Die Zeit "zwischen den Jahren" – warum ist sie so besonders?
Zeit ist ein Konstrukt und eigentlich nicht mehr als die Bewegung der Zeiger auf dem Ziffernblatt, meint der Zeitforscher Karlheinz Geißler. Doch die Zeit zwischen den Jahren empfinden viele als ganz besonders. Warum das so ist, darüber sprechen wir u.a. in dieser Sendung.
Es ist eine besondere Zeit, die Zeit "zwischen den Jahren": Der Weihnachtstrubel ist überstanden, viele Menschen haben frei und endlich Zeit, Dinge zu tun, zu denen sie in der Hektik des Jahres nicht gekommen sind. Und viele nutzen diese Muße-Tage auch dazu, Bilanz zu ziehen, was das alte Jahr gebracht hat – und vorauszuschauen auf das, was im neuen Jahr ansteht.
"In den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr erkennen wir, wie zu keiner anderen Zeit des Jahres, dass die Zeit vergeht", sagt der Zeitforscher Karlheinz Geißler. "Zugleich spüren und erkennen wir, dass es nicht die Zeit ist, die da vergeht, sondern dass man selbst vergeht."
Der Wirtschaftspädagoge und Buchautor beschäftigt seit drei Jahrzehnten mit der Zeit und unserem Umgang damit. Seine Beobachtung: Die meisten Menschen gehen mit falschen Erwartungen an ihre Zeit heran: "Zeit ist kein Gegenstand – Zeit ist eine Illusion. Was man Zeit nennt, ist eine Bewegung von Zeigern auf einem Ziffernblatt. Es ist wichtig, dass wir die Zeit qualitativ definieren. Dass wir ihr Tätigkeiten geben. Deshalb ist die Formel 'Ich habe keine Zeit' nur eine Entschuldigung oder Ausrede, um zu sagen, 'Ich habe keine Lust' oder 'Ich möchte etwas anderes machen'."
"Ich hinke meiner Zeit voraus"
Karlheinz Geißler, der auch Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik ist, ist durch eine persönliche Erfahrung zum Thema Zeit gekommen: Er erkrankte mit fünf Jahren an Kinderlähmung. "Ich habe früh auf der Tribüne Platz nehmen und den anderen beim Beschleunigen zuschauen müssen." Dabei hat er aus der Not eine Tugend gemacht. "Ich habe mein Hirn beschleunigt" oder wie er auch gern sagt: "Ich hinke meiner Zeit voraus."
Der Leiter des Instituts für Zeitberatung "timesandmore" trägt keine Armbanduhr: "Ich lebe die Zeit, wie sie auf mich zukommt." Es gebe doch überall Uhren: An Küchengeräten, auf Bahnhöfen, in Geschäften, am PC. "Seit die mechanische Uhr erfunden wurde, ist der Mensch dazu erzogen worden, seine innere Uhr abzuschalten." Wir lebten immer mehr gegen unsere Natur: "Wir arbeiten nicht weniger, sondern schneller. Wir haben unseren Alltag verdichtet, den Zeitdruck erhöht."
Die Folge: "Unsere Gesellschaft belohnt diejenigen, die gegen ihre Zeitnatur leben. Dazu zählen Überstunden, die Abschaffung von Pausen, die Verkürzung des Schlafs, die Überbeanspruchung der Aufmerksamkeit. Das geht häufig nur mit einer Steigerung des Kaffee- und Medikamentenkonsums. Dies jedoch bleibt nicht ohne Folgen, zu denen dann auch jene Komplikation gehört, für die wir heute den Verlegenheitsbegriff 'Burnout' bereithalten."
"Zeit kann man nur leben"
Der 70-Jährige liebt die Momente der Langeweile und der Muße, das Gefühl zu haben, Zeit zu verschwenden und Zeit zu verschenken. Und er plädiert für ein Leben jenseits des Beschleunigungszwangs.
Seine Überzeugung: "Zeit kann man nicht sparen, nicht managen, nicht verlieren, und erst recht nicht totschlagen. Man kann mit der Zeit überhaupt nichts machen. Außer sie leben."
Heute nimmt sich Karlheinz Geißler zwei Stunden Zeit für Deutschlandradio Kultur!
Er ist von 9.05 bis 11 Uhr zu Gast bei Matthias Hanselmann. Unsere Hörerinnen und Hörer können sich an dem Gespräch beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de.
Informationen im Internet:
Über Karlheinz Geißler und timesandmore
Über Karlheinz Geißler und timesandmore
Literaturhinweis:
Karlheinz Geißler: Enthetzt Euch! Weniger Tempo – mehr Zeit
Hirzel Verlag, 2012
248 Seiten, 19,80 Euro