Islands Überlebenskünstler
Nirgendwo in Europa gibt es so viele Künstler wie in Island. Ein geflügeltes Wort behauptet, dass von den 330.000 Isländern jeder zweite ein Schriftsteller sei. Die Bürger des Inselstaats sind stolz auf ihre Literaten, Künstler und Musiker.
Am Fuße des Gletschervulkans Langjökull sitzt ein Mann und spaltet Steine. Pall Gudmundsson bearbeitet Ryolith-Steine, die er in der Flanke des Vulkans hinter seinem Anwesen findet. Die grau-braunen Brocken sehen wie etwas dickere Schieferplatten aus. Ein gezielter sanfter Schlag mit Hammer und Meißel und sie fallen in zwei Teile auseinander. Pall ist fasziniert von den Mustern auf den Innenflächen.
"Manchmal sehe ich gleich Bilder, wenn ich so einen Sandwichstein öffne. Dann ist ein Geheimnis im Stein."
Oft zeichnet er die Linien nach, dann entstehen Fische, Vögel oder Gesichter auf dem Stein, ausgefallene Miniaturen. Pall Gudmundsson ist Maler und Bildhauer von Beruf, aber sein Hobby ist die Musik. Und auch die holt er aus dem Ryolith.
"Manchmal sieht man es den Steinen schon von außen an, wie sie klingen."
Die Steinhälften werden zu einer Art Xylophon zusammengesetzt. "Steinharfe" nennt Pall Gudmundsson diese Instrumente, mit denen er durch die großen Konzertsäle Islands tourt. Pall übt in der kleinen Kirche der Heiligen Cäcilie, die zum Hof Husafell gehört, den er von seinen Eltern geerbt hat. Das Anwesen liegt rund 100 Kilometer von Islands Hauptstadt Reykjavik entfernt und ist ein Gesamtkunstwerk. In jedem Schuppen, in jeder Scheune hat Pall ein Museum eingerichtet. Im ehemaligen Stall hängen seine großformatigen Bilder, Porträts von Farmern und Künstlern, auch von Arndis Halla, Sängerin und Komponistin. Sie ist heute vorbeigekommen, um Palls Steinharfen auszuprobieren.
Viele Künstler müssen nebenher auf andere Weise Geld verdienen
Arndis Halla hat ihre Ausbildung zur klassischen Opernsängerin in Berlin absolviert und dort an der komischen Oper gesungen. Später war sie die Hauptstimme der Pferdeshow "Apassionata". Seit einigen Jahren lebt sie wieder in Island, produziert dort ihre eigenen Shows und Songs. Das reicht aber nicht für den Lebensunterhalt im teuren Island, deswegen arbeitet sie wie so viele Künstler auch als Reiseleiterin.
In einer Hotel-Lobby in Reykjavik wartet Arndis auf die nächste Touristengruppe. Mit vielen fährt sie auch zu Pall und seinen Steinharfen, um den Menschen ihr Land durch die Kunst näher zu bringen:
"Die Kunst ist eine Sprache der Gefühle, kann man sagen. Man kriegt öfters sehr viel mehr übertragen durch die Kunst als nur mit Wörtern. Und wenn man das beides mischt, dann öffnet sie wirklich Türen zum viel größeren Verständnis eigentlich."
Nirgendwo in Europa gibt es so viele Künstler unter den Einwohnern wie in Island.
Vielleicht , weil die Gesetze der Sprache, der Musik, der Malerei dabei helfen, die Übermacht der Natur zu bändigen. Denn in Island kann man auch heute noch die Erschaffung der Welt miterleben wie im ersten Kapitel der Genesis - Naturgewalten in Superlativen: der größte Gletscher Europas, die mächtigsten Wasserfälle, die aktivsten Vulkane. Alles ist in Bewegung, alles ist im Werden. Eine der jüngsten Regionen der Welt. Islands Natur ist menschenfeindlich, das Klima zum Davonlaufen: Im Sommer steigen die Temperaturen selten über 15 Grad, der Wind weht fast ohne Pause kalt und heftig. Der Winter ist dunkel und feuchtkalt. Da muss man et-was tun, um die Zeit zu überbrücken, meint Arndis. Das Klima ist für sie aber nicht der einzige Grund für das große kreative Potential .
"Disziplin ist vielleicht nicht unsere Stärke, aber die Kinder sind wirklich vielleicht ein bisschen freier erzogen, man ist auch etwas näher an Natur und da wir eine kleine Insel sind, ein bisschen in middle of nowhere quasi, das ist nicht so gefährlich wie anderswo in Europa oder in der Welt. Dann können die Kinder auch freier rum sein, ich glaube, man wächst ein bisschen freier auf. Und Freiheit ist sehr fördernd für die Kreativität würde ich sagen."
Fast jeder Isländer singt in einem Chor, spielt ein Instrument, malt oder schreibt ein Buch. Und wenn er das alles gerade nicht tut, liest er wenigstens. Auch Arndis ist so aufgewachsen. Heute produziert sie in ihrem eigenen Mini-Tonstudio zu Hause Alben wie "Istonar – Eistöne", Crossover-Musik aus Klassik-Pop und traditioneller isländischer Volksmusik.
Isländische Bücher sind auch in Deutschland erfolgreich
Dass die meisten Profi-Künstler wie sie noch einen oder mehrere Brot-Berufe ausüben müssen, empfindet Arndis als Bereicherung, nicht als Last.
"Fast alle machen mehrere Jobs. Was auch ganz gut ist, weil da hat man auch Abwechslung und Vielfältigkeit. Und ich glaube, dass drückt sich auch ganz gut in unserer Kunst aus."
Das bestätigt auch Jon Kalman Stefansson, der gerne auf ein Bier in die Hotel-Bar kommt, Er ist einer der bekanntesten isländischen Schriftsteller, dessen Bücher wie "Das Herz des Menschen", "Das Knistern in den Sternen" oder zuletzt "Fische haben keine Beine" auch in Deutschland erfolgreich sind. Seit zwölf Jahren kann er vom Schreiben leben, aber zuvor hat er in der Fischindustrie und im Schlachthaus gearbeitet und in vielen anderen Jobs.
"Ich bin froh, dass ich es getan habe. Es hilft , das Leben in einem anderen Licht zu sehen, wenn du verschiedene Jobs und Erfahrungen hast."
Es verändert auch den Blick auf vergangenes Leben. Jon Kalman Stefansson setzt den Verstorbenen, Großeltern, Vätern, Müttern, Onkeln, Tanten, ein Denkmal.
"Uroma steht am Fenster. Sie ist schön wie eine Offenbarung, sie duftet wie ein Berghang voller Heidekraut. Und Urgroßvater tanzt, stampft mit den Fersen auf die Straße, die vor lauter Leidenschaft glühend heiß wird und etwas flüstert, um die Nachbarstraße neugierig zu machen."
"Du lebst und stirbst und wenn du stirbst bis du weg, ausgelöscht. Und 20 Jahre nach deinem Tod erinnert sich kaum jemand an dich, das ist unfair, dachte ich schon als Kind, jemand sollte das ändern. Und das versuche ich."
Im Verhältnis erscheinen in Island jedes Jahr fünfmal mehr Bücher als in Deutsch-land und die Bibliotheken haben eine der höchsten Ausleihquoten der Welt. Einer der berühmtesten Schriftsteller in der Geschichte war ein Mann, der mit zwölf Jahren von Akureyri in Nordisland zur Ausbildung bei den Jesuiten nach Frankreich und Deutschland geschickt wurde: Jon Nonni Svensson, der Autor von "Nonni und Manni", Geschichten von zwei isländischen Jungs, die zwischen 1912 und 1949 erschienen. Geschrieben waren sie auf Deutsch und erschienen im Herder-Verlag. Die Generation unserer Großeltern und teilweise auch unserer Eltern hat sie verschlungen wie die Geschichten von Karl May.
Sprache und Schreiben gehören zum isländischen Gründungsmythos
Svenssons Elternhaus ist heute ein Museum, für Nonni-Experte Haraldur Egilsson ein guter Ort um zu erklären, wie sehr Bildung und Kultur zur nationalen Identität Islands gehören.
"Nur 300 Menschen lebten hier, in 112 Häuser insgesamt und doch gab es eine Bibliothek , die Leute besaßen Bücher und tauschten sie untereinander. Und Nonnis Vater hatte eine gute eigene Bibliothek und gab hier auch zeitweilig den Kindern Unterricht ."
Es gab zu Nonnis Jugendzeit Ende des 19. Jahrhunderts kein staatliches Schulsystem, Eltern unterrichteten ihre Kinder selbst oder die Kirche sorgte dafür. Trotz widrigster Umstände gelang es, möglichst vielen Kindern einen Zugang zu Bildung; Literatur, Musik, Malerei zu verschaffen. Auf den abgelegenen Farmen am Fuße der Vulkangletscher oder im Hochland wurden im Winter die Kinder der Umgegend zusammen geholt und von Lehrern unterrichtet, die für ein paar Wochen aus der Stadt kamen.
Es war eine Frage der nationalen Ehre, denn die Sprache und das Schreiben gehören zum isländischen Gründungsmythos. Die ersten Siedler im 9. Jahrhundert waren wilde Gesellen aus Norwegen, Kriminelle, die man verbannt hatte. Außer ihrem Überlebenswillen in der feindlichen Natur brachten sie Sagen und Geschichten mit, aus denen sich später in isländischer Sprache die Sagas entwickelten, die auch in Nonnis Familie jeden Abend wieder erzählt wurden und die auch heute noch jeder Isländer kennt.
Es war eine Frage der nationalen Ehre, denn die Sprache und das Schreiben gehören zum isländischen Gründungsmythos. Die ersten Siedler im 9. Jahrhundert waren wilde Gesellen aus Norwegen, Kriminelle, die man verbannt hatte. Außer ihrem Überlebenswillen in der feindlichen Natur brachten sie Sagen und Geschichten mit, aus denen sich später in isländischer Sprache die Sagas entwickelten, die auch in Nonnis Familie jeden Abend wieder erzählt wurden und die auch heute noch jeder Isländer kennt.
"Die Saga war Teil des Unterhaltungssystems. Sich abends zusammenzusetzen, vorzulesen, Geschichten zu erzählen, das ist Teil des Pakets, das einen Isländer ausmacht."
Mit wunderbar-seltsamen Wendungen: ein Riese ist "grimmstark", ein Wal heißt "Flutenwidder", Zwerge sind die "Weisen in der Felswand". Die berühmteste, die "Edda", zählt zu den Grundpfeilern der nordisch-germanischen Mythologie.
Isländisch wird nur von 320.000 Menschen gesprochen
Isländer hüten ihre Sprache wie einen kostbaren Schatz. Anglizismen sind verpönt. So heißt Computer auch heute noch "Tölva" – Zahlen-Wahrsagerin. 2013 organisierte der Isländische Rundfunk eine Umfrage, um das schönste Wort zu ermitteln. Gewonnen hat das Wort für Hebamme, auf isländisch: ljósmodir – Lichtmutter.
Eine sehr exklusive Sprache, sie wird nur von rund 320.000 Menschen gesprochen. Schriftsteller wie Jon Kalman Stefansson, die daraus Kunstwerke schaffen, werden in Island verehrt und geliebt. Jedenfalls meistens.
"Wir sind extrem stolz auf unsere Ahnen, auf unser kulturelles Erbe wie die isländischen Sagas. Wir sprechen dauernd davon, wir sind stolz auf unsere Sprache und so, wir stecken viel Geld rein, und es gibt eine Menge Schriftsteller und Künstler, die vom Staat unterstützt werden, aber es gibt immer Stimmen, die dagegen sprechen. Es gab da einen Parlamentarier, der vor ein paar Jahren eine berühmte Rede gehalten hat. Er sagte: Wir haben eine Krise in Island und wir sollten Künstlern kein Geld geben. Warum können die keinen anständigen Job machen wie andere."
Die Auffassung setzte sich aber nicht durch. Der Staat schreibt jedes Jahr hunderte von sogenannten Künstlerlöhnen aus, eine monatliche Zuwendung für den Lebensunterhalt. Bücher sind noch einigermaßen leicht in alle Welt zu transportieren. Wer in vielen Ländern gelesen wird, kann vom Schreiben leben. Anders ist das zum Beispiel mit Skulpturen. Da wird Islands isolierte Lage auf der Weltkarte zum Problem. Der Transport ist in den meisten Fällen zu teuer für Käufer und Aussteller.
Ein Problem, das die Bildhauerin Adelheidur Eysteinsdottir zur Genüge kennt. Überall in Island stehen ihre lebensgroßen Holzfiguren, aber eben fast nur in Island. Und da ist die Kundschaft begrenzt, auch wenn das Interesse riesengroß ist.
"Wir haben jede Menge Galerien und Kunstmuseen. Wir haben also viele Möglichkeiten für Künstler und das ist wirklich gut. Doch die Möglichkeiten mit Ausstellungen ins Ausland zu gehen sind so lala, das ist wirklich teuer, wenn man das mit Künstlern im übrigen Europa vergleicht, da kommst du sehr billig von einem Land zum anderen Aber wenn du von Island mit einer großen Skulpturenausstellung irgendwohin willst, kostet das sehr viel. In diesem Sinne ist es nicht gut, ein Isländer zu sein."
Obwohl Adelheidur international bekannt ist, ist auch sie auf den Künstlerlohn des Staats angewiesen, hält Vorlesungen, unterrichtet. Künstler werden in Island besonders geliebt und geachtet, aber sie müssen auch sehr viel dafür tun. Und das hat nicht nur etwas mit Geld zu tun. Islands Gesellschaft ist zu klein, um alle Aufgaben nur einfach zu besetzen, erklärt der Nonni-Experte Haraldur Egilsson.
"Wenn man in einer kleinen Gesellschaft lebt, muss jeder mehr als nur eine Sache machen. Du kannst nicht nur Farmer sein. Du musst Bauer und Schauspieler sein, Geschichten übersetzen. Du musst viele Dinge tun."