem, sondern das stellt sich in nahezu allen Länderhaushalten."
Und weil man sich nun schon so lange darüber beklagt, scheint es bis heute keinen Grund zu geben, den Zustand endlich zu ändern. Ursprünglich, erzählt Schulleiter Palzkill, habe man den Schulen zwei Lehrkräfte pro Klasse versprochen - eine für den Schuldirektor wichtige Voraussetzung, das neue Lernmodell zu unterstützen. Doch von den versprochenen zwei Lehrkräften blieb am Ende nur noch eine pro Klasse übrig.
Palzkill: "Eines ist klar, die dort unterrichten werden, in der flexiblen Schulanfangsphase, die werden an ihr Limit gehen müssen und das auch überschreiten, was die Belastbarkeit der Kolleginnen betrifft."
Dennoch befürworten er und seine Kolleginnen das neue Schulmodell. Im Grunde sei es ein Pädagogentraum, sagen sie – wenn auch nur theoretisch und auf dem Papier.
Hase: "Es steht und fällt mit den äußeren Bedingungen. Die Idee finde ich super. Differenzierung habe ich seit Jahren immer angemahnt. Und ich stehe auch hinter den neuen Lernzielen, die jetzt eine neue Beachtung gefunden haben,"
G. Franke: "Die Bedingungen müssen einfach andere sein: Kleine Klassen, mehr Raum, mehr Kollegen und dann wäre das alles ganz fantastisch. Aber so nicht. Man kann nicht ohne Schaffen der Bedingungen was Neues fordern. Das kostet eben alles Geld. Und wer kein Geld ausgeben will dafür, kann nicht erwarten, (...) dass man das alles durchkriegt."
Mädchen: "Ich habe mich schon ganz doll gefreut. Und dann mussten wir ins Klassenzimmer und dann haben wir uns alle aufgemalt in einem Bilderrahmen."
Marvin und Gesa erinnern sich noch gut an den Tag ihrer Einschulung. Marvin war damals fünfeinhalb, Gesa fast sieben Jahre alt. Die beiden besuchen die erste Klasse der Carl-Sonnenschein Grundschule im Berliner Bezirk Tempelhof.
Wie den beiden Erstklässlern geht es in diesem Jahr vielen Kindern in der Hauptstadt: Seitdem im vergangenen Jahr der Stichtag für die Einschulung ein halbes Jahr nach vorne verschoben wurde, liegen maximal zwei Jahre Alters- und Entwicklungsunterschied zwischen Berlins Erstklässlern. Auch für die Lehrer eine neue Situation. Gudrun Franke betreut seit Jahren schulische Neuzugänge.
Franke: "Ich hatte acht Kinder, die noch fünf waren bei der Einschulung. Ich hatte aber auch einige Kinder, die schon sieben waren bei der Einschulung und die schon immens weit waren in der Entwicklung. Wir haben hier Kinder gehabt, mehrere Kinder, die den Stift noch mit dem Pfötchengriff halten, die noch nie eine Schere in der Hand gehalten haben.
Wir merken das ganz genau, dass die Kleinen, die sind nicht so belastbar, sind sehr verspielt, brauchen immer wieder Bestätigung durch die Lehrer, einfach weil die Reife noch fehlt."
Kinder konnten bislang nur dann bereits mit fünfeinhalb Jahren die Schulbank drücken, wenn sie in ihrer Entwicklung ungewöhnlich weit waren – in diesem Fall mussten die Eltern einen besonderen Antrag stellen. Dass das frühe Einschulungsalter nun hingegen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist - für Berlins Bildungssenator Klaus Böger eine positive Neuerung.
Böger: "Da bezieht man sich (...) auf (...) die Tatsache, dass das durchschnittliche Einschulalter bei 6,7 lag und wir generell in Deutschland darunter leiden, dass wir (...) keinen sinnvollen Umgang mit Lebenszeit und Bildungszeit haben und es relativ lange dauert, bis bestimmte Abschlüsse sind. Ich glaube generell – und da können Sie jeden Wissenschaftler fragen – Schulreife ist in der Tat nicht zu erreichen durch das Warten auf die Schulreife."
Die vorgezogene Schulreife ist einer der Steine in jenem Reformwerk, an dem sieben Jahre gefeilt worden war und das im Januar 2004 vom Senat verabschiedet wurde. Klaus Böger hatte das neue Schulgesetz bereits als Berliner "Kulturrevolution" und als "fortschrittlichstes Gesetz seiner Art" bezeichnet. Kinder früher an Bildung heranzuführen, sie früher in Bildungsinstitutionen hinein zu bringen, ist eine der zentralen Ideen - schon die PISA-Studie hatte die Bedeutung der Primarstufe und die Förderung frühkindlicher Bildung betont, die bereits im Kindergarten beginne.
Böger: "Daraus haben wir die Schlussfolgerung gezogen, systematisch alle Kinder ab 3 in Bildungseinrichtung zu kommen. Übrigens ab 2007. Das letzte Jahr auch kostenfrei und zwar nicht nur 5 Stunden, sondern je nachdem was bewilligt wurde."
Der verpflichtende Kindergartenbesuch ab drei Jahren – er soll mit dafür sorgen, soziale Missverhältnisse auszugleichen und Kinder auf die Schule vorzubereiten: Sprachunterricht, sensorische Entwicklung sowie Schaffung anderer Lernvoraussetzungen mit eingeschlossen. Einst war dies Aufgabe der Vorschule, die mit dem neuen Modell abgeschafft wurde.
Ob nun der Kindergarten die Aufgaben der Vorschule wird abdecken können - Kritiker bezweifeln dies.
Ingrid Hase blickt auf viele Jahre Erfahrung mit dem Vorschulmodell zurück. Sie hat lange Zeit in der Lehrerausbildung gearbeitet, bevor sie im vergangenen Jahr wieder selbst eine erste Klasse übernahm.
Hase: "Es war eine Vorklassenleiterin und eine Lehrerin, die sich jeweils einer Gruppe zugewandt hatte, die später zusammengelegt wurde. Die Vorklassenleiterin hat sozusagen das sensorische Programm mit den Kindern erledigt und hat das den Lehrer übertragen und im nächsten Jahr hat der Lehrer das Verfahren hier des Lesens und der Mathematik mit dem Vorklassenleiter gemeinsam gemacht. Und das war eigentlich auch grundsätzlicher. Ich habe hier vorne so einen Entwicklungsbaum angebracht, wie wichtig die sensorische Entwicklung, die Entwicklung der Sinne ist, bevor die Kinder das Lernen anfangen."
Gerade bei den Jüngsten könne diese besondere Förderung, die Schaffung der Lernvoraussetzungen, wie sie einst die Vorschule vorsah, zukünftig zu kurz kommen, befürchtet sie. Ihre Kritik: Mit der Abschaffung der Vorschule sind nicht mehr zwei, sondern ist lediglich eine Lehrkraft für eine Gruppe von Schulanfängern zuständig.
Dennoch ist die Lehrerin grundsätzlich für das neue Modell. Es sieht vor, dass Erstklässler ab kommendem Jahr nicht mehr in einem Klassenverband ausschließlich mit anderen Schulanfängern lernen, sondern dass sie gemeinsam mit Zweitklässlern und – an manchen Schulen – auch mit Drittklässlern die Schulbank drücken.
Eine Neuauflage des alten Dorfschulmodells? Mitnichten, meint Norbert Palzkill, Schuldirektor der Carl-Sonnenschein-Schule. Das Reformmodell bringe neben den neuen Klassen- und Altersstrukturen auch eine modernisierte Form des Lernens mit sich.
Palzkill: "Sie hatten früher etwas, als Sie noch zur Schule gegangen sind oder die meisten Eltern - das nenne ich jetzt mal Gleichschrittpädagogik. Das ging von dem Bild aus, alle Kinder stellen sich nebeneinander in eine Reihe und dann schreitet man gemeinsam voran. Dieses Voranschreiten bezogen auf die Lernfortschritte. Dann gab's natürlich Kinder, die so ein bisschen hinterherhinken und für die hat man einen Förderunterricht eingerichtet. Und dann gibt es Kinder, die wären eigentlich lieber schneller voran gegangen, die musste man dann bremsen. Diese Gleichschrittpädagogik, ist schon lange out."
Differenzierung statt Gleichschritt lautet das Stichwort des neuen Konzepts. Die Idee: Statt Kindern einer Klasse einheitliche und für die gesamte Gruppe verbindliche Aufgaben und Lernziele abzuverlangen, sollen Schüler nun den eigenen Fähigkeiten und Voraussetzungen gemäß lernen. Lernerfolge und schulisches Fortkommen verliefen, so Palzkill, somit individuell verschieden. Alters- und Entwicklungsunterschiede der Schüler könnten mit dem neuen Lernmodell ausgeglichen werden: Wer zu Schulbeginn bereits lesen oder wer schon rechnen kann, wird schnell am Unterricht der Zweit- oder Drittklässler teilnehmen können. Schüler, die andere Voraussetzungen mitbringen und mehr Zeit brauchen, bekommen diese.
Und noch etwas hat sich mit dem neuen Schulgesetz geändert: Die Rahmenlehrpläne. Das neue Modell verlangt...
Palzkill: "...dass die Kinder vier Kompetenzen erwerben. Das heißt zunächst das, was alle kennen: Die sollen was lernen. Die sollen bestimmte Fähigkeiten erwerben Kenntnisse, Sachwissen. Das Zweite aber ist eine so genannte Methodenkompetenz. Wenn wir heute wissen, dass (....) im Berufsleben von jedem Menschen gefordert ist, dass er sich ständig auf neue berufliche Bedingungen einstellt. Dass man lebenslang lernen muss. Und das heißt natürlich von der Schule, dass es ein Kind dazu erziehen muss, sich selbst neue Inhalte anzueignen.
Das Dritte eine personale Kompetenz. Dass ich lernen muss, mich selbst einzuschätzen. Dass ich sage, ich habe eine Arbeit, wie lange werde ich dafür brauchen, schaffe ich das? Wie komme ich mit meiner Persönlichkeit zu dem, was ich da brauche. Und viertens die soziale Kompetenz. Welcher Wissenschaftler arbeitet heute noch allein? Ich muss die Fähigkeit haben, im Team zu arbeiten."
In der ersten Klasse von Ingrid Hase sitzen die Schüler zu Gruppen von jeweils sechs Kindern vor ihren Heften. Ein jedes ist mit anderen Aufgaben beschäftigt. Vor seinem aufgeschlagenen Heft sitzt der kleine Denis und schiebt die Kugeln seiner Rechenmaschine, seine Sitznachbarin übt Schreibschrift und kritzelt lange Reihen von Buchstaben in ihr Heft.
Junge: "Ich rechne im "Das Zahlenbuch", rechne ich."
Mädchen: "Ich mache im Konfettiheft die Nummer drei. Ich bin gerade erst reingekommen und habe das X gemacht und jetzt habe ich das gelesen und habe das reingeschrieben. Und dann irgendwann bin ich damit ganz fertig. Das muss ich ganz schnell fertig machen, also der Wochenplan ist für mich sehr wichtig."
Die Aufgaben, die Denis in seinem "Zahlenbuch" und seine Tischnachbarin in ihrem "Konfettiheft" lösen, gehören zu denen des so genannten Wochenarbeitsplanes: Ein selbst gestecktes Ziel muss bis Ende der Woche erreicht werden. Die individuell verschiedenen Aufgaben, die die Kinder in dieser Zeit lösen müssen, nehmen Bezug auf ein vorab mit der gesamten Klasse erarbeitetes Thema.
Ingrid Hase: "Und jetzt ist sozusagen der gemeinschaftliche Teil des Lernens erledigt und in der Wochenplanarbeit schließen sich jetzt verschiedene Aufgaben an. Das gehört jetzt zur neuen Unterrichtsmethode, dass der frontale Unterricht aufgelöst wird und die Kinder selbständig für sich arbeiten und diese Aufgaben, die ich jetzt stelle, da ist das Differenzierungsmoment enthalten, weil die Kinder eben nur die Sachen machen, die sie können."
Mutter: "Man verliert die Orientierung, wie weit ist mein Kind, wie kann ich es fördern, was kann ich tun? Und das ist noch ein bisschen unklar."
Meint hingegen Katharina Holbach, Mutter einer Tochter, die die erste Klasse der Grundschule in Tempelhof besucht.
Mutter: "Also ich würde mir wünschen, ein klares Klassenziel, was das Kind im Schuljahr erreichen kann oder muss. Bei diesem neuen System ist es so, dass man sagt, die Kinder haben zwar eine bestimmte vorgegebene Linie, aber wenn sie es nicht schaffen, weil sie noch nicht so weit sind, denn bei fünfeinhalb und sieben ist noch eine Zeitspanne in der Entwicklungsstufe. Manchmal fragt man sich – gut die Jüngeren werden von den Älteren gefördert. Aber wer fördert die Älteren? Macht das die Schule, machen das die Eltern?"
Ihre Befürchtungen teilt die Mutter mit vielen Eltern.
Klassenlehrerin Ingrid Hase: "Ich habe immer so viele Eltern in der Klasse hier morgens stehen, ich habe da eigentlich auch noch einen Erziehungsauftrag, einen pädagogischen Hilfsauftrag für die Eltern. Und das ist ganz wichtig, dass man da die Klassentür aufmacht/ dass man mit den Eltern rein bekommt."
Mehr als früher werde in dem neuen Schulmodell das Engagement der Eltern gefragt, ergänzt sie. Zum Glück funktioniere das an der Sonnenschein-Grundschule dank aktiver Elternschaft auch gut...
Hase: "... so dass ich fast jede Woche 1,2 Eltern da habe, zwei Mütter vornehmlich, aber auch Väter, die dann von morgens bis abends im Unterricht auch bleiben und sozusagen das Lernen hier kennen lernen und auch unterstützen. Aber das ist natürlich auch nicht unbedingt ihre Aufgabe."
Eigentlich wäre dies Aufgabe der Lehrer. Nur fehlt es hier wie vielerorts an genügend Lehrkräften. In Schöneberg/Tempelhof, dem mit jährlich rund 2400 schulischen Neuzugängen kinderreichstem Bezirk Berlins, sitzen durchschnittlich 29 Kinder in einer Klasse. Eindeutig zu viele, um jedes Kind, so wie es das neue Schulgesetz vorsieht, individuell seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten gemäß zu fördern. Die Antwort aus dem Senat...
Böger: "Wenn Sie über 50 Jahre die Schulgeschichte beobachten, dann werden Sie beobachten, dass seit 50 Jahren die Lehrerinnen und Lehrer sagen, die Klassen sind zu groß, wir brauchen Unterstützung und Hilfe. Nur gibt es leider dafür keine finanzielle Möglichkeiten. Das ist aber nicht ein ausschließliches Berliner Problem, sondern das stellt sich in nahezu allen Länderhaushalten."
Und weil man sich nun schon so lange darüber beklagt, scheint es bis heute keinen Grund zu geben, den Zustand endlich zu ändern. Ursprünglich, erzählt Schulleiter Palzkill, habe man den Schulen zwei Lehrkräfte pro Klasse versprochen - eine für den Schuldirektor wichtige Voraussetzung, das neue Lernmodell zu unterstützen. Doch von den versprochenen zwei Lehrkräften blieb am Ende nur noch eine pro Klasse übrig.
Palzkill: "Eines ist klar, die dort unterrichten werden, in der flexiblen Schulanfangsphase, die werden an ihr Limit gehen müssen und das auch überschreiten, was die Belastbarkeit der Kolleginnen betrifft."
Dennoch befürworten er und seine Kolleginnen das neue Schulmodell. Im Grunde sei es ein Pädagogentraum, sagen sie – wenn auch nur theoretisch und auf dem Papier.
Hase: "Es steht und fällt mit den äußeren Bedingungen. Die Idee finde ich super. Differenzierung habe ich seit Jahren immer angemahnt. Und ich stehe auch hinter den neuen Lernzielen, die jetzt eine neue Beachtung gefunden haben,"
G. Franke: "Die Bedingungen müssen einfach andere sein: Kleine Klassen, mehr Raum, mehr Kollegen und dann wäre das alles ganz fantastisch. Aber so nicht. Man kann nicht ohne Schaffen der Bedingungen was Neues fordern. Das kostet eben alles Geld. Und wer kein Geld ausgeben will dafür, kann nicht erwarten, (...) dass man das alles durchkriegt."