Marko Martin, Schriftsteller in Berlin, veröffentlichte unter anderem das Buch "Orwell, Koestler und all die anderen". Zuletzt erschien sein Erzählband "Umsteigen in Babylon".
Big Brother still watching you!
In den Zeiten von Trump und Putin können Bücher mehr als nur Trost spenden: George Orwells "1984" oder Václav Havels "Versuch in der Wahrheit zu leben" haben nichts von ihrer subversiven Aktualität eingebüßt, meint der Schriftsteller Marko Martin.
So schnell kann es gehen im Internet-Zeitalter: Kaum hatte Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway den Begriff "Alternative Fakten" in die Debatte geworfen, um offensichtliche Lügen über den Publikumsandrang bei der präsidentiellen Inauguration zu rechtfertigen, erinnerten sich so manche an den "newspeak" in George Orwells "1984". Gleich darauf tauchten zahlreiche Orwell-Zitate auf Twitter auf und das halbvergessene Buch schnellte auf der Amazon-Liste rasant nach oben.
Hoffen wir, dass dies mehr ist als einer jener nur allzu bald wieder vergessenen Hypes. Denn darum ging es ja vor allem in Orwells antitotalitärer Dystopie - um das Bestreben der Macht, unser Gedächtnis zu zerstören, zu entleeren und danach aufzufüllen mit neuen Vokabeln bar jeder Bedeutung: Es gibt dann keine althergebrachten "Lügen" mehr, sondern nur noch smarte "alternative facts".
Lange als überkommen abgetan
Freilich besteht die beunruhigende Ironie darin, dass der gleiche Kultur- und Medienbetrieb, der jetzt voll des Lobes ist über Orwells evidente Aktualität, jahrzehntelang alles getan hatte, um das Jahrhundertbuch zu banalisieren. Galt nicht bereits in den studentenbewegten Sechzigern dieser letzte Roman des englischen Herzenssozialisten als "obsolet", als Kind des Kalten Krieges? Wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten in den Schulen nicht viel lieber Aldous Huxleys "Brave New World" durchgeackert, da diese doch "unseren Erfahrungen" viel mehr entspräche als die düstere Welt von Big Brother?
Die bald schon wohlfeil gewordene Kritik an Konsumterror, den Manipulationen der Werbeindustrie und staatlicher Videoüberwachung verdrängte in den westlichen Gesellschaften zumindest partiell das Wissen um den wirklichen Macht- und Meinungsterror.
Verlernt, das Böse beim Namen zu nennen?
George Orwell, seit seinem Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg körperlich geschwächt, hatte "1984" im wahrsten Wortsinn dem Tod abgerungen. Ehe er im Januar 1950 starb, beschwor er seine Freunde, "the great conversation of mankind" nie zu vergessen. Fast wäre dies dennoch geschehen und hätte politisch korrektem Geplapper Platz gemacht.
Denn hatten einflussreiche Universitätskreise nicht auch Hannah Arendts großangelegte Untersuchung über "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" zwischendurch für "obsolet" erklärt - mit dem abstrusen Pseudo-Argument, dass "die Industrie- und Post-Industriegesellschaften in aller Welt" doch mit den gleichen Problemen zu kämpfen hätten und der Fokus deshalb eher auf solche Gemeinsamkeiten gerichtet werden solle?
Was, wenn liberale Abwehrkräfte auch durch diese Ignoranz geschwächt wurden, durch ihr Unvermögen, das Böse beim Namen zu nennen? Denn hatte man dem im November 2015 verstorbenen französischen Philosophen André Glucksmann nicht noch ins Grab nachgerufen, seine vehemente Kritik am Putin-Regime sei "aus der Zeit gefallen" und "alten Denkschablonen verhaftet geblieben"?
Mit Mut und Verve gegen Lügen
Jetzt liest sich plötzlich wieder vieles anders, gilt als "erneut aktuell". Das Verdutztsein jedoch, das nun die Öffentlichkeit ergreift, wäre zu vermeiden gewesen - eben durch eine Beschäftigung mit Denkern wie Glucksmann, die lebenslang darauf insistierten, dass eben keineswegs alles virtuell sei, sondern es nach wie vor dies gibt, wie zu allen Zeiten und ganz altmodisch: Manipulierende Absender und dazu Empfänger, die sich geradezu lustvoll manipulieren lassen.
Auch Václav Havels "Versuch in der Wahrheit zu leben", geschrieben in den aussichtslos scheinenden Jahren des Prager Kommunistenregimes, hat nichts an Relevanz eingebüßt: Wer heute unter der Wucht von "fake news" zu verzweifeln droht, könnte in diesem Essay nicht nur ethischen Trost finden, sondern auch die Verve, sich den Lügen und Lügnern entgegen zu stellen.
Es wäre deshalb mehr als nur eine schöne Pointe, würden jetzt nach George Orwell auch die Glucksmanns, Havels und Sperbers dieser Welt wieder entdeckt. Sie haben uns viel zu sagen.